Über Film und dieses & jenes, von Tobias Keßler

Schlagwort: Film

„Petrov’s Flu“ von Kirill Serebrennikov

"Petrovs Flu"

Petrova (Chulpan Khamatova) auf der Jagd.   Foto: Farbfilm Verleih

 

Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov hat einen wahnwitzigen Film über seine Heimat gedreht: „Petrov’s Flu – Petrovs Grippe“.

Donnerlittchen, was für ein Film. Viel Wahl lässt einem „Petrov’s Flu – Petrovs Grippe“ nicht: Entweder wird einem dieser rastlose, überbordende Film an und auf die Nerven gehen. Oder man lässt sich mitnehmen von diesem reißenden Bewusstseinsstrom der grotesken Bilder und der bizarren Ideen. Wie auch immer, nach den 145 Minuten wird man in jedem Fall gerne erst mal frische Luft schnappen wollen – genau so wie jene vermeintliche Leiche im Film, die aus einem Sarg steigt, in diesem knallbunten Personal-Panoptikum damit aber nicht einmal als besonders ungewöhnlich auffällt. Irgendwann wundert man sich über nichts mehr.​​

Inszeniert hat das der russische Bühnen- und Filmregisseur Kirill Serebrennikov, 53, ebenso international preisgekrönt wie verhasst beim Putin-Regime in Moskau und der russisch-orthodoxen Kirche. Die protestierte etwa gegen seine Ballett-Inszenierung über den legendären Tänzer Rudolf Nurejew (1938-1993), der homosexuellund in den Westen geflüchtet war. Serebrennikow inszenierte unter anderem am Bolschoi-Theater und war ab 2012 künstlerischer Leiter der Moskauer Avantgarde-Bühne „Gogol- Zentrum“; das wurde 2017 von Strafverfolgungsbehörden durchsucht, ebenso wie Serebrennikows Wohnung. Der Vorwurf: Veruntreuung von Staatsgeldern, ein Vorwurf, den der Regisseur als „irrsinnig“ bezeichnete. Serebrennikow wurde im August 2017 verhaftet, im Juni 2020 zu einer dreijährigen Haft auf Bewährung verurteilt.​

Ein Bus voller Volkszorn

Es überrascht nicht, dass der Regisseur in „Petrov’s Flu“ Russland in dunklen Farben zeichnet. Nach der literarischen Vorlage, Alexei Salnikows „Petrov hat Fieber. Gripperoman“ (verlegt bei Suhrkamp), erzählt der Film vom Comiczeichner/Autor/Autoschlosser Petrov, der zu Anfang in einem Bus unterwegs ist. Draußen rieselt leise der Schnee, innen wird laut gehustet (vor allem von Petrov), gerempelt und gemault – nicht zuletzt über den Zustand des Landes. „Gorbatschow hat das Land verkauft, Jelzin hat es versoffen“, heißt es da; zu dieser Kurzanalyse des postsowjetischen Russlands gesellen sich noch Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Dieser Bus voll brodelnden Volkszorns hält an, Petrov wird herausgeholt, Männer drücken dem Hustenden und Torkelnden eine Kalaschnikow in die Hand – er muss mal eben bei der Hinrichtung einer gut gekleideten Abendgesellschaft mitschießen. Deren Forderung nach einer ordentlichen Verhandlung wird durch einen kurzen Feuerstoß abgerissen, Petrov darf zurück in den Bus, weiter geht die Fahrt.​

Träumt Petrov? Oder suchen ihn Erinnerungen heim? Oder durchdämmert und durchschwitzt er längst einen wahnwitzigen Fiebertraum – mit uns an seiner Seite? Wie auch immer: Technisch ist das virtuos gemacht, mit einer minutenlangen Einstellung ohne Schnitt (oder ohne sichtbaren Schnitt), die einen unweigerlich und unmittelbar mit ins Geschehen hineinzieht. Serebrennikow gibt bei seinen langen Sequenzen nur selten Signale (oder Warnungen), wenn er uns auf unerwartete Erzähl-Ebenen lockt.​

