KINOBLOG

Über Film und dieses & jenes

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Sandra Hüller im Interview: „Ich versuche, Kritiken nicht zu lesen“

Sandra Hüller in "Anatomie eines Falls"

Sandra Hüller in einer Szene des Films „Anatomie eines Falls“.                                                                 Foto: LesFilmsPelleas/LesFilmsDePierre

 

Sandra Hüller war für einen Oscar und hat – unter anderem – einen César für „Anatomie eines Falls“ gewonnen. Grund genug, ein Interview zu posten, das im Januar 2023 entstand, als Hüller Ehrengast des Filmfestivals Max Ophüls-Preis war.

Schauen Sie sich Filme, in denen Sie mitspielen, später nochmal an?

HÜLLER Manchmal, wenn ein Film im Fernsehen läuft und ich hängenbleibe, schaue ich noch ein bisschen rein – aber gezielt würde ich das nicht tun.

Haben Filmkritiken Auswirkung auf Ihre Arbeit?

HÜLLER Ich versuche, Kritiken nicht zu lesen, es sei denn, jemand rät mir, das bei einem bestimmten Text unbedingt zu tun. Generell interessiert mich eine Kritik mehr, wenn ich weiß, dass meine Arbeit danebengegangen ist – einfach um zu erfahren, was ich verpasst habe, was ich am Drehbuch vielleicht falsch verstanden habe oder an der Regie oder an der Figur. Bei einer Arbeit, bei der ich das Gefühl habe, dass ich das transportiert habe, was ich transportieren wollte, brauche ich dafür keine Bestätigung – aber ich freue mich natürlich, wenn es den Leuten gefällt und gut darüber geschrieben wird.

„Toni Erdmann“ wurde 2016 zum Phänomen. Der Film lief in Cannes, gewann unter anderem den Europäischen Filmpreis, wurde für den Oscar nominiert und auch ein Hit in den deutschen Kinos. Konnte man so etwas ahnen?

HÜLLER Nein, beim Dreh war uns das überhaupt nicht klar. Wir wussten zwar, dass wir eine ungewöhnliche Arbeit machen, und ich kannte die vorigen Filme von Maren Ade, die in kein gängiges Schema passen. Aber was der Film auslösen würde – ehrlicherweise auch bei mir – war uns nicht klar. Erst als ich den Film gesehen habe, wurde mir auch bewusst, welche Reise meine Figur gemacht hat.

Interview über Loriot

Hat sich dieser unerwartete Erfolg irgendwann surreal angefühlt?

HÜLLER Das nun nicht, es ist einfach schön, wenn sich harte Arbeit lohnt. Und durch den Film waren wir viel unterwegs, haben viel erlebt und konnten viele Menschen treffen. Das war ein großes Geschenk für mich – und auch ein großer Rausch. Ich habe etwas Zeit gebraucht, wieder in der anderen Realität anzukommen – es gibt ja mehrere.

Ihre Karriere ist sehr reichhaltig, Sie drehen nationale und internationale Kinofilme, spielen Theater. Wie sehr kann man das planen und eine Karriere steuern?

HÜLLER Ich bin eine unglaublich schlechte Strategin, das merke ich auch zuhause bei Strategiespielen, das funktioniert nicht. Ich kann mir nur vornehmen, mich selbst nicht anzulügen, nicht falschen Anreizen hinterherzurennen und nur das zu tun, was mich interessiert. Oder ich probiere etwas aus, was ich noch nicht gemacht habe, auch wenn es mich nicht unbedingt berührt – einfach damit der Körper und das Gehirn in Bewegung bleiben.

Erklärt das auch, dass Sie neben Hauptrollen gerne auch Nebenrollen spielen?

HÜLLER Es gibt Phasen, da spiele ich Hauptrollen, da brauche ich das – auch finanziell, ehrlich gesagt. Und dann gibt es Zeiten, wo ich mehr zuhause sein möchte, weil ich das Gefühl habe, gefehlt zu haben, und mehr präsent sein möchte. Dann sind das kleinere oder kürzere Sachen, oder Arbeiten näher am Wohnort – das ist sehr unterschiedlich.

Kritik zu „Die Theorie von allem“

Im Film „Alle reden übers Wetter“ haben Sie überraschend einen winzigen Auftritt – wie kam es dazu?

HÜLLER Die Regisseurin Annika Pinske kenne ich schon seit zwölf, 13 Jahren, wir waren Nachbarinnen in Berlin. Da war klar, dass ich bei ihrem Debüt mitspiele, auch wenn sie mich nicht groß besetzt. Das war eine abgemachte Sache, ein Drehtag, der Spaß gemacht hat.

Ist es auch erleichternd, dass man den Film nicht tragen muss?

HÜLLER Das schon – die anderen haben wahnsinnig viel zu tun, und man selbst schaut mal kurz vorbei. Andererseits genieße ich es schon sehr, wenn ich über einen längeren Zeitraum die ganzen Bewegungen der Geschichte mitspüren und mitgestalten darf. Das hat alles Vor- und Nachteile.

Nach „Toni Erdmann“ haben Sie „Fack ju Göthe 3“ gedreht – vom Arthouse-Kino zu einem Mainstream-Jux. Eine ziemliche Überraschung.

HÜLLER Für mich war das ein wichtiger Ausflug in ein anderes Genre, weil ich wissen wollte, wie das funktioniert. Man kann über solche Filme ja alles Mögliche denken – aber wenn man noch nie da war, weiß man nicht, ob man das kann, ob es Spaß macht und ob es vielleicht sogar ein Karriereweg wäre. Das war kurz nach „Toni Erdmann“, wo ich mir nicht sicher war, wie es jetzt weiter geht. Und wenn ich das nicht weiß, dann mache ich eben verschiedene Dinge, bis ich es wieder weiß. Das ist bei mir ein ganz normaler Weg.

Und wie ist Ihr Fazit?

HÜLLER Man soll niemals nie sagen, aber ich glaube nicht, dass mein Daueraufenthalt in diesem Genre sein wird. Ich habe gemerkt, dass ich das wirklich nicht gut kann. Ich war sehr befangen. Solche Filme schaue ich gerne, aber ich kann es leider nicht gut.

Was schauen Sie sich im Kino an – vor allem Arthouse-Filme?

