Film und dieses & jenes, von Tobias Keßler

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„SS-GB“ – England unter dem Hakenkreuz

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Superintendent Douglas Archer (Sam Riley) und sein Kollege  Harry Woods (James Cosmo). Foto: Polyband

 

Der BBC-Mehrteiler  „SS-GB“ erzählt – nicht immer gelungen – von einem  England des Jahres 1941, das von den Nazis besetzt ist.

Flaggen mit Hakenkreuzen flattern im winterlichen London, der Buckingham Palace ist halb zerbombt, und bald begeht  man  die große „Woche der deutsch-russischen Freundschaft“. Es ist November 1941: Vor 14 Monaten haben die Nazis die Luftschlacht gewonnen und England besetzt – das britische  Flugzeug des legendären Typs „Spitfire“, das am Anfang dieses Mehrteilers in London landet, ist eines der letzten seiner Art. Jetzt fliegt man mit Messerschmitt und Junkers.

1978 erschien der Roman „SS-GB“ von Len Deighton; der Londoner Autor, der in seinen „Harry Palmer“-Romanen das Agentengenre gegen den Strich bürstete, spekuliert hier, was hätte sein können, hätte England dem Angriff Deutschlands nicht standgehalten. Aus dem Roman haben nun die Drehbuchautoren Neal Purvis and Robert Wade (Bondfilme „Skyfall“, „Spectre“) einen Mehrteiler für die BBC geschrieben, den – ungewöhnlich ist das schon – ein deutscher Regisseur inszeniert hat: Philipp Kadelbach, dessen Weltkriegs-Saga „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013) international erfolgreich war. „SS-GB“ nun ist eine interessante Serie, bleibt aber oftmals unter den Möglichkeiten, die ihre Plot-Prämisse bietet.

Im Mittelpunkt steht der Scotland-Yard-Polizist Douglas Archer (Sam Riley), der wegen seiner Ermittlungserfