Über Film und dieses & jenes, von Tobias Keßler

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Sandra Hüller im Interview: „Ich versuche, Kritiken nicht zu lesen“

Sandra Hüller in "Anatomie eines Falls"

Sandra Hüller in einer Szene des Films „Anatomie eines Falls“, der gerade in den Kinos zu sehen ist.                                                                 Foto: LesFilmsPelleas/LesFilmsDePierre

 

Gleich zweimal ist Sandra Hüller für den Europäischen Filmpreis nominiert – für „Anatomie eines Falls“ und „The Zone of Interest“. Grund genug, ein Interview zu posten, das im Januar entstand, als Hüller Ehrengast des Filmfestivals Max Ophüls-Preis war.

Schauen Sie sich Filme, in denen Sie mitspielen, später nochmal an?

HÜLLER Manchmal, wenn ein Film im Fernsehen läuft und ich hängenbleibe, schaue ich noch ein bisschen rein – aber gezielt würde ich das nicht tun.

Haben Filmkritiken Auswirkung auf Ihre Arbeit?

HÜLLER Ich versuche, Kritiken nicht zu lesen, es sei denn, jemand rät mir, das bei einem bestimmten Text unbedingt zu tun. Generell interessiert mich eine Kritik mehr, wenn ich weiß, dass meine Arbeit danebengegangen ist – einfach um zu erfahren, was ich verpasst habe, was ich am Drehbuch vielleicht falsch verstanden habe oder an der Regie oder an der Figur. Bei einer Arbeit, bei der ich das Gefühl habe, dass ich das transportiert habe, was ich transportieren wollte, brauche ich dafür keine Bestätigung – aber ich freue mich natürlich, wenn es den Leuten gefällt und gut darüber geschrieben wird.

„Toni Erdmann“ wurde 2016 zum Phänomen. Der Film lief in Cannes, gewann unter anderem den Europäischen Filmpreis, wurde für den Oscar nominiert und auch ein Hit in den deutschen Kinos. Konnte man so etwas ahnen?

HÜLLER Nein, beim Dreh war uns das überhaupt nicht klar. Wir wussten zwar, dass wir eine ungewöhnliche Arbeit machen, und ich kannte die vorigen Filme von Maren Ade, die in kein gängiges Schema passen. Aber was der Film auslösen würde – ehrlicherweise auch bei mir – war uns nicht klar. Erst als ich den Film gesehen habe, wurde mir auch bewusst, welche Reise meine Figur gemacht hat.

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Hat sich dieser unerwartete Erfolg irgendwann surreal angefühlt?

HÜLLER Das nun nicht, es ist einfach schön, wenn sich harte Arbeit lohnt. Und durch den Film waren wir viel unterwegs, haben viel erlebt und konnten viele Menschen treffen. Das war ein großes Geschenk für mich – und auch ein großer Rausch. Ich habe etwas Zeit gebraucht, wieder in der anderen Realität anzukommen – es gibt ja mehrere.

Ihre Karriere ist sehr reichhaltig, Sie drehen nationale und internationale Kinofilme, spielen Theater. Wie sehr kann man das planen und eine Karriere steuern?

HÜLLER Ich bin eine unglaublich schlechte Strategin, das merke ich auch zuhause bei Strategiespielen, das funktioniert nicht. Ich kann mir nur vornehmen, mich selbst nicht anzulügen, nicht falschen Anreizen hinterherzurennen und nur das zu tun, was mich interessiert. Oder ich probiere etwas aus, was ich noch nicht gemacht habe, auch wenn es mich nicht unbedingt berührt – einfach damit der Körper und das Gehirn in Bewegung bleiben.

Erklärt das auch, dass Sie neben Hauptrollen gerne auch Nebenrollen spielen?