HÜLLER Nein, ich schaue das, was in Kritiken interessant beschrieben wird. Ich war in letzter Zeit sehr oft im Kino, auch weil ich will, dass es die Kinos weiter gibt. Es wird viel über deren Probleme gesprochen und geschrieben, es gibt eine Kampagne mit dem passenden Titel „Das Kino braucht nicht Dich – Du brauchst das Kino“. Wir brauchen solche Orte, an denen wir in Ruhe Filme sehen und über sie nachdenken können – oder zumindest auch einmal entfliehen für eine Weile. Im Kino ist es anders als vor dem Fernseher auf der Couch, wo man dran denkt, dass man gleich noch die Wäsche zusammenlegen muss. In diesem dunklen Ort Kino wird man in die Geschichte hineingezogen.

Sie lesen auch viele Hörbücher ein – ist das auch eine Chance, mehr Kontrolle zu haben als Teil eines Films oder einer Inszenierung mit vielen anderen Menschen zusammen?

HÜLLER Darum geht es mir weniger, ich mag vor allem den Rausch, der bei dieser Arbeit entsteht. Das lange Lesen macht etwas ganz Besonderes mit dem Gehirn, ich mag es sehr, in die Geschichte tief einzutauchen. Einem Text so absolut zu dienen, macht großen Spaß. Und ich bin eine schnelle Hörbuch-Einleserin.

Interview mit Schriftsteller Thomas Hettche 

Sie nehmen auch Musik auf  – wie kam es dazu?

HÜLLER Musik war bei mir immer da. Ich hatte einen Kassettenrecorder, mit dem ich nachts Musik vom Radio aufgenommen habe. Ich habe gewartet und gehofft, dass der Moderator nicht reinquatscht, habe Mixtapes zusammengestellt – das haben wir ja alle getan. Als Musik noch nicht so frei verfügbar war wie heute, habe ich viel Zeit in großen Drogerieketten mit Musikabteilungen verbracht und neue CDs durchgehört, die in Zeitschriften empfohlen wurden. Ich finde Musik als Ausdrucksform wunderbar, ich lerne auch gerade Klavierspielen, um mehr über die Entstehung von Musik zu lernen – damit das Ganze nicht nur intuitiv bleibt.

Wie haben Sie die Corona-Zeit erlebt und überstanden?

HÜLLER Erstmal hatte ich das Glück, dass ich mich finanziell über Wasser halten konnte. Ich habe es genossen, im Lockdown mit der Familie zusammen zu sein. Zuhause gab es klare Strukturen, Stundenpläne, die den Tag gliedern, damit man nicht abstürzt in ein Nichtstun, in eine Bedeutungslosigkeit. Aber die Erschöpfung, die das alles mit sich gebracht hat, die habe ich erst gespürt, als alles wieder halbwegs normal lief. Da habe ich erst gemerkt, wie viel einem das abverlangt hat, dem Kind gegenüber den Kopf oben zu halten und Mut zu machen, optimistisch zu bleiben. Es gab viele Schulausfälle, es gab viel Ungewissheit und viele Ängste, denen man begegnen musste. Es tut dann gut, einfach Vertrauen zu haben, dass es wieder besser wird – und das hat ganz gut funktioniert.

Interview mit Schriftsteller Thomas Hettche: „Alles, was uns sicher schien, ist bedroht“

Thomas Hettche Sinkende Sterne

Schriftsteller Thomas Hettche. Foto: Joachim Gern

 

Ein Mann reist nach dem Tod der Eltern an einen Ort seiner Kindheit – ein Haus in den Schweizer Bergen. Doch der Ort ist ein anderer geworden: Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen riesigen See verwandelt, das Wallis wird zu einer archaischen Gegend mit mittelalterlichen Machtstrukturen. Mittendrin muss sich der Erzähler zurechtfinden und auch sein eigenes Leben als Schriftsteller bedenken. „Sinkende Sterne“ des mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers Thomas Hettche (58, „Pfaueninsel“, „Herzfaden“) ist ein vielschichtiger, sprachlich virtuoser Roman über die Moderne und die Vergangenheit, über Gesellschaft und Kunst.

„Die Dinge zerfallen. Die Mitte kann nicht halten“, schreibt Ihr Erzähler im Roman „Sinkende Sterne“, auch von „Ruinen einer Welt, an deren Zerstörung meine Generation Anteil hat“. Ganz pauschal gefragt – macht Ihnen die Welt heute mehr Angst als vor zehn oder 20, 30 Jahren?​

HETTCHE Allerdings! Geht es Ihnen nicht so? Eine tiefe Verunsicherung hat vor allem Europa erfasst. Alles, was uns sicher schien, ist bedroht. Die Welt der nahen Zukunft wird eine völlig andere sein als die, aus der wir kommen.​

„Jeder gelungene Text ist tröstlich, denn er fällt aus der unerbittlichen Zeit“, heißt es im Roman, aber auch „Literatur stillt unsere Sehnsucht nach einer Wahrheit, die es nicht gibt“. Das klingt trotz Trost resignierend…​

HETTCHE Nein, überhaupt nicht! Ich finde es wahnsinnig rührend, dass Menschen sich nach Dingen sehnen, die es gar nicht gibt. Das ist es, was uns auszeichnet. Das ist es, was uns antreibt, die Welt besser zu machen, gegen alle Widerstände und wohl auch gegen jede Vernunft.​

Ihre Romanfigur, ein Schriftsteller und Dozent, verliert seine Stelle an einer Hochschule. Man wirft ihm sexistischen Sprachgebrauch vor und eine „Fixierung auf Texte eines westlichen Kanons“ – ist das im Roman eine Übertreibung oder ein realistisches Abbild der aktuellen Stimmung im Hochschul-, vielleicht auch im Kulturbetrieb? Ihre Figur schreibt gar von „moralischem Terror“.​

HETTCHE Ich glaube nicht, dass mein Roman übertreibt. Die Veränderungen, die wir erleben, besorgen mich zutiefst. Die Universitäten opfern bereitwillig die Freiheit des Denkens, die Theater die Fantasie, die Verlage das subversive Potential der Literatur – und die meist jungen Menschen, die all das voller Begeisterung ins Werk setzen, tun das immer mit dem Anspruch, moralisch korrekt zu sein.​

Interview mit Steffen Greiner zu Verschwörungstheorien

Wie schwierig ist es, sich in dieser Diskussion als Autor oder Autorin wirklich differenziert zu positionieren – ohne dass man von der einen Seite reflexartig als „alter weißer Mann“ diffamiert wird oder vereinnahmt wird von jenen, die schon beim Gendersternchen Schaum vor dem Mund bekommen? Die Diskussion scheint hysterisch, oder?​