Prügelei im Lyrik-Zirkel

Weiter geht es in eine öffentliche Bibliothek, in der Petrovs Frau Petrova arbeitet. Sie wundert sich über einen männlichen Kunden, der sich erst Bücher über den Marquis de Sade leiht, dann über Konzentrationslager und dann über Gynäkologie; nebenan tagt ein Lyrikzirkel, bei dem sich die Diskussion über Versrhythmen in eine Schlägerei hineinsteigert. Da werden Petrovas Augen nachtschwarz, den aggressivsten Diskutanten verprügelt sie, bis Blut auf die Lyrikbände spritzt. Realität? Oder Gewaltfantasien einer äußerlich eher stillen Bibliothekarin? Steht hier ein ganzes Land vor dem kollektiven Nervenzusammenbruch?​​

Es bleibt undurchsichtig, wenn der Film uns zwischendurch und erstmal unmerklich in die Handlung eines Romans führt, den Petrov bei einem Verlag unterzubringen versucht; später engt sich das sehr breite Format der Filmbilder rechts und links ein, mutmaßlich bei Erinnerungen Petrovs an seine Jugend, im letzten Filmdrittel wird es schwarzweiß für eine weitere Geschichte mit Bezug zu Petrov, in der sich Serebrennikov mit einem gewissen Genuss auch über das eigene Metier lustig macht: Da probt eine Theatertruppe mit großer Künstlergeste, als bringe sie Tschechovs Gesamtwerk auf die Bühne – letztlich geht es um Kinderbespaßung.​​

In dieser buchstäblich fiebrigen Gesellschafts-Groteske verbinden sich schwarzer Humor mit Melancholie und Traurigkeit, Resignation angesichts der gesellschaftlichen Zustände mit einem gewissen Trotz der Hoffnung. Alles wirkt muffig und ranzig, die Welt (beziehungsweise Russland) ist, wenn denn mal die Sonne scheint, meist graubraun. Dass ein Film wie dieser in Russland entstehen konnte, überrascht schon – allerdings als Koproduktion mit Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Ein Werk wie eine Antithese zum „Arthouse-Wohlfühlfilm“ – eine enorme filmische Erfahrung.​

„Das Leben ein Tanz“ von Cédric Klapisch – gibt es ein Leben nach dem Tutu?

Élise (Marion Barbeau) vor dem letzten Auftritt als Ballerina. Foto: Studiocanal  

Élise (Marion Barbeau) vor dem letzten Auftritt als Ballerina. Foto: Studiocanal  

Das schmerzhaft laute Krachen im Knöchel ist ein Schock – nach so viel Wohlklang, nach so viel Anmut, nach so viel wallenden Tutus. Erst einmal nimmt uns der Film, was man sich trauen muss, eine knappe Viertelstunde lang dialogfrei mit zu einer klassischen Tanzaufführung von „La Bayadère“. Die fließende Bewegung der Kamera führt hinter und auf die Bühne, zeigt die junge Elise beim Tanzen, beim Warten auf den nächsten Einsatz, beim Nachschminken der Garderobe.

„Entweder das – oder Sie tanzen nie wieder“

So mitreißend beginnt „Das Leben ein Tanz“, als Zelebrierung von Bewegung und Körperkunst – bis zu jenem falschen Auftreten von Elise nach einem großen Sprung. Die Knöchelverletzung verändert das Leben der Künstlerin auf einen Schlag; zugleich ist ihr Freund, ebenfalls beim Ballett, gerade aus ihrem Leben getänzelt, konnte sie ihn doch hinter der Bühne turteln sehen – just vor ihrem fatalen Sprung. Eine lange Tanzpause soll Elise nun einlegen, sagt ihre Ärztin, „entweder das – oder Sie tanzen nie wieder“. Für das hoffnungsvolle Talent ist der lange gehegte Lebenstraum erst einmal vorbei. Für die Erschütterte ist ihr Vater nicht die stabilste Stütze, hatte er ihr doch immer ein Jurastudium statt einer Tanzkarriere nahegelegt. Er ist ein Mann der vielleicht liebevollen Distanz, aber eben doch der Distanz. Und die Mutter, die Elise einst zu den Ballettstunden brachte, ist schon vor einigen Jahren gestorben.

