Über Film und dieses & jenes, von Tobias Keßler

Schlagwort: Charlotte Gainsbourg

„Menschliche Dinge“ von Yvan Attal


Alexandre Farel (Ben Attal) soll die 17-jährige Mila vergewaltigt haben.      Foto: Jérôme Prébois/Curiosa Films

 

Was ist in diesem Schuppen im nächtlichen Paris geschehen? Der Film zeigt es nicht, die Kamera bleibt draußen – und die Wahrnehmung der Beteiligten klafft auseinander. Für Alexandre war es einvernehmlicher Sex, für die 17-jährige Mila eine Vergewaltigung. Sie zeigt Alexandre an, der Prozess beginnt 30 Monate später; er macht die letzte Stunde dieses sehenswerten Films aus, nach dem man wohl lange diskutieren wird.​

„Menschliche Dinge“, eher frei nach dem Roman von Karine Tuil, ist ein harter Brocken, knapp zweieinhalb Stunden lang, mit sehr intensiven Szenen und  expliziten Verhören. Regisseur und Co-Drehbuchautor Yvan Attal blättert ein großes Tableau auf, denn ihm geht es auch um die Schockwirkungen auf die Familie der beiden – und um deren Wertesysteme, gerade in Hinsicht auf die Geschlechter. Da ist Jean Farel (Pierre Arditi), der Vater des Angeklagten, ein grauhaariger Star-Journalist, dem gleich zu Beginn eine deutlich jüngere Programmdirektorin ankündigt, seine Sendung nach 30 Jahren einzustellen; für ihn nichts anderes als eine stellvertretende Rache der Frau „an allen Männern, mit denen sie schlafen musste, um nach oben zu kommen“.​

Seine Ex-Frau ist die feministische Autorin Claire (Charlotte Gainsbourg), die im Radio harte Strafen für Vergewaltiger fordert. Derweil schwebt Sohn Alexandre (Ben Attal) zu Besuch aus den USA ein, wo er als Elite-Student reüssiert. Er lernt in Paris den neuen Lebenspartner seiner Mutter kennen und geht mit dessen lange jüdisch orthodox erzogener Tochter Mila (Suzanne Jouhannet) zu einer Party.​

Dort kommt es, da sind sich Anklägerin und Angeklagter einig, zum Sex in jenem Schuppen. Aber war er einvernehmlich? Und fällt die Mutter des Angeklagten, die feministische Autorin, den Frauen in den Rücken, wenn sie ihren Sohn für unschuldig hält? Und wird die Anklägerin Mila weniger glaubwürdig, weil sie auf Fragen im Prozess hin erklärt, dass sie zuvor eine sexuelle Beziehung zu einem deutlich älteren verheirateten Mann hatte? So sieht es die Verteidigung – eine perfide Taktik –, während die Anklage  nebenbei soziale und kulturelle Unterschiede bemüht, vom „armen jüdischen Mädchen“ spricht, das Opfer wird eines Oberklasse-Alphamannes.​

Gestaltet ist der Film über weite Strecken sehr packend, mit einer beweglichen Kamera, die durch Wohnungen und Polizeireviere kurvt, und mit durchweg sehr guten Darstellern. Nur bei der Gerichtsverhandlung tun sich Schwächen auf, da lässt Regisseur Attal, wohl um den Eindruck des Statischen vorzubeugen, die Kamera allzu auffällig herumfahren; auch Momente von Pathos tun sich auf, in der Rede der Mutter des Angeklagten und beim Plädoyer der Anwältin der Anklägerin. Die Lage bleibt bis zuletzt komplex, weil „Menschliche Dinge“ eben nicht zeigt, was geschehen ist – das macht den Film ambivalent, interessant und zum Anstoß von Diskussionen.