HETTCHE  Hysterisch sind nicht primär die Inhalte, sondern die Algorithmen der sozialen Medien selbst. Kein Zufall, dass ich mich aus dem, was bei uns „Debatte“ heißt, inzwischen völlig heraushalte. Dennoch hat mich die Frage interessiert, wie ein Roman wohl aussehen könnte, der anders als die meisten Texte, die man heute so nennt, keine Thesen verteidigen würde, sondern tastend und suchend ein Abbild unserer Gegenwart und vielleicht ein Einspruch gegen ihre geläufigsten Irrtümer wäre.​

Interview über die Zukunft der Figur James Bond

Die Figur im Roman heißt wie Sie, ist Schriftsteller wie Sie. Das könnte auf die Fährte des „autobiografischen Schreibens“ locken – aber so vergleichsweise einfach ist es nicht, oder? Wie weit entfernt ist die Figur Thomas Hettche von Ihnen?​

HETTCHE  Ich glaube Autoren nicht, die behaupten, authentisch von sich selbst zu sprechen. Jeder Satz in einem Buch ist Erfindung. Insofern ist die Figur Thomas Hettche im Roman von mir so weit entfernt wie ich selbst. Oder sind Sie sich immer nah?​

Thomas Hettche: Sinkende Sterne. Kiepenheuer & Witsch. 214 Seiten, 25 Euro.

„Die Theorie von allem“ von Timm Kröger – sechs Mal für den Deutschen Filmpreis nominiert

 

Wie man sich nach dem Besuch dieses Films fühlt, wird sich wohl daran entscheiden, ob man Rätsel vor allem dann schätzt, wenn sie aufgedröselt und gelöst werden. Oder ob man gerne mangels Erklärung weiterbrütet, ohne Garantie, des Rätsels Lösung schließlich zu ergründen. „Die Theorie von allem“ kann einen beglückt zurücklassen oder auch etwa frustriert. Oder beides zugleich. In jedem Fall ist der Film von Timm Kröger (Regie und Ko-Drehbuch mit Roderick Warich), der im Wettbewerb von Venedig seine Premiere feierte, ein ambitionierter Brocken. Mit Wendungen, Kurven und Fährten, die in die Irre führen können – oder doch mitten ins Herz der Erkenntnis?​

In welcher Welt leben wir?​

Mit einem farbigen Prolog beginnt dieser eigenwillige, ambitionierte Film, dessen Bilder danach schwarzweiß sind, abgesehen von einem kurzen Farbblitz in einer zentralen Szene. 1974 sitzt ein bärtiger Physiker in einer TV-Show und wird von einem betont launigen Moderator befragt (und bloßgestellt). Denn des Physikers Buch über die Frage, in welcher von vielen möglichen parallelen Welten wir gerade leben, ist für ihn und das Publikum ein Quell des Amüsements, kein Denkanstoß. Der kollektiv Belächelte nimmt das kaum zur Kenntnis, er schaut in die Kamera und richtet sich an eine Karin, „egal wo Du bist“.​

 

 

Zwölf Jahre zurück springt der Film, nun schwarzweiß: Der Physiker von Beginn, Johannes Leinert (gespielt von Jan Bülow), ist bartlos und rattert in einem Zug den Schweizer Bergen entgegen – begleitet von seinem Doktorvater Julius Strathen (Hanns Zischler). In einem Hotel ist ein Physikerkongress geplant, die akademische Berggesellschaft wartet auf einen Wissenschaftler, dessen jüngste Theorie nichts weniger erwarten lässt als die Erklärung von dem, was unsere Welt (oder Welten?) im Innersten zusammenhält. Nur: Der Wissenschaftler lässt auf sich warten. So vertreibt man sich die Zeit bei ein wenig Ski, viel mondänem Après Ski und manchen akademischen Eifersüchteleien.​

Warum weiß Karin das alles?​

Derweil arbeitet Leinert weiter in seiner Bruchbude eines Hotelzimmers an seiner eigenen, von seitenweise Formeln anscheinend gestützten Theorie, dass wir viele Leben parallel leben, ohne es zu wissen.  (Nichts wissen will davon allerdings der Doktorvater.) Trost für den ignorierten Jung-Physiker ist die junge Jazzpianistin Karin Hönig (Olivia Ross), die von Johannes Dinge weiß, die sie eigentlich nicht wissen kann. Kennt sie ihn aus einem früheren Leben? Oder aus einem parallel ablaufenden? Und was hat es mit einem toten Physiker auf sich, den man bestialisch zugerichtet im Schnee findet? Und welche Rolle spielt ein mysteriöser Stollen tief im Berg?​

Kritik zu „Wild wie das Meer“

Fragen über Fragen, die der Film kunstvoll auftürmt. Die breiten, fast brutal kontrastreichen Schwarzweißbilder von Kameramann Roland Stuprich sind kolossal – die Schweizer Berge wirken wie eine andere Welt, die Innenräume atmen bedrohliche Film-Noir-Atmosphäre. Eine Fahrstuhlfahrt wird hier zu einem kontrollierten Absturz in die Hölle.​

Die Musik – ein Reiz oder ein Problem des Films?​

In dieser Welt stolpert der Jung-Physiker umher, kann sich keinen rechten Reim machen auf das, was vor sich geht. Filmisch untermalt wird diese Sinnsuche von einer Musik, die in diesem Film der Eigenwilligkeiten besonders eigenwillig ist: Diego Ramos Rodríguez hat eine opulente symphonische Musik geschrieben, mit vielen Verweisen auf Alfred Hitchcocks Hauskomponisten Bernard Herrmann, auf den französischen Filmkomponisten Georges Delerue, auf US-Musiker Leonard Rosenman. „Pathetisch und lärmend und naiv, aber auch komplex und filigran und widerspenstig“ nennt der Regisseur diese Klänge, die in vielen Kritiken zum Film sehr gelobt werden – aber sie bergen ein Risiko: Oft scheinen sie mit ihrem Pomp und Pathos die Bilder zu konterkarieren oder zu ironisieren; ob nun absichtlicher Verfremdungseffekt oder nicht, betonen sie doch nicht das Gesehene, sondern schaffen eine Distanz, als Zuschauerin oder Zuschauer wird man oft auf Abstand gehalten.​

Dominik Graf als Gast-Rauner​

Diese Distanz hebt sich im letzten Drittel allerdings auf, wenn der Film nach einer dramatischen Begegnung im Stollen auf das weitere Leben von Johannes blickt: mittels einer kunstvollen Montage, mit galligem cineastischem Humor (wenn sich Johannes in einem Kino eine italienische B-Filmversion seiner eigenen Geschichte anschaut) – und mit einer wunderbaren raunenden Erzählerstimme: Regisseur Dominik Graf.​

