Über Film und dieses & jenes

Schlagwort: Berlinale

„Axiom“ von Jöns Jönsson: Dichtung und Wahrheit


Ricarda Seifrid und Moritz Treuenfels in „Axiom“.      Foto: Martin Valentin Menke

 

Man hört ihm ja gerne zu. Julius hat für jede Lebenslage eine geistreiche Bemerkung parat, eine interessante Geschichte, die ihm neulich wohl passiert ist. Die flicht er in Konversationen mit angenehmer Stimme ein, ob am Arbeitsplatz Museum, wo er verbotenerweise fotografierende Kunstfreunde ermahnt, ob in der Straßenbahn oder am Hochkultur-Restauranttisch. Mit diesem jungen Mann der gepflegten Umgangsformen fühlt man sich eben wohl. Bis sich kleine Risse in der Fassade zeigen und man sich über ihn wundert – etwa wenn er Freunde zu einem Ausflug mit dem Segelboot seiner adeligen Mutter einlädt, das Auto aber kilometerweit vom Hafen parkt. Vielleicht ist es ihm nicht so eilig mit dem Segeln, das dann sowie nie stattfindet, weil Julius vor der Bootsbesteigung einen epileptischen Anfall erleidet. Langsam kommen seine Freundinnen und Freunde ebenso ins Grübeln wie die Kinogänger. Was ist los mit diesem Julius? Und wer ist er eigentlich?

Das soziale Chamäleon

„Axiom“ ist ein hinreißender Film, melancholisch und witzig zugleich, dabei so lässig wie tiefsinnig – ein Glücksfall. Julius entpuppt sich als versponnener Lügner, der nahezu auf jede Situation passend reagiert, sich wie ein soziales Chamäleon fast überall anpasst und sich für nahezu jeden neuen Gesprächspartner neu erfindet. Für seine Freundin ist er ein Architekt, der gerade das Großprojekt „Serbische Botschaft“ entwirft; für einen WG-Bekannten ist er ein Autor und Stipendiat, der ein halbes Jahr nach Tokio geht; für Hochkulturbekannte ein junger Mann, der eine schwierige Kindheit mit drogensüchtigen Eltern erfolgreich bewältigt hat. „Du brauchst einen Plan B“, sagt er einem Kollegen und hat stets einen solchen parat.

„Die Theorie von allem“ von Timm Kröger

Autor und Regisseur Jöns Jönsson, ein Schwede, der in Berlin Film studiert hat, lässt den Hintergrund vage. Ist Julius ein Narziss mit Persönlichkeitsstörung? Oder trägt er gerne zu dick auf, um eigene Komplexe zu übertünchen? Oder ist er in einer Gesellschaft des Selbstoptimierens und des Blendens nicht einfach nur konsequent und liefert lügend das, was verlangt wird: Erfolg und Status?

Der Lügenbaron bei der Arbeit

Der Film wertet nicht, er zeigt einfach, mit einer gewissen, aber nicht grenzenlosen Anteilnahme, einen Lügenbaron bei der Arbeit. Moritz Treuenfels in seiner ersten Kinohauptrolle ist eine Entdeckung; sein Julius kann ebenso mitleiderregend sein wie nervtötend, mal möchte man ihn in den Arm nehmen, mal ihm die Freundschaft kündigen. Er ist ein Münchhausen, zugleich ein Getriebener. Die Szene, wie sich Julius in ein Architektenbüro einschleicht, um den speziellen Berufsduktus aufzuschnappen, ist ein Kabinettstückchen von subtilem Spiel und Spannungsaufbau.

„Alle reden übers Wetter“ von Annika Pinske

Jönsonns lässt die Mono- und Dialoge enorm lässig klingen, realistisch und beiläufig, das wirkt alles verbal wie aus dem Leben gegriffen – hohe Inszenierungskunst; der vielbeschäftigte saarländische Kameramann Johannes Louis liefert dazu klare, unprätentiöse Bilder, konzentriert sich manchmal nur auf Julius‘ Gesicht, während von außen Gespräche auf ihn einströmen, die er aufsaugen wird, um sich gleich kenntnisreich einzumischen. Es ist auch schön, die Schauspielerin Ines Marie Westernströer in einer Rolle zu sehen, die ihr etwas mehr Raum hat als (bislang) die der Ermittlerin im saarländischen „Tatort“.

Wem soll man hier noch glauben?