HÜLLER Es gibt Phasen, da spiele ich Hauptrollen, da brauche ich das – auch finanziell, ehrlich gesagt. Und dann gibt es Zeiten, wo ich mehr zuhause sein möchte, weil ich das Gefühl habe, gefehlt zu haben, und mehr präsent sein möchte. Dann sind das kleinere oder kürzere Sachen, oder Arbeiten näher am Wohnort – das ist sehr unterschiedlich.

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Im Film „Alle reden übers Wetter“ haben Sie überraschend einen winzigen Auftritt – wie kam es dazu?

HÜLLER Die Regisseurin Annika Pinske kenne ich schon seit zwölf, 13 Jahren, wir waren Nachbarinnen in Berlin. Da war klar, dass ich bei ihrem Debüt mitspiele, auch wenn sie mich nicht groß besetzt. Das war eine abgemachte Sache, ein Drehtag, der Spaß gemacht hat.

Ist es auch erleichternd, dass man den Film nicht tragen muss?

HÜLLER Das schon – die anderen haben wahnsinnig viel zu tun, und man selbst schaut mal kurz vorbei. Andererseits genieße ich es schon sehr, wenn ich über einen längeren Zeitraum die ganzen Bewegungen der Geschichte mitspüren und mitgestalten darf. Das hat alles Vor- und Nachteile.

Nach „Toni Erdmann“ haben Sie „Fack ju Göthe 3“ gedreht – vom Arthouse-Kino zu einem Mainstream-Jux. Eine ziemliche Überraschung.

HÜLLER Für mich war das ein wichtiger Ausflug in ein anderes Genre, weil ich wissen wollte, wie das funktioniert. Man kann über solche Filme ja alles Mögliche denken – aber wenn man noch nie da war, weiß man nicht, ob man das kann, ob es Spaß macht und ob es vielleicht sogar ein Karriereweg wäre. Das war kurz nach „Toni Erdmann“, wo ich mir nicht sicher war, wie es jetzt weiter geht. Und wenn ich das nicht weiß, dann mache ich eben verschiedene Dinge, bis ich es wieder weiß. Das ist bei mir ein ganz normaler Weg.

Und wie ist Ihr Fazit?

HÜLLER Man soll niemals nie sagen, aber ich glaube nicht, dass mein Daueraufenthalt in diesem Genre sein wird. Ich habe gemerkt, dass ich das wirklich nicht gut kann. Ich war sehr befangen. Solche Filme schaue ich gerne, aber ich kann es leider nicht gut.

Was schauen Sie sich im Kino an – vor allem Arthouse-Filme?

HÜLLER Nein, ich schaue das, was in Kritiken interessant beschrieben wird. Ich war in letzter Zeit sehr oft im Kino, auch weil ich will, dass es die Kinos weiter gibt. Es wird viel über deren Probleme gesprochen und geschrieben, es gibt eine Kampagne mit dem passenden Titel „Das Kino braucht nicht Dich – Du brauchst das Kino“. Wir brauchen solche Orte, an denen wir in Ruhe Filme sehen und über sie nachdenken können – oder zumindest auch einmal entfliehen für eine Weile. Im Kino ist es anders als vor dem Fernseher auf der Couch, wo man dran denkt, dass man gleich noch die Wäsche zusammenlegen muss. In diesem dunklen Ort Kino wird man in die Geschichte hineingezogen.

Sie lesen auch viele Hörbücher ein – ist das auch eine Chance, mehr Kontrolle zu haben als Teil eines Films oder einer Inszenierung mit vielen anderen Menschen zusammen?

HÜLLER Darum geht es mir weniger, ich mag vor allem den Rausch, der bei dieser Arbeit entsteht. Das lange Lesen macht etwas ganz Besonderes mit dem Gehirn, ich mag es sehr, in die Geschichte tief einzutauchen. Einem Text so absolut zu dienen, macht großen Spaß. Und ich bin eine schnelle Hörbuch-Einleserin.

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Sie nehmen auch Musik auf  – wie kam es dazu?

