Saint Omer

Famose Darstellung: Guslagie Malanda als angeklagte Mutter. Foto: Grandfilm

 

Wie erklärt man das Unerklärbare? Man kann es nicht. „Saint Omer“ gibt auch nicht vor, es zu können, aber er umkreist es, beobachtet es aus vielen Perspektiven. Der Film basiert auf einem wahren Verbrechen: 2013 legt Fabienne Kabou ihre kleine Tochter in Berck-sur-Mer bei steigender Flut am Strand ab und lässt sie allein. Das Kind ertrinkt. Beim Prozess spricht sie von Hexerei durch ihre Verwandten aus dem Senegal. Psychologische Gutachter vermuten Paranoia, attestieren postnatale Depressionen, halten Kabou aber für schuldfähig. Sie wird zu 20 Jahren Haft verurteilt, verbunden mit psychologischer Behandlung.

Autobiografische Rahmenhandlung

Die französische Filmemacherin Alice Diop hat den Prozess 2016 in Saint Omer als Zuschauerin begleitet und auf dessen Basis ihren ersten Spielfilm gedreht. Die Dialoge der Prozess-Szenen stammen aus der realen Verhandlung. Aber Diop hat, zusammen mit den Ko-Autorinnen Amrita David und Marie Ndiaye, eine stark autobiografische Nebenhandlung verfasst. Rama, eine schwarze Literatur-Professorin aus Paris, reist nach Saint Omer, um über den Prozess eine Reportage zu schreiben, weil sie persönliche Parallelen sieht: Sie ist schwanger von ihrem weißen Lebenspartner – auch die ermordete Tochter der schwarzen Angeklagten hat einen weißen Vater. Das Verhältnis Ramas zu ihrer Mutter ist nahezu zerrüttet, so wie es auch zwischen der Angeklagten und ihrer Mutter war.

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Ramas Leben und Arbeit, darunter eine Vorlesung über Marguerite Duras‘ Drehbuch zu „Hiroshima mon amour“, werden in knappen, prägnanten Szenen dargelegt, bevor sich die Handlung erstmals in den Gerichtssaal verlagert – zu einer intensiven halbstündigen Sequenz. Die Angeklagte, hier heißt sie Laurence Coly, wird zu ihrem Leben befragt, schildert ihre Jugend im Senegal, die dominante Mutter, die ihr Kind dazu drillt, nichts anderes als Französisch zu sprechen; den Umzug nach Paris, um „den Eltern zu entkommen“ und um eine akademische Karriere zu beginnen; die Beziehung zu einem deutlich älteren Mann, der noch verheiratet ist, Laurence für den Geburtstag der Gattin kochen, sie aber nicht mitessen lässt. Der befragte Mann zeichnet das in seiner Aussage ganz anders, erzählt von Colys Aggression, Wutausbrüchen. Den Tod der Tochter beschreibt die Angeklagte anfangs wie eine Unbeteiligte: Sie hoffe nun durch das Verfahren, das Ganze zu verstehen, sie sei nicht „die wirklich Verantwortliche“.

Filmische Zurückhaltung

Die erschütternden Aussagen zeigt „Saint Omer“ mit Klarheit und Zurückhaltung. Die Kamera ist nahezu statisch, konzentriert sich auf die Gesichter. Hier wird kein Klischee des Gerichtsfilms bemüht, geht es doch nicht um eine Erklärung. Diop stellt, ausgehend von der Täterinnen-Biografie,  Fragen nach Weiblichkeit, kultureller Identität, Alltagsrassismus, Spätfolgen des Kolonialismus und vor allem der Mutterschaft.

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In einigen wenigen Momenten droht das Prätentiöse: Die Verweise auf Marguerite Duras, auf den Medea-Mythos, dessen Pasolini-Adaption mit Maria Callas, auf französische Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Kollaborateure kahl geschoren wurden, wirken etwas bemüht. Und doch ist dies ein vielschichtiger, enorm kraftvoller Film, der zur Diskussion danach zwingt.