Julius‘ ständiges kunstvolles Lügen hat den Effekt, dass man im Film irgendwann kaum noch irgendetwas glauben mag. Ein ehemaliger Kollege von Julius erzählt ihm eine Geschichte über seine Kindheit, eine Hautkrankheit und die helfende Kraft der Religion, die weit erfundener klingt als alles, was Julius bisher aufgetischt hat. Eine große Lüge? Oder schreibt das Leben immer noch die besten Geschichten? (In diesem Fall dann doch der Drehbuchautor). Man weiß es nicht, aber Julius hört gebannt zu – er weiß ja nie, wann er selbst so eine Geschichte gebrauchen kann.

Das Buch „Im Kino“ von Harald Martenstein

Harald Martenstein: Alte Chinesen im Kino erinnern ihn an Heiner Geißler, bei der Berlinale wird er mit einem Heldentenor verwechselt, und sein erster Filmkritik-Auftrag war „In der Lederhose wird gejodelt, Teil 2“. Foto: C. Bertelsmann

 

Man kann sich halt nicht alles aussuchen. Da sitzt der junge Harald Martenstein, in der Redaktion noch am Ende der Nahrungskette, in einem Bahnhofskino und schaut „In der Lederhose wird gejodelt, Teil 2“. Der Auftrag des Chefredakteurs ist unmissverständlich: eine wohlwollende Kritik, schließlich ist das Kino Anzeigenkunde und damit König. Erfreulich, dass diese doppelte Attacke von a) merkwürdigem Berufsverständnis und b) teutonischem Balzfilm Martenstein die Liebe zum Kino nicht verleidet hat. Im Gegenteil: „Nur als Filmkritiker hätte ich gut gelaunt alt werden können“, schreibt er in dem höchst vergnüglichen Band „Im Kino“, in dem er über 80 Texte zusammengestellt hat. Denn, so seine These, ein schlechter Film ist leichter auszuhalten als schlechte Literatur, außerdem: „Du kannst an einem Tag drei Filme sehen, drei Romane täglich sind nicht zu schaffen.“ Ein Spezialist habe er nie werden wollen, er ist „ein Schreiber“, aber „kein Journalist, kein Kritiker, kein Schriftsteller“.
Das erklärt wohl die erfreuliche Distanz, die Martenstein etwa in seinen bekannten Berlinale-Kolumnen zu manchen Filmen und zum Festivalbetrieb pflegt. Er verspürt keinen Kritikerfuror, mit dem er die Welt von verkannten Meisterwerken überzeugen wird. Er erstarrt nicht in Ehrfurcht, wenn er einen Großkünstler sieht; Neugier und Gelassenheit halten sich bei ihm die Waage.

Die Berlinale-Pressekonferenzen, durch die ja eine Gefühlswelle der Dankbarkeit dafür wogt, im selben Raum wie ein Star sein zu dürfen, beschreibt er schön gehässig in der Kolumne „Schleimen und Schmachten“; beim deutschen Berlinale-Film „Gnade“ mokiert er sich über das Drehbuch, das zu 90 Prozent aus Fragen bestehe – aus diesen Fragen bestückt er seine Kritik dann zu 95 Prozent. Konsequent und komisch – ähnlich wie seine Überschriften, die nicht immer subtil sind, aber neugierig machen: „Bei uns haben die Huren alle Abitur“ etwa, „Goebbels in Namibia“ oder „Ein Penis im Glück“.

Klatsch der Berlinale, bei der er schon mal von Passanten mit einem britischen Heldentenor verwechselt wird, trägt er gerne weiter – jenen etwa, dass Matthias Matussek, damals Spiegel-Kulturchef, beim Festival mehr als die übliche eine Karte für die Eröffnung gefordert und bei Zuwiderhandlung mit einem bösen Text gedroht habe. Martensteins (fiktive) Taktik: Er stellt der Berlinale einen liebedienerischen Text in Aussicht. Mit Erfolg: Er erhält Tickets für „Familie, Freunde, Bewunderer und die beiden Lieblingskonkubinen“.

Oft ironisch sind die Texte, die Scherz- und sprachliche Gagdichte ist enorm hoch – aber erwärmt sich Martenstein besonders für einen Film, wird er ernst und schaut besonders genau hin, etwa bei Andreas Dresens „Nachtgestalten“ in einem Text aus dem Jahr 1999. Schlechtere Filme watscht er elegant ab, am Stalingrad-Film „Duell“ stört ihn unter anderem die Pathos-Musik sehr, „jeden Moment rechnet man damit, dass die drei Tenöre aus den Schützengräben steigen“. Romuald Karmakars „Die Nacht singt ihre Lieder“ nennt er einen „Karmakarpaarzerfleischungsfilm“, in dem man als Zuschauer „verstrindbergt und veribsent“ werde. Und: „Filme können arrogant sein, wie Menschen.“ Dieses Werk hat er wohl wirklich nicht gemocht.