HÜLLER Musik war bei mir immer da. Ich hatte einen Kassettenrecorder, mit dem ich nachts Musik vom Radio aufgenommen habe. Ich habe gewartet und gehofft, dass der Moderator nicht reinquatscht, habe Mixtapes zusammengestellt – das haben wir ja alle getan. Als Musik noch nicht so frei verfügbar war wie heute, habe ich viel Zeit in großen Drogerieketten mit Musikabteilungen verbracht und neue CDs durchgehört, die in Zeitschriften empfohlen wurden. Ich finde Musik als Ausdrucksform wunderbar, ich lerne auch gerade Klavierspielen, um mehr über die Entstehung von Musik zu lernen – damit das Ganze nicht nur intuitiv bleibt.

Wie haben Sie die Corona-Zeit erlebt und überstanden?

HÜLLER Erstmal hatte ich das Glück, dass ich mich finanziell über Wasser halten konnte. Ich habe es genossen, im Lockdown mit der Familie zusammen zu sein. Zuhause gab es klare Strukturen, Stundenpläne, die den Tag gliedern, damit man nicht abstürzt in ein Nichtstun, in eine Bedeutungslosigkeit. Aber die Erschöpfung, die das alles mit sich gebracht hat, die habe ich erst gespürt, als alles wieder halbwegs normal lief. Da habe ich erst gemerkt, wie viel einem das abverlangt hat, dem Kind gegenüber den Kopf oben zu halten und Mut zu machen, optimistisch zu bleiben. Es gab viele Schulausfälle, es gab viel Ungewissheit und viele Ängste, denen man begegnen musste. Es tut dann gut, einfach Vertrauen zu haben, dass es wieder besser wird – und das hat ganz gut funktioniert.

Interview mit Steffen Greiner: „Verschwörungstheorien sind wie eine Folie, die man über alles drüberlegen kann.“

Der Journalist und Kulturwissenschaftler Steffen Greiner. Foto: Julia Grüßing

Der Journalist und Kulturwissenschaftler Steffen Greiner. Foto: Julia Grüßing

 

Impf- und Impfpflichtskepsis sind das eine. Das Ablehnen des Impfens, verbunden mit Misstrauen in den Staat und bizarren Verschwörungstheorien, ist das andere. Schon vor 100 Jahren wetterten „Inflationsheilige“ gegen eine Impfpflicht und verbanden das mit Verschwörungs-Ideologie. Mit ihnen beschäftigt sich der Kulturwissenschaftler und Journalist Steffen Greiner aus Saarbrücken. Sein Buch „Die Diktatur der Wahrheit“ spürt den ersten „Querdenkern“ nach.

Was hat Sie dazu bewogen, ein Buch über historische und aktuelle „Querdenker“ zu schreiben?

GREINER Ich habe mich vor einigen Jahren mit den sogenannten Inflationsheiligen aus den 1920ern auseinander gesetzt. Ausgelöst durch die deutsche Niederlage, die Revolution und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschte eine große Unsicherheit in der deutschen Gesellschaft – ein sehr fruchtbarer Boden für abstruse politische Bewegungen, die zwischen Politik und Religion schwebten, die linke Elemente wie rechtsextrem-völkische miteinander verbanden, dazu noch etwas Christentum und Buddhismus. Also eine merkwürdige und damals erfolgreiche Mischung, bei der offenkundig ist, dass sie zu nichts Gutem führen kann, wenn etwa von einem „Königreich Deutschland“ geträumt wird. Die Ähnlichkeiten im Vokabular zu heutigen Reichsbürgern waren offensichtlich – intensiv beschäftigt hab ich mich damit aber erst nach einem Gespräch mit einem Mann im Thüringer Wald.

Was ist da geschehen?