Interview mit Dominik Graf

Wenn es nun parallele Leben geben sollte, dann könnte es doch auch parallele Versionen dieses Films geben für möglicherweise simplere Geschmäcker? Vielleicht eine Version von „Die Theorie von allem“, die im etwas zu langen Mittelteil konventioneller an ihr Thema herangeht? Formal vielleicht weniger Stilwillen besitzt, dabei die Spannungsmöglichkeiten seiner Geschichte aber stärker herauskitzelt? Wie dem auch sei – vor allem sollte man dankbar dafür sein, was hier filmisch gewagt wird. Eine lohnenswerte Kino-Erfahrung ist dieser Film, der sich einiges traut, in jedem Fall.​

„Piranha – Der Fluss des Todes“: Für Trash-Liebhaber mit Geduld

Das nennt man wohl „truth in advertising“: Der Text auf der DVD-Hülle verkündet den gesamten Inhalt des Films, Todesfälle und Ergebnis des Finales inklusive, und nennt Darsteller William Smith den „einzig namhaften Schauspieler“ im Film. Dafür gibt es Sympathiepunkte. Der Film selbst hat es da etwas schwerer. „Piranha“ist eine C-Film-Billiggurke von 1972 um ein US-Trio, das sich in Venezuela umschaut, um Fotos zu machen und Diamantenminen zu besuchen. Im Dschungel begegnen sie einem Jäger namens Cariba (Smith) und ahnen deutlich später als der Zuschauer, dass diese Bekanntschaft seine Tücken hat.

„Flash Gordon“, die galaktische Kitschtorte

Der Film (prägnantester Satz: „Bier ist doch das beste Gesöff“) schindet bisweilen spürbar Zeit, um auf abendfüllende Länge zu kommen. Da wird eine simple Fahrt durch die Stadt zum Staatsakt. Und bei jedem Blick in Richtung Dschungel hagelt es „stock footage“-Tieraufahmen. Zugleich hat der Film dann doch seine Momente: Ein Motorradrennen durch die Natur ist überraschend rasant, mit schrägen Kameraperspektiven. Aber insgesamt muss man schon Geduld oder tiefe Trash-Liebe mitbringen. Als Extra gibt es die sieben Minuten längere US-Fassung in bescheidenster Qualität – dort ist das Finale (ohne Piranhas übrigens) nicht so abrupt und spürbar geschnitten wie in der deutschen Version.

Erschienen auf DVD bei Inter-Pathé (83/91 Min).

Gemütliche Routine: „Der goldene Schlüssel“ auf DVD

 

In den 1960ern war Frederick Stafford (1928-1979) so etwas wie ein Euro-Actionstar – durch flotte „OSS“-Agentenfilme im Bond-Windschatten und andere Abenteuerstreifen, gerne in europäischer Ko-Produktion. Karrierehöhepunkt war sein Auftritt in Hitchcocks 1969er „Topas“, für den Regisseur eher ein Tiefpunkt. „Der goldene Schlüssel“ von 1967, jetzt erstmals auf DVD, ist grundsolide B-Ware aus Frankreich. Stafford und ein Knastkollege fliehen aus dem Gefängnis – doch bei der Flucht werden sie von alten Bekannten des Freundes verschleppt: Nazis, mit denen der französische Freund während des Krieges kollaborierte und die wissen, dass er als Pilot einst Millionen gefälschter Dollars in Marokko versteckt hat. An denen haben sie ein gesteigertes Interesse – und Staffords Figur ist nicht ganz das, was sie vorgibt.

Schöner Schund: Ein Film über die legendäre Firma „Cannon“

Flott geht es los, schon nach zwei Minuten wird eine Knastschlägerei geboten. Peter van Eyck gibt einen charmant-öligen Nazi, und Kameramann Raymond Pierre Lemoigne (einige de-Funès-Filme) kleidet ebenso die tristen Knastkulissen wie das sonnige Marokko in gute Bilder. Aber die erste Hälfte mit Gefängnis, Flucht und Intrigen ist stärker als der finale Part in Nordafrika. Insgesamt schnurrt der Film aber angenehm flott durch. Und an einem guten Bild im Scope-Format kann man sich auch erfreuen.

Auf DVD bei Pidax erschienen.

„The Last Vermeer“ von Dan Friedkin

 

Ein filmisches Corona-Opfer: Nach einigen Festivalterminen sollte „The Last Vermeer“ in den Kinos starten, doch die Pandemie kam dazwischen. In den USA lief der Film nur kurz, im Rest der Welt verschwand er ohne viel Echo oder Werbung in den Streaming-Kanälen – schade um diesen gut gespielten Kunst-Thriller. Gerade kann man ihn auch bei Netflix sehen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht der holländische Ex-Widerstandskämpfer Piller (Claes Bang) den Kunsthandel in seiner Heimat während der Besatzung; er vermutet, dass eine Galerie Teil des deutschen Spionagerings war und stößt auf Han van Meegeren (Guy Pearce). Der soll der NS-Größe Hermann Göring während des Krieges ein erst vor kurzem entdecktes Gemälde von Jan Vermeer (1632-1675) namens „Christus und die Ehebrecherin“ verkauft haben – für eine ungeheure Summe. Van Meegeren gibt das ohne weiteres zu, was sein Todesurteil bedeuten kann, hat er somit kollaboriert und sich an einem holländischen Kulturschatz bereichert. Der Fall scheint klar, bis Van Meegeren eröffnet, dass er diesen Vermeer selbst gemalt und damit Göring kunstvoll genarrt hat.

Fälscher? Antifaschist? Beides?

Falls das stimmen sollte, – ist er dann kein Kollaborateur, sondern ein trickreicher Fälscher mit dem Potenzial eines Volkshelden, da er Göring und einige pompöse Kunst-Experten an der Nase herumgeführt hat? Und kann man Van Meegerens Behauptung glauben, das Ganze habe er nicht aus Geldgier, sondern aus einem tiefen Antifaschismus heraus getan? Es kommt zum Prozess. Der Film basiert auf realen Ereignissen, auch wenn er sich manche Freiheiten nimmt – den hochbegabten Fälscher und Ex-Maler Van Meegeren jedenfalls gab es tatsächlich, auch der Verkauf eines Pseudo-Vermeers an Göring und der Prozess haben stattgefunden. Regisseur Dan Friedkin erzählt diese wendungsreiche Geschichte gediegen, spannend, manchmal klassisch-altmodisch – etwa bei den Prozess-Szenen mit flammenden Reden und kernigen „Einspruch!“-Rufen. Dabei ist auch der Kontrast der Hauptdarsteller reizvoll: Claes Bang („The Square“) spielt den Ermittler zurückgenommen als angeschlagenen Mann, dessen Ehe bröckelt, Guy Pearce gibt den Maler mit großer Geste, die der reale Van Meegeren wohl auch schätzte.