Spürbar empört hat ihn Hermine Huntgeburths „Effi Briest“-Verfilmung, in der Effi nicht stirbt, sondern als Großstadtsingle ein neues Leben beginnt, weil das laut Regisseurin „zeitgemäßer“ sei. Martenstein hofft, dass Huntgeburth sich nicht Kafkas „Prozeß“ vornimmt, denn den würde Josef K. dann in zweiter Instanz gewinnen; und bei einer „Faust“-Adaption Huntgeburths gehe Gretchen wohl als „starke, moderne Frau“ als Tierärztin nach Südafrika.
In „ein chinesisches Volksgefängnis“ wünscht Martenstein jene Kritiker, die einen Film daran messen, ob er mit ihrem Weltbild übereinstimmt. Er lässt sich lieber bezaubern oder gar verschaukeln: Es komme nur darauf an, „ob man an die Lüge glaubt, die jeder Film für uns aufbaut“.

Harald Martenstein: Im Kino.
C. Bertelsmann, 208 Seiten, 16,99 Euro.

www.randomhouse.de/Buch/Im-Kino/Harald-Martenstein/C.-Bertelsmann/e489105.rhd

 

 

Hölle Belfast: „71“ von Yann Demange

Belfast 71

Der junge britische Soldat Gary Hook (Jack O’Connell, Mitte) gerät 1971 in Belfast zwischen die Fronten des Nordirlandkonflikts.

Eine schöne Idee: Gerade läuft die Berlinale, da zeigt 3sat eine Reihe mit herausragenden Produktionen, die bei den Filmfestspielen zu sehen waren und dort prämiert wurden – oder auch nicht. So erging es nämlich dem Film „71“: Bei der Berlinale 2014 erwies sich ausgerechnet dieses Kino-Debüt als eines der souveränsten Werke des ganzen Wettbewerbs – und ging dann bei der Preisvergabe leer aus. Gut also, dass der Film jetzt in TV-Erstausstrahlung zu sehen ist.

In dem Film von Regisseur Yann Demange wird ein junger britischer Soldat nach Irland abkommandiert und landet mehr oder weniger unvorbereitet im Chaos des Belfast von 1971. Bei einer Hausdurchsuchung eskaliert der Hass der Bewohner auf die Soldaten, die Hals über Kopf fliehen – den jungen Kollegen lassen sie dabei zurück. Für den beginnt eine Odyssee durch Hinterhöfe, Schuppen und Wohnungen eines Kriegsgebiets, verfolgt von IRA-Männern, die ihn töten wollen.

Es ist eine einfache Geschichte, aus der Demange finsteres, atmoshärisch nahezu erdrückendes Spannungskino macht. Die Kamera ist mittendrin, wenn in einer Menschenmenge die Aggression erst brodelt und sich dann in Gewalt Bahn bricht; wenn der Soldat atemlos durch lange Gassen und über Hinterhöfe flüchtet; und wenn das nächtliche Belfast, nur erhellt vom Widerschein brennender Gebäude, wirkt wie ein Vorort der Hölle.

Als Zuschauer nimmt man dabei die Perspektive des Verfolgten ein, eines Jedermanns, der nur die Nacht überleben und seine Kaserne wiederfinden will. Jack O’Connell spielt ihn nicht als markigen Helden, sondern als Verzweifelten und restlos Überforderten. Der Film gibt dabei nicht vor, in 90 Minuten die Komplexität des Nordirland-Konflikts aufdröseln zu wollen – die IRA tut hier Furchtbares, aber ebenso die zivile MRF-Truppe des britischen Militärs, die ihrerseits wenig Interesse am Überleben des Soldaten hat. Für den wird es die längste, vielleicht letzte Nacht seines Lebens.