GREINER Bei einem Pressetermin im Sommer 2020 traf ich einen Mann, der ganz viel von Liebe und von Freiheit sprach, das aber verbunden hat mit obskuren Verschwörungstheorien über eine zusammengebrochene Wirtschaft und Staatsführer, die uns eine neue Weltordnung aufzwingen wollen. Diese Theorien schienen für ihn fast eine religiöse Bedeutung zu haben. Das hat mich sehr erinnert an die Sprache, die einem auf alten Flugblättern der 1920er entgegenschreit. Deshalb habe ich mich mit möglichen Traditionslinien zwischen damals und heute beschäftigt.

Wie ist ihr Fazit – kann man direkte Linien ziehen?

GREINER Ganz übertragen kann man es auf heute nicht, natürlich. Aber was sofort auffällt: Die Impfgegnerschaft war schon in den Lebensreformbewegungen ein paar Jahre früher, aus deren Denken die Inflationsheiligen kamen, ein zentraler, fast identitätsprägender Punkt. Argumentiert wurde ähnlich wie heute: Dass der Staat sich per Impfung im Körper breitmachen will, wie eine Art Polizei in Bazillenform. Gusto Gräser, einer der zentralen Gestalten von damals, betrachtete die Impfgegnerschaft als wahrlich deutsche Tugend, weil Deutschsein doch bedeute, seinen Körper zu stärken und nicht durch eine Impfung vermeintlich zu schwächen. Das Impfthema ist die offenkundigste Verbindung zu heute, aber dahinter stecken ja auch generell der Diskurs Natur versus Kultur und eine Skepsis gegenüber der Moderne, die immer eine rechte Tendenz innehat, auch wenn der oder die Protestierende heute vielleicht Dreadlocks trägt.

Verschwörungstheorien kursieren heute vor allem in den sozialen Medien, bevorzugt auf dem Messenger-Dienst Telegram. In den 1920ern gab es das alles noch nicht.

GREINER Das nicht, aber vor 100 Jahren war es erstmals möglich, Zeitungen, Zeitschriften und Flugblätter vergleichsweise billig herzustellen. Es war viel leichter, sich publizistisch zu äußern. Und es gab Pressefreiheit in der Weimarer Republik. Die Möglichkeit, die eigene Meinung schnell und billig unters Volk zu bringen, erinnert sehr an die heutige Situation mit den sozialen Medien. Damals wie heute bedeutet diese Medienhäufung aber auch eine Überforderung der Leserinnen und Leser – die können schwer unterscheiden zwischen journalistischer Qualität, Propaganda und „fake news“.

Ihr Buch heißt „Diktatur der Wahrheit“ – was hat es damit auf sich?

GREINER „Diktatur der Wahrheit“ ist das, was in den 1920ern  einer der bekanntesten Inflationsheiligen, Louis Haeusser, errichten wollte. Er war ein Sekthändler aus Schwaben, der als Hochstapler sehr reich wurde, dann beschloss, sein Geld zu verschenken, weil er eine Vision hatte. Er begann um 1920, Realpolitik zu machen, hat die „Christlich-radikale Volkspartei“ gegründet, die aber keine Partei sein wollte, sondern eine Bewegung. Er rief sich als „Volkskaiser“ aus und wünschte sich als solcher eine „Diktatur der Wahrheit“, weil es so viel Lüge gebe, dass die Wahrheit nur mit dem Schwert zu ihrem Recht kommen könne. Ich fand das als Buchtitel sehr passend, weil die Frage nach Wahrheit und Lüge als Diskurs bei den Querdenkern heute ja genauso stattfindet:  Es ist diese diffuse Vermutung, dass niemand die Wahrheit sagt, dass hinter allem irgendeine Machenschaft steckt und dass man im Zweifelsfall die Freiheit mit dem Schwert gegen dunkle Mächte verteidigen muss.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie Querdenker nicht für Nazis halten, für rechtsextrem aber schon. Können Sie das genauer erklären?