„Bergman Island“ mit Vicky Krieps

„The Last Vermeer“ mag seine kleinen Schwächen haben: Die tragische Ehegeschichte des Ermittlers ist zu sehr nebenbei erzählt, um wirkliche Resonanz zu haben; zudem hat die famose Luxemburger Schauspielerin Vicky Krieps als Pillers Assistentin sträflich wenig zu tun. Sehenswert ist der Film dennoch, wobei er auch über den Wert von Kunst, gesellschaftlich wie kommerziell, nachdenkt und dabei dankenswerterweise weniger pastoral klingt als etwa George Clooneys Kunst-Kriegs-Film „Monuments Men“.

Schrecklich: „Das Nonnenrennen“ von Laurent Tirard

Das Nonnenrennen Valérie Bonneton

Davon träumt die Mutter Oberin Véronique (Valérie Bonneton): ein römisches Selfie mit dem Papst (Serge Peyrat).     Foto: Prokino

Oje. Wäre dieser Film ein Rennrad – das handlungstreibende Fortbewegungsmittel – dann hätte es sehr wenig Luft in den Reifen und würde auf den Felgen dahinknirschen. Da nutzt auch hektisches Treten in die Pedale wenig, man kommt nicht vom Fleck und ermüdet zügig. Die französische Komödie „Das Nonnenrennen“ ist merkwürdig. Sie bemüht sich um Tempo, die Gag-Dichte ist hoch – und doch zündet wenig, und der 90-Minüter fühlt sich an wie ein Zweieinhalbstunden-Film.​

Die Wiesen mögen sattgrün sein, die Vögel mögen singen, doch im französischen Jura ist die Welt nicht mehr in Ordnung: Einer Handvoll Nonnen eines Benediktinerinnen-Klosters fällt auf, wie eng und voll es ist im lokalen und maroden Altersheim. Sie wollen Zuschüsse beantragen, aber ihr Schreiben landet in einer Amtsstube bloß auf einem meterhohen Papierstapel. Doch ein Radrennen im Ort verheißt ein Preisgeld von 25 000 Euro. Da wollen die Nonnen mitstrampeln, auch wenn nicht einmal jede von ihnen bisher auf einem Radsattel gesessen hat.​

Immer auf der Suche nach dem schnellen Lacher​

Eine sympathisch angeschrägte Idee, aber der Film macht wenig draus. Regisseur und Ko-Drehbuchautor Laurent Tirard („Asterix und Obelix – im Auftrag ihrer Majestät“) interessiert sich vor allem für den kurzfristigen Gag, den schnellen Lacher, für seine Figuren spürbar weniger. Den Nonnen gibt er per Rückblenden zwar Mini-Biografien mit, aber das bleibt doch herzlich flach; eine von ihnen etwa ist eine ehemalige Drogendealerin, die bei einer Schießerei von einer Bibel gerettet wurde – eine Kugel blieb im Buch stecken. Eine andere hat ein Schweigegelübde abgelegt und für jede Situation ein Schild parat – etwa eines mit „Aaaargh!“ als sie beim Radeln einen Abhang herabstürzt. Das ist zwei-, höchstens dreimal amüsant, doch der Film melkt die Idee gnadenlos zu Tode. Witziger, relativ gesehen, sind da Einfälle wie die Rad-Kunststücke einer konkurrierenden Nonnen-Truppe, untermalt von Johann Strauss’ Walzerklängen.​

Vorbild Louis de Funès?​

Man fühlt sich ein wenig an die Komödien-Atmosphäre der 1960er und 1970er mit Louis de Funès erinnert – eine Szene mit einem gebrochenen Bein, im 90-Grad-Winkel abgeknickt – wirkt wie ein Zitat aus dessen „Brust oder Keule“. Aber hatten solche Filme Tempo, ist das „Nonnenrennen“ bloß hektisch und kurzatmig. Gerne lässt Tirard seine Figuren hinfallen, umfallen, ausrutschen oder kreischen, seine Schauspielerinnen grimassieren, die Augen aufreißen, den Mund staunend offenstehen lassen – das wird einem schnell zu viel.​

„OSS 117 – Liebesgrüße aus Afrika“ mit Jean Dujardin

Ein Konflikt mit einer anderen Ordensschwester endet seifig-simpel-sentimental, und irgendwie hat dieser Film nichts mit der realen Welt zu tun: Das Kloster ist bloß ein schrulliger Hort der Verschrobenheit, und das marode Altersheim, immerhin Auslöser des Ganzen, interessiert den Film kaum; abgesehen vom zweifelhaften Pseudo-Gag, dass dort eine Frau mit ihrem Rollator zu langsam am Fernseher des Heims vorbeischleicht und so ihre Mitbewohner enerviert. Für einen schnellen Lacher tut dieser Film eben alles.​

„Wild wie das Meer“ von Héloise Pelloquet

Wild wie das Meer

Félix Lefebvre als Maxence, Cécile de France als Chiara.    Foto:  Why not productions

 

Am Anfang erwarten Chiara und Antoine nur wenig von ihrem neuen Lehrling: Bei der Überfahrt zur kleinen Atlantikinsel, auf der die Eheleute als Fischer arbeiten, wird Maxence erstmal seekrank; seine zarten Hände scheinen eher zu der mitgebrachten Oboe zu passen denn zu Netzen, Reusen und salzigen Meeresfrüchten. Doch der junge Bürgersohn packt nach einer Zeit der Eingewöhnung überraschend gut mit an, gewinnt den Respekt Antoines; und zwischen der Mittvierzigerin Chiara und dem halb so alten Maxence knistert es merklich – filmisch symbolisch begleitet von dem ein oder anderen Atlantiksturm.​