Es geht in die Bretagne

Was tun – wenn man nicht mehr das tun kann, was man liebt? Elise verlässt Paris, um zur Ruhe zu kommen, und arbeitet bei einem Foodtruck einer alten Ballettkollegin: In der Bretagne schält sie Gemüse für eine Compagnie, die in einer Mischung aus Schlösschen und ländlichem Kulturzentrum zeitgenössischen Tanz probt. Leicht ist es nicht für sie, den Kolleginnen und Kollegen zuzuschauen, ohne selber tanzen zu können; doch sie findet Freundinnen, Freunde, eine neue Liebe – und möglicherweise einen Weg aus ihrer Krise.“

„Die Rumba-Therapie“ von Frank Dubosc

„Das Leben ein Tanz“ ist ein sehenswerter Film, denn die exzellente Machart triumphiert über den simplen Plot. Problemlos könnte man die Geschichte der gestrauchelten Tänzerin, die sich wieder hochrappelt und das Glück findet, nach Hollywood transportieren – als hochkommerzielles Tanz-Selbstfindungs-Melodram mit aufbauenden „Lebe Deinen Traum“-Dialogen. Der große Reiz von „Das Leben ein Tanz“ liegt nun darin, dass Regisseur Cédric Klapisch („L’Auberge Espagnole“, „So ist Paris“) eine potenziell kitschige Geschichte nahezu unkitschig auf die Leinwand bringt. Nicht zuletzt dank seiner jungen Hauptdarstellerin Marion Barbeau, Jahrgang 1991, seit 2018 Erste Tänzerin des Balletts der Pariser Oper. In ihrer ersten Filmrolle zeigt sie eine frische Natürlichkeit und trägt den Film mit ihrer Darstellung – und eben mit ihrer Tanzkunst. Anders als in vergleichbaren Filmen muss der Regisseur für die Bühnenszenen kein Double einsetzen, ein großer Gewinn.

Die zeitgenössische Tanzcompagnie im Film ist eine reale – die des Choreografen und Komponisten Hofesh Shechter, was dem Film eine gewisse Authentizität mitgibt, auch wenn Regisseur und Co-Autor Klapisch, der es seinem Publikum nicht unnötig schwer machen will, Begleiterscheinungen von Bühnenarbeit ausblendet: Hier gibt es keine Rivalität, keine geblähten Egos, keine Eifersüchteleien. Die Künstlerinnen und Künstler lieben vor allem den Tanz, genau wie der Regisseur, der ihn in einigen mitreißenden Szenen einfängt. Zwischendurch diskutiert die Truppe, ob das klassische Ballett nicht von gestern sei, ob man Tutus endgültig einmotten sollte. Die Antwort darauf ist die wundersame Szene eines klassischen Tanzes in der Küche, zwischen dem Herd und frisch geschältem Gemüse.

Manche Gefühlswirren wirken dramaturgisch etwas unterentwickelt, etwa wenn Elise umgehend und nahezu dialogfrei eine neue Liebe findet; oder wenn sie das etwas distanzierte Verhältnis zum Vater angeht, der ihr, wie sie ihm vorwirft, nie gesagt habe, dass er sie liebt. Das wäre blanker Arthouse-Kitsch, wäre es von Marion Barbeau und Dénis Podalydès nicht so gut gespielt. Der Vater wird aller Distanz zum Trotz noch eine Träne vergießen, wenn der Film mit einer grandiosen Ausdruckstanz-Sequenz endet. „Das Leben ein Tanz“ ist ein Liebesbrief an den Tanz, egal ob klassisch und modern – und zugleich ein Wohlfühlfilm, der einem die Gefühligkeit nicht aufdrängt.

DVD bei Studiocanal.

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