GREINER Die Verengung der rechtsextremen Geschichte auf den Nationalsozialismus hat in der deutschen Nachkriegsgesellschaft dazu geführt, dass es selbst für die extreme Rechte leicht wurde, sich davon zu distanzieren. Viele der Figuren in meinem Buch sind in den 1930ern Gegner der Nationalsozialisten, aber dennoch durchdrungen von völkischem Gedankengut. Die Neue Rechte, die in die Querdenken-Bewegung strömt, beruft sich heute nicht auf Hitler, sondern zu großen Teilen auf die Bewegung um Otto Strasser. Ein Menschenfeind und frühes „nationalrevolutionäres“ NSDAP-Mitglied, der aber schon 1933 als Gegner Hitlers ins Exil ging und sich daher in der BRD als Widerstandskämpfer inszenierte. Dass der kein KZ mitgeplant hat, macht seine Thesen aber eben nicht weniger von Rassismus geprägt. Man muss kein Nazi im Sinne von Fan der NSDAP sein, wie das heute oft verstanden wird, um eine offene, demokratische Gesellschaft abzulehnen, in der verschiedene Gruppen gleichberechtigt ihre Konflikte und Interessen aushandeln.

Ist jeder, der heute bei einer Demo gegen eine Impfpflicht mitgeht, gleich ein Querdenker?

GREINER Impfpflichten waren historisch sehr erfolgreich, sie haben nie zum Faschismus geführt, stattdessen mittelfristig zur Eindämmung, bei den Pocken sogar zum Ende der Krankheit. Trotzdem finde ich richtig, dass die Entscheidungsträger etwa auch den Ethikrat anhören. Es wird offenkundig sich nicht allzu leicht gemacht. Die Komplexität der Frage lässt sich natürlich auf einer Demo nicht abbilden, das muss eine Demo auch nicht liefern. Trotzdem habe ich die Vermutung, dass Menschen, die sich nach reflektierter Abwägung gegen die Impfpflicht positionieren, dann nicht neben Mit-Demonstranten stehen wollen, die Putin bitten, Deutschland von der Corona-Diktatur zu befreien. Der bürgerlich-demokratische Konsens, dass keine Allianzen mit radikalen Rechten gebildet werden, wiegt für mich da deutlich schwerer. So groß sind die plausibel zu argumentierenden Bedenken gegen die Impfung für diesen Bruch dann nämlich doch nicht.

Was unterscheidet den Querdenker von jemanden, der lediglich eine Impfpflicht ablehnt? Beziehungsweise: Was ist Ihre Definition eines Querdenkers?

GREINER Im Grunde, muss ich da auch selbstkritisch sagen, gehen wir alle natürlich auch einem Unternehmer auf den Leim: „Querdenken 711“, der Name der Stuttgarter Keimzelle der Bewegung, wurde schon im Juni 2020 von Initiator Michael Ballweg als Marke eingetragen. Der auch sonst finanziell, etwa durch Schenkungen und Merchandise, von Querdenkern profitiert. Aber tatsächlich würde ich die Unterscheidung zwischen wichtiger Kritik an Corona-Politik, die ja auch durchaus von links geführt werden kann – warum tragen Frauen eine so viel höhere Belastung als Männer, warum sind die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften noch immer so schlecht – und den sogenannten „Querdenkern“ an der Nähe zum verschwörungstheoretischen Denken ausmachen: Gegen eine Impfpflicht zu sein, weil sie einen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte körperliche Unversehrtheit darstellt, muss schließlich nicht einhergehen mit der Vermutung, sie sei Teil eines weltweiten Genozids.

Am 18. September soll in Idar-Oberstein ein Mann einen Tankstellenkassierer erschossen haben, weil der ihn gebeten hatte, seine Maske anzuziehen. Der Maskenverweigerer soll Kontakte in die Querdenkerszene gehabt haben. Ist das insgesamt eine Radikalisierung der Szene oder ein Einzel- und Extremfall?