„Das ist nie passiert!“​

Der französische Film „Wild wie das Meer“ erzählt von einer Ehe, von einer Affäre, auch von den Strukturen einer Dorfgemeinschaft, von deren Solidarität, aber auch von deren Enge und Doppelmoral. Chiara und Antoine sind seit 19 Jahren verheiratet, arbeiten täglich zusammen, auf dem Boot sitzt jeder Handgriff, sie erscheinen als liebevolle Einheit, bei der Arbeit wie zuhause. Doch hat sich da auch eine gewisse Routine eingeschlichen? Jedenfalls weckt Maxence nach einigen Monaten der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens im Häuschen an der Küste enormes Begehren bei Chiara – nach einer feuchtfröhlichen Hochzeitsparty landen sie für eine halbe Minute im Lotterbett, bis Chiara abbricht und die Losung ausgibt: „Das ist nie passiert!“ Doch als ihr politisch engagierter Mann für zwei Wochen nach London muss, zu Verhandlungen über Fischfang im Rahmen des Brexit, ist die Affäre nicht mehr aufzuhalten.​

Filmwarnung: „Das  Nonnenrennen“

Der Film ist, nach mehreren Kurzfilmen, das Langfilmdebüt von Regisseurin Héloise Pelloquet; ihr Drehbuch, das sie mit Ko-Autor Rémi Brachet schrieb, lässt einiges vage, deutet lieber an, als alles zu Ende zu erklären. Da klingt einiges am Rande an: die zunehmende Industrialisierung des Fischfangs und die Probleme von Mini-Firmen wie Chiara/Antoine; das Bewusstsein, wie anders ihre finanzielle Situation ist als die Maxences Familie mit Pool und Antiquitäten im Haus. Und doch würde man sich für das Zentrum der Geschichte mehr handfeste Information wünschen, gerne mehr Laufzeit als diese kurzweiligen 90 Minuten. Worum geht es Chiara bei ihrer Affäre? Erotik? Ausbruch aus einem Leben, das man stabil und verlässlich nennen kann, aber auch routiniert und monoton? Und ist der junge Maxence für sie mehr ein Katalysator des Ausbruchs als ein geliebtes Gegenüber?​

Die Besetzung hilft​

Vielleicht weiß das Chiara selbst nicht – aber es bleibt beim Anschauen merkwürdig vage und bisweilen unglaubwürdig. Immerhin – diese Schwächen des Drehbuchs werden teilweise von der famosen Besetzung überspielt: Grégoire Monsaingeon als kerniger, sanftmütiger Ehemann, Félix Lefebvre als intensiv, möglicherweise aber nur kurzzeitig verliebter Maxence und vor allem Cécile de France, bei uns gerade auch im Film „Im Herzen jung“ zu sehen. Sie ist das Herz des Films, in nahezu jeder Szene zu sehen. Ihre Chiara ist eine resolute Person und dabei nicht immer eine Trägerin der Sympathie. Bei ihrem Freiheitswillen schwingt eine gewisse Egozentrik mit – und eine Naivität, die verständlich ist. Seit 20 Jahren lebt die Belgierin auf der kleinen französischen Insel, glaubt sich bestens integriert – doch als ihre Affäre ruchbar wird, ist klar, dass sie immer eine „Zugezogene“ bleiben wird. Und es urteilen auch Freunde mit moralisch gerecktem Zeigefinger, während sie selbst Affären haben oder hatten.  Gefilmt wurde über mehrere Jahreszeiten hinweg, um die Atlantikinsel Noirmoutier herum, in stimmungsvollen, atmosphärischen Bildern (Kamera: Augustin Barbaroux). Die betonen ebenso die Schönheit wie die Schroffheit der Region – und die Intensität dieser Geschichte, die in einem bittersüßen Epilog endet.​

Die bunte Ödnis: „Heart of Stone“ mit Gal Gadot bei Netflix

Netflix gal Gadot Heart of Stone

Gal Gadot im freien Fall in „Heart of Stone“.  Foto: Netflix

So viel Aufwand, so viele Schauplätze, so viel Action – und dann so viel Mittelmaß. So viel bunte Monotonie. „Heart of Stone“ ist ein merkwürdiger Film. Er will James Bond und „Mission: Impossible“ in einem sein, der Streaming-Anbieter Netflix hat viele Millionen investiert. Aber das Ergebnis, zurzeit der meistgesehene Film bei Netflix, ist ein ewiges Déjà-vu. Gal Gadot („Wonder Woman“, auch Mitproduzentin) spielt Rachel Stone, scheinbar eine verhuschte Agentin beim britischen Geheimdienst, die sich bei gefährlichen Einsätzen auf der Toilette versteckt. In Wahrheit ist sie die Super-Agentin der Super-Geheimorganisation „The Charter“, die ein Super-Technikdingsbums namens „Herz“ besitzt: ein Objekt, mit dem man sich in jeden PC, jedes Handy, jede Überwachungskamera hacken kann. Die totale Überwachung also, aber natürlich zum Wohle der Menschheit. Mit so viel Information greift man überall auf der Welt ein, „ohne die Erlaubnis der Regierungen“; die seien ja ohnehin überfordert und, das darf man weiterdenken, behindert von Lappalien wie etwa Gesetzen.

Schweighöfer als Mann der Technik

Kein Wunder, dass auch Finsterlinge dieses „Herz“ haben wollen, und so beginnt eine Jagd um den Globus, von „London – England“ wie uns der Film geografisch belehrt, über Lissabon, den Senegal bis nach Island. Wechselnde Schauplätze, aufwändige Action-Sequenzen – das hätte das Potenzial für sichtlich angestrebten 007-Flair. Aber richtig zünden mag das Ganze nicht, weil vieles abgestanden wirkt. Da ist Matthias Schweighöfer als Klischee-Technikgenie von „Charter“, das mit großen Armbewegungen projizierte Datenbilder durch den Raum schiebt und der Agentin Stone auf die Sekunde genau vorhersagt, wann Finsterlinge ihre Wohnungstür aufbrechen werden – merkwürdig nur, dass ihm entging, dass sie schon länger schwer bewaffnet im Hausflur herumstehen.

Interview über die Zukunft von James Bond

„Los los los!“ und „Nein nein nein!“

Actionfilme sind selten ein Hort der Logik, aber „Heart of Stone“ macht es sich dann doch zu einfach: Stone wandert problemlos in das unverschlossene Haus eines Agentenkollegen, fummelt am bereitstehenden Laptop herum, erklärt der dort sitzenden Katze, was sie vor hat (damit wir das auch wissen), kitzelt aus dem PC eine höchst geheime Info heraus, um wieder zu gehen, ohne den Laptop auch nur mal zuzuklappen. Flach wie ein zugeklappter Laptop sind auch viele Sätze, vom actionfilmüblichen „Los los los!“ oder „Nein nein nein!“ bis zum Doof-Dialog-Klassiker „Das ist kein Spiel“. Die Erklärbär-Szenen zwischen den kompetenten, aber in dieser Art schon oft gesehenen Action-Sequenzen sind bleiern.