Die Welt ist schlecht, das Wetter auch: „True Crime“ mit Jim Carrey

Jim Carrey.     Foto: Bartosz Mrozowski

Es ist ja nicht so, dass Jim Carrey nur Komödien gedreht hätte. Aber über viele Jahre hat er beim großen Publikum doch ein Image als Komiker der  Extrem-Mimik kultiviert und betoniert – in Filmen wie „Dumm und dümmer“, „Der Dummschwätzer“ oder „Der Ja-Sager“. Versuche in anderen Rollen unternahm er gerne, aber nur mit mäßigem Zuspruch, abgesehen von der gewitzten Medienkritik „Truman Show“, die aber auch schon 21 Jahre alt ist. Carreys Komödien machten ihn zeitweise zum Bestverdiener, doch sie nutzten sich irgendwann ab – die späte Komödien-Fortsetzung „Noch dümmer“ von 2014, 20 Jahre nach „Dumm und dümmer“, wirkte weniger humoristisch denn schlicht verzweifelt. Was das Publikum auch spürte. Und Weniges ist weniger witzig als verzweifelte Komödien.

Mit dem Film „Dark Crimes“ erweitert Carrey sein Spektrum noch einmal und scheint sein Image mit großer Geste beerdigen zu wollen. Er spielt den polnischen Polizisten Tadek, nach einem dienstlichen Vergehen ins staubgraue Archiv versetzt, den ein ungelöster Mordfall nicht loslässt – zumal er Verbindungen zum korrupten Polizeichef vermutet. Insgeheim ermittelt er und hat schnell einen Verdächtigen: einen Schriftsteller, der in einem Roman den unaufgeklärten Mord verblüffend präzise schildert, ohne die Akten zu kennen. Doch ganz so einfach wie vermutet liegt der Fall nicht, und Tadek verliert langsam den Überblick, zumal ihn eine andere Person aus dem Mord­umfeld fasziniert – die fragile Prostituierte Kasia (Charlotte Gainsbourg).

 

 

Düsternis, Wendungen, mysteriöse Figuren – für einen packenden Krimi könnte das wohl reichen. Aber der griechische Regisseur Alexandros Avranas, der 2013 in Venedig einen Silbernen Löwen für das Familiendrama „Miss Violence“ gewann, hat an der üblichen Thriller-Mechanik augenscheinlich wenig Interesse. Ihm geht es um die Charakterstudie eines nahezu Besessenen, der sich so in den Fall verbeißt, dass ihm sogar die eigene Familie entgleitet. Tadek starrt beim Essen vor sich hin, schweigt, führt die Gabel mechanisch-aggressiv zum Mund. Zum Fürchten.

Es ist durchaus interessant, Carrey zuzusehen, er bleibt auch ohne mimische Exzesse ein charismatischer Darsteller, wobei ihm das Drehbuch auch das zugesteht, was viele wohl unter besonders ernster Schauspielkunst verstehen: Schreien, Weinen (und sich Übergeben). Dazu ein Rauschebart, der an den Gesichtsschmuck erinnert, der einst bei Steve McQueen spross, als er sich so ambitioniert wie erfolglos an Ibsens „Ein Volksfeind“ versuchte.

Die Handlung an sich bleibt  spannungsreduziert, der Film scheint vor allem darum bemüht, mit kunstvoll trostlosen Bildern eine dichte Atmosphäre zu schaffen. Das gelingt, unabhängig davon, wie realistisch sie auch sein mag – das Polen in diesem Film ist ein schmerzhaft öder, graubrauner Ort der muffigen Büros, des schlechten Wetters, der merkwürdig halbleeren Wohnungen (und Folterkeller für sexuelle Gewalt). Dieser auffällige Stilwille lässt „Dark Crimes“ manchmal prätentiös wirken, ein wenig wie der verdächtige Schriftsteller, der bei Pressekonferenzen so pompöse Sätze deklamiert wie „Alles ist subjektiv“ oder „Die Wahrheit ist das, was man aus ihr macht“. Die leicht erregbaren Journalisten klatschen andächtig.

Man muss sich bei diesem ambitionierten Film ein wenig bemühen: Gelingt es einem, sich auf den manchmal fast meditativen Rhythmus einzustellen, lohnt sich das: wegen der Bilder, der Atmosphäre und wegen Carrey. Gelingt es einem nicht, wird man bis zum traurigen, in Maßen überraschenden Ende nicht durchhalten.

„Dark Crimes“ ist als DVD und Blu-ray bei Studio Hamburg erschienen und auch bei Netflix zu sehen.

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