GREINER Ich glaube schon, dass da eine Radikalisierung geschieht. Die muss sich nicht unbedingt in Gewalt äußern, sondern darin, dass die Positionen, die mit Realpolitik oder Logik nichts mehr zu tun haben, immer zementierter werden. Ernsthaft zu behaupten, wir lebten dieser Tage in einer Corona-Diktatur, ist ja völlig daneben. Dafür braucht man schon ein sehr verfestigtes Denken in Verschwörungsszenarios. Und natürlich: Je mehr Leute mitlaufen, desto schneller fallen Hemmungen.

Was wird von den Querdenkern eigentlich konkret gefordert? Sie halten gerne das Grundgesetz hoch, aber etwa Pressefreiheit, wie sie im Grundgesetz verankert wird, lehnen sie ab – geht man vom Bepöbeln von Pressevertretern aus oder Flaggen, auf denen das Ende von ARD und ZDF gefordert wird.

GREINER Es geht meist um quasireligiöse Begriffe wie Wahrheit, Liebe, Freiheit. Aber was mit Freiheit genau gemeint ist, bleibt im Dunkeln. Anstatt realpolitisch und konsensdemokratisch zu argumentieren, gibt es eher sakrale und vage  Begrifflichkeiten.

Wie wichtig war für Szene die Regentschaft Donald Trumps? Hat er das Ignorieren von Fakten, die Wissenschaftsfeindlichkeit und das Propagieren von Verschwörungstheorien quasi von hoher Warte vorgelebt?

GREINER Er hat viel ausgelöst. Trump ist innerhalb der QAnon-Bewegung, die behauptet, eine ominöse Weltelite halte Kinder gefangen, um aus ihrem Blut ein Verjüngungsserum zu gewinnen, eine messianische Gestalt. Die Anhänger der Bewegung, die besonders in Berlin bei den Demos stark vertreten ist, glauben, dass alles was Trump tat, im Sinne eines großen Schlages gegen diese Verschwörung sei. Und manche glauben, dass Putin da jetzt weitermacht. Das ist eine ganz merkwürdige apokalyptisch-sakrale Geschichte.

Bei einer Demo in Deutschland warnte eine Plakatträgerin, „die Ukraine-Angst“ solle nur „die schwindende Corona-Angst“ ablösen: „Lasst Euch nicht verarschen!“ Da fällt einem nicht mehr viel ein.

GREINER Ich glaube, dass viele Menschen auch einfach überfordert sind, weil die Situation so gefährlich und komplex ist. Ich glaube auch, dass bei der Bewegung viele Leute dabei sind, die nicht so richtig wissen wohin. Es sind viele Unzufriedene, Gekränkte. Viele von ihnen sind wohl so massiv verunsichert, dass sie glauben, in einer komischen Bewegung mitlaufen zu müssen – wo Selbstreflexion sicher sinnvoller wäre.

Wie ist Ihre Prognose: Werden die Querdenker-Demos kleiner werden oder gar aufhören, wenn die Corona-Maßnahmen zurückgefahren werden und wir langsam in die vielbeschworene „Normalität“ zurückkehren?

GREINER Ich könnte mir vorstellen, dass die Teilenehmerzahlen sinken, die Leute aber noch mehr abseits von Corona in eine verschwörungstheoretische Staatsfeindlichkeit hineingeraten. Da wird ein harter Kern bleiben, der sich neue Themen sucht und es schaffen wird, die mit ihren Theorien zu verknüpfen – siehe den Krieg in der Ukraine. Ihre Verschwörungstheorien sind wie eine Folie, die man über alles drüberlegen kann.

Steffen Greiner: Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern.
Tropen Verlag, 263 Seiten, 20 Euro.

„Moleküle der Erinnerung“ von Andrea Segre

Zu Beginn treten sich die Touristen noch auf die Füße, fließen wie eine Welle des Fremdenverkehrs durch die Gassen Venedigs und werden quer über den Markusplatz gespült. Doch einige Filmminuten später ist Venedig eine ganz andere Stadt, wie in einer anderen Welt. Menschenleer, still, wie im Winterschlaf – Venedig im Corona-Lockdown. Denn als Regisseur Andrea Segre zu Dreharbeiten nach Venedig reist, gerät er in die Pandemie und sitzt von Februar bis April 2020 fest.