Die totale Überwachung

Wohltuend ist, dass Tom Harpers Film keine große geschlechterpolitische Sache, kein Statement daraus macht, dass es keinen Action-Helden, sondern eine -Heldin gibt. Aber die Hauptdarstellerin Gal Gadot ist nur mäßig ausdrucksstark; den oft müden Drehbuchsätzen haucht sie kein Leben ein, auch denen nicht, die sich oberflächlich um den Konflikt zwischen kalten Daten und menschlicher Intuition drehen. Jedenfalls wird totale Überwachung nicht dadurch sympathischer, dass man von Frau Gadot und Herrn Schweighöfer ausgespäht wird. Vielleicht ist es ja eine gute Nachricht, dass der Film so schlecht ist (und das mediale Echo entsprechend) – möglicherweise pumpt Netflix einige Millionen wieder mal in ambitioniertere Filme, wie das Unternehmen es etwa bei „Roma“ und Scorseses „The Irishman“ getan hat.

Musiker Stephan Mathieu: „Ein Werk darf auch verschwinden“

Stephan Mathieu David Sylvian

Der Saarbrücker Musiker Stephan Mathieu, jetzt ein sehr gesuchter Mastering Engineer mit Studio in Bonn.  Foto: Caro Mikalef

 

Der Saarbrücker Stephan Mathieu war mit seiner elektroakustischen Musik über Jahre erfolgreich – bis er mit dem Komponieren aufhörte, die letzten Alben verkaufte und seine Arbeiten aus dem Streaming-Angebot löschte. Ein radikaler Schritt? Nein, findet Mathieu.​

Es ist nicht einfach zu erklären. Eigentlich nimmt Stephan Mathieu aus Saarbrücken keine eigene Musik mehr auf; außerdem hat er alle seine Aufnahmen aus dem Streaming-Angebot herausgenommen. Seine um die 50 Alben und EPs presst er nicht nach. Tabula rasa. Und doch ist gerade ein Album herausgekommen, wenn auch ohne sein Zutun. Und obwohl der Saarbrücker keine Musik, keine Klangkunst mehr aufnimmt, ist der 55-Jährige doch täglich (und oft auch nächtlich) in seinem Bonner Tonstudio sehr beschäftigt – wohl mehr als je zuvor.​

Stephan Mathieu erklärt, wie das alles zusammenpasst. Über Jahre war er mit seiner elektroakustischen, eigenwilligen, bisweilen meditativen Musik international erfolgreich; seine Arbeiten veröffentlichte er seit 2012 über sein eigenes Label mit dem schönen Namen „Schwebung“. Doch im September 2022 machte er einen radikalen Schritt und zog  seine Musik aus dem Verkehr, auch im Streaming. „Meine Stücke dauern manchmal eine ganze Stunde lang. Beim Streaming ist die Aufmerksamkeitsspanne kurz, da wird schnell zum nächsten Stück weitergeklickt.“ Zu dieser Kultur der Schnelllebigkeit wollte er nicht beitragen, „die Konsequenz daraus ist, das Ganze verschwinden zu lassen“, sagt Mathieu – und lacht. Tragisch findet er das alles nicht, denn seine Interessen haben sich verschoben. „Und ich mag die Idee: Ein Werk darf auch verschwinden.“​

„Wandermüde“ von Stephan Mathieu und David Sylvian

Aufgetaucht ist allerdings gerade ein Album als Wiederveröffentlichung, das vor zehn Jahren erstmals erschien – und jetzt der Grund, dass Mathieu nach einigen Jahren wieder ein Interview gibt: „Wandermüde“, eine Zusammenarbeit von Mathieu und David Sylvian. Jener Engländer war mit seiner Band Japan in den 1980ern ein großer Popstar, wandte sich solo aber rasch von üblichen Musikstrukturen ab und dem Experimentellen zu, arbeitete unter anderem mit Holger Czukay von der deutschen Avantgarde-Band Can. 2011 stieß  Sylvian auf Mathieus Musik: „Er schrieb mir, dass er meine Musik sehr mag“, sagt er, „das war schon eine große Sache, denn Japan und Sylvians erste Solo-Aufnahmen waren sehr wichtig für mich“.​

 

„Wandermüde“ heißt das Album von David Sylvian und Stephan Mathieu. Vor zehn Jahren erschienen und vergriffen, wird es jetzt vom Label Grönland wieder veröffentlicht. Mathieu und Sylvian haben nach einem „heftigen Crash“ keinen Kontakt mehr. Foto: Grönland

Der Brite lud den Saarbrücker zum norwegischen Punkt Festival in Kristiansand ein, mit einer besonderen Aufgabe: Während Sylvian konzertierte, remixte, überarbeitete und verfremdete Mathieu per Computer die Live-Aufnahmen, die dann einem anderen Publikum in einem anderen Saal vorgespielt wurden. „Das Ergebnis hat Sylvian gefallen, er fragte mich dann, ob ich sein Album ‚Blemish‘ neu bearbeiten wolle.“ Mathieu wollte, und so schickte Sylvian ihm einige der Instrumentalspuren seines 2003er Albums, vor allem Gitarrenimprovisationen von ihm selbst, Derek Bailey und Christian Fennesz. Aus denen formte Mathieu dann „Wandermüde“, unabhängig von Sylvian: ein fließendes, pulsierendes, atmosphärisches Instrumentalwerk. Mit dem Original-Album hat das nur wenig zu tun – was ja auch Sinn der Sache ist.​

„Das war alles in allem ein wirklich schlechtes Erlebnis“

Herbert Grönemeyers Label Grönland, das sich unter anderem um die Arbeiten des legendären Produzenten (und ehemaligen SR-Tontechnikers) Conny Plank kümmert, bringt die klassischen Sylvian-Alben neu heraus, eben auch „Wandermüde“. Natürlich freut sich Mathieu jetzt über die Wiederveröffentlichung. Und doch: Spricht man mit ihm über David Sylvian, spürt man eine gewisse Zurückhaltung – es lässt  sich heraushören, dass eine spätere Tournee mit Sylvian, Mathieu und Gitarrist Christian Fennesz eine Rolle spielt bei Mathieus Rückzug vom Musikmachen, vielleicht sogar der Anfang von dessen Ende war. „Das war alles in allem ein wirklich schlechtes Erlebnis“, sagt er, „ein heftiger Crash zwischen drei sehr unterschiedlichen Herangehensweisen, um ähnliche Ziele zu erreichen“. Kontakt hatten Mathieu und Sylvian seitdem nicht mehr, auch nicht im Rahmen der „Wandermüde“-Wiederveröffentlichung.​