 

 

Belfast 71

 

 

 

 

 

 

Jules Herrmann und ihr Film „Liebmann“

Liebmann Jules Herrmann

Regisseurin Jules Herrmann

 

Jules Herrmann Godehard Giese Liebmann

Godehard Giese

 

Wenn er doch endlich schlafen könnte. An Lärm liegt es nicht – in dem  französischen Flachlandnest, in das sich der Deutsche Liebmann zurückgezogen hat (oder geflüchtet?), hört man höchstens den Wind sachte durch die Bäume säuseln – ganz selten schallt ein Schuss durchs Dickicht. Die Jäger, erklärt Liebmanns Vermieter, der nicht schlau wird aus diesem freundlichen, aber wortkargen Mann, dessen Französischkenntnisse davon abzuhängen scheinen, was man ihn fragt (bei Privatem sind sie nicht mehr vorhanden).

In ihrem herausragenden Spielfilmdebüt „Liebmann“ erzählt die 1970 in Saarbrücken geborene Regisseurin Jules Herrmann (plus Buch, Produktion und Schnitt) die Geschichte eines Rückzugs, von der Suche nach einem Neuanfang. Etwas nagt, vielmehr frisst an Liebmann, er mag örtlich weit weg sein von dem, was geschehen ist, aber es lässt ihn nicht los. „Du erinnerst mich an Ines“, sagt er einmal zu seiner Nachbarin – quälen ihn Liebeskummer oder gar der Tod seiner Freundin/Frau? Der Film lässt das lange rätselhaft, und wenn er auf Hintergründe blicken lässt, überrascht er immer wieder, unterläuft  Erwartungen und bricht mit Wonne den eigenen Erzählfluss: Die deutliche Annäherung seitens der netten Nachbarin wird in einem kleinen „Film im Film“ aus Kindersicht persifliert. Und wenn „Liebmann“ den Grund der Seelenqual erklärt und dabei zeitweise seinen luftigen Erzählduktus zu verlieren droht, entgeht er dieser Schwere durch einen kleinen Strindberg-Exkurs, der wie eine Parodie aufs klassische Arthouse-Bildungsbürgerkino wirkt. Wie Herrmann das alles filmisch schlüssig unter einen Hut bekommt, ist famos. Bittersüß ist „Liebmann“ und bei allem Kummer der Hauptfigur, eindringlich gespielt von Godehard Giese, auch immer wieder sehr komisch, auf stille Weise.

Ungewöhnlich ist auch die Entstehung des Films: Herrmann hat die Idee in sechs Tagen entwickelt, auf 27 Zetteln waren Handlung und einzelne Szenen skizziert – und los ging es ins nordfranzösische St. Erme in der Nähe von Reims. Herrmanns Arbeitshypothese: „Alles kann, nichts muss – und vielleicht geht alles schief.“ Man habe beim Dreh ganz auf Intuition gesetzt, „denn es gab keine  Zeit für Analyse“, sagt Herrmann bei der Vorstellung des Films im Kino Achteinhalb. Schnell musste es gehen, zum einen weil Herrmann den Dreh selbst finanziert hat (Unterstützer kamen erst später dazu) und weil Godehard Giese nur knapp drei Wochen Zeit hatte. Giese und Herrmann kennen sich seit Jahren, sind befreundet; er spielte in Herrmanns Kurzfilm „Auszeit“, 2006 im Ophüls-Wettbewerb, sie produzierte und schnitt Gieses Regiedebüt „Die Geschichte vom Astronauten“. Schmale 15 Drehtage hatten sie nun für „Liebmann“, dessen Handlung zwar vor Ort entwickelt wurde, „aber es wurde nie vor der Kamera improvisiert“, betont Herrmann. Sie wollte keinen jener betont spontan und etwas formlos wirkenden Improvisationsfilme drehen, „Liebmann“ wirkt geschlossen und buchstäblich formvollendet. Ein halbes Jahr schnitt Herrmann, die von 1999 und 2005 Regie in Potsdam studierte (und zuvor BWL in Saarbrücken), den Film – am Ende unter besonderem Druck, denn die Berlinale 2016 wollte den Film als Uraufführung zeigen, „da musste alles sehr schnell gehen“. Danach hat der Film eine Festival-Weltreise angetreten, lief unter anderem in Toronto, Mailand, Irland und Taiwan. Nur, und das verwundert Herrmann angesichts ihres in Frankreich und fast ausschließlich in Französisch gespielten Films, hält sich das Interesse von gallischen Festivals oder Verleihern in Grenzen. „Wir haben uns da lange bemüht, aber jetzt haben wir keine Lust mehr.“ Pech für die Nachbarn.

„Liebmann“ gibt es jetzt auch auf DVD, bei MissingFilm


Fotos: Sebastian Egert/MissingFilms

 

Jules Herrmann Godehard Giese Liebmann

 

Jules Herrmann Godehard Giese Liebmann

 

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