Eigentlich wollte er sich dokumentarisch mit dem Tourismus in der Stadt beschäftigen, so aber ist mit „Moleküle der Erinnerung“ ein ganz anderer Film entstanden, der nebenbei „Venedig, wie es niemand kennt“ zeigt, wie der zweite Teil des deutschen Titels verheißt. Dabei belässt es Segres Werk aber nicht bei eindrücklichen Bildern von einer in dieser Form unbekannten Lagunenstadt, es will auch kein filmisches Corona-Tagebuch sein – auch wenn es durchaus ein Stück Zeitdokument aus der Pandemie ist. „Moleküle“ ist eine sehr eigene und reizvolle Verbindung von Außenwelt und Innenleben, von Stadtporträt und Blick auf die eigene Geschichte.

 

Denn der früh gestorbene Vater des Regisseurs kam aus Venedig, hat die Stadt immer geliebt; diese Faszination konnte der Sohn nie ganz nachvollziehen – heimelig war Venedig für ihn nie. Segre, mit anderen filmischen Plänen angereist, aber nun im Lagunen-Lockdown,  spürt dem Leben und auch dem Tod des Vaters nach. Der war zwar liebevoll, hat stets aber eine gewisse Distanz zum Sohn gehalten, war oft mit sich beschäftigt – womöglich kein Wunder, litt er doch seit seiner Kindheit an einer Herzkrankheit und war sich bewusst, dass die ihn möglicherweise früh und ohne Vorwarnung umbringen wird.

Diese lebenslange, wenn auch nicht lieblose Distanz schmerzt den Sohn bis heute – doch das lässt er nicht in eine filmische Nabelschau münden, macht kein Befindlichkeitskino. Sein Film wirkt wie ein freischwebender Essay, er verbindet die Bilder des leeren Venedig mit alten Super-8-Aufnahmen des Vaters aus der Stadt der 1960er Jahre, mit vorgelesenen Briefen zwischen Sohn und Vater, Familienfotos und den Gedanken des Filmemachers aus dem Off. Wie ging sein Vater sein Leben an, von dem er wusste, dass es kein langes sein würde? Was bleibt, wenn wir sterben? Sind wir mehr als reine Materie? Und hat der Vater etwas geahnt, als er sich einen Tag frei nahm, um den mit seinem Sohn zu verbringen? Denn dies war die letzte gemeinsame Zeit der beiden.

Leben, Tod, Venedig und Tourismus

Parallel dazu streift Segre durch Venedig, sammelt Eindrücke; er spricht mit einem Fischer, der seine Arbeit als nahezu heiliges und meditatives Ritual empfindet, begleitet weibliche Gondoliere, die endlich einmal in Ruhe auf dem Wasser ihre Kreise ziehen können, jenseits der üblichen Touristen-Invasion – in der Stadt standen sich, vor Corona, 40 000 Bewohner Touristen in jährlich zweistelliger Millionenhöhe gegenüber. Nicht immer bringt Regisseur Segre diese Erzähl- und Gedankenstränge elegant in Einklang, da gibt es einige Brüche zwischen Familien- und Stadtgeschichte, zwischen Historie und Philosophie. Dennoch ist „Moleküle der Erinnerung“ ein faszinierender Film, der in aller Ruhe aber ohne Längen dahinfließt, während Segre auf der Tonspur sich sonor raunend Gedanken macht über Leben, Tod, Venedig und Tourismus. Dass er die selbst gestellten Lebensfragen nicht beantworten kann und das gerne zugibt, spricht nicht gegen ihn. Das Leben an sich ist eben, stellt Segre fest, so wie der abendliche Nebel in Venedig: ein wissenschaftlich erklärbares Phänomen, zugleich aber doch rätselhaft.

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