Seit 2017 nimmt Mathieu keine eigene Musik mehr auf und hat sich ganz einer Studioarbeit für Andere verschrieben, die man erklären muss: Mastering. „Das ist der letzte kreative Schritt, bevor ein Album oder ein Stück veröffentlicht wird. Ich stelle das Reproduktionsmaster her und bin so die letzte Kontrollinstanz, bevor ein Werk in die Welt entlassen wird.“ Wie sehr Mathieu eingreift, hängt vom Ausgangsmaterial ab. „Manche Projekte muss ich komplett auf den Kopf stellen, bei anderen geht es nur noch um den Feinschliff, die letzten fünf bis zehn Prozent, bevor etwas toll klingt. Der Großteil meiner Projekte liegt zwischen diesen beiden Extremen.“​

Mathieu, Vater von drei Kindern, lebt seit zehn Jahren in Bonn, aus familiären Gründen („Bonn hatte ich eigentlich nie auf dem Zettel“); den Großteil der 1990er hatte er in Berlin als Schlagzeuger verbracht, bevor er wieder nach Saarbrücken ging. 1999 verlieh ihm die Stadt einen Förderpreis, 2001 bis 2005 lehrte er an der Hochschule für Bildende Künste (HBK).​

Das sonnige Heimstudio​

In Bonn hat sich Mathieu über Jahre ein Mastering-Studio eingerichtet, das seit 2021 fertiggestellt ist und in dem er auch wohnt. „Ein akustisch wahnsinnig guter Raum. Ich höre hier gleich, ob es an etwas mangelt, was besonders gelungen ist und in welche Richtung ich das Material drehen kann, damit es die Vision meiner Artists und Labels perfekt transportiert. Viele Leute produzieren zuhause und haben dort nicht die idealen akustischen Bedingungen, um ihre Arbeit im Detail beurteilen zu können. In meinem Raum springen mich klangliche Defizite direkt an, die ich dann ausgleichen kann.“ Das Heimstudio bringt auch zeitliche Flexibilität mit sich, die er wegen der Kommunikation mit der internationalen Kundschaft gut gebrauchen kann. „Ich habe gerade zwei unterschiedlichen Projekte mit australischen Musikern fertiggestellt, die stehen auf, wenn es für mich Zeit wird, das Licht auszuschalten.“​

 

Stephan Mathieu David Sylvian

Ein Blick in das Mastering-Studio.    Foto: Stephan Mathieu

Die Kundenliste ist lang und stilistisch weit gefächert. Unter anderem mit den Komponistinnen Laurie Spiegel und Kali Malone aus den USA, Nine-Inch-Nails-Keyboarder Alessandro Cortini, SUNN O)))-Gitarrist Stephen O’Malley und dem finnischen Elektroniker Vladislav Delay. Genregrenzen gibt es bei Mathieu nicht. „Für mich ist jeder Sound gleichwertig, von einer Staubsauger-Aufnahme von 1969 bis zeitgenössischer Kammermusik.“ Das könnte mit seiner kosmopolitischen musikalischen Früherziehung in Saarbrücken zu tun haben. Mathieus Eltern waren Hausmeister auf dem Saarbrücker Campus für das Gästehaus und das Institut für Entwicklungshilfe. „Wir sind da 1968 hingezogen, als ich ein Jahr alt war“, sagt Mathieu, „zwei Häuser, die abgeschlagen von allem anderen mitten im Wald stehen“. Die Natur war schon mal ein Faktor, „davon steckt ganz viel in mir drin, der Wald ist ja ein akustisch enorm interessanter Raum“. Dazu wuchs er mit Kindern von Gastprofessorinnen und -professoren  aus aller Welt auf, aus den USA, Korea, England, Japan – ein großer kultureller Austausch.​

Bei Depeche Mode brennt der Pulli

Die Eltern hatten großen musikalischen Einfluss: Mathieus Mutter arbeitete in jenem Plattenladen, der dann zum seligen „Saraphon“ wurde, sein Vater kaufte bereits früh elektronische Musik, vom Franzosen Jean-Michel Jarre etwa oder vom Japaner Tomita. Ebenso liefen zuhause die Beatles, Kinks, die Beach Boys. Mit zehn Jahren hatte Mathieu eine eigene Sammlung von 200 LPs.​

In der nahen Aula auf dem Campus ging er „zu endlos vielen Konzerten“, oft bereits zu den Soundchecks – Mathieus Vater kannte den Hausmeister der Aula. Pat Metheny etwa sah er 1979 und 1981, „bei der ersten Tour mit seinem Gitarrensynthesizer, auf dem er ein für einen 13-Jährigen schier endloses Solo spielte, das wie ein Trompetenkonzert klang. Ringsum lagen Leute auf dem Boden und haben gekifft, das war schon ein tiefgreifendes Erlebnis.“  Ein Saarbrücker Konzert von Depeche Mode in der Uni der Aula 1982 bleibt ihm unvergesslich, auch weil sich eine Wunderkerze durch seinen neuen, hart ersparten Fiorucci-Pulli brannte.​

Frankfurter Konzertbesuche bei den Einstürzenden Neubauten haben „meine Auffassung von Musik total verändert“ und auch erweitert – Neue Musik tat es Mathieu, der damals noch Schlagzeug spielte, ebenso an wie Jazz und Improvisiertes. Die Entdeckung des Computers als Musikinstrument ließ ihn das Schlagzeug dann vergessen, zwischen 1997 und 2017 habe er „Tag und Nacht“ mit dem Computer gearbeitet, Klänge  erschaffen, verfremdet, Musik neu zusammengefügt.​

Und das ist jetzt alles vorbei? „Ich würde nie nie sagen“, gibt Mathieu zu, „aber das Verlangen, immer wieder eigene Musik zu schaffen, habe ich nicht mehr“. Die Arbeit als Mastering Engineer sei erfüllend – und selbst eine Kunstform. „Es ist ein wenig wie Bildhauen – da wird etwas geformt, entschlackt, Klänge werden präziser. Ich liebe meine Arbeit. Im Grunde mache ich weiterhin jeden Tag Musik.“​

Kontakt zu Stephan Mathieu:
www.schwebung-mastering.com

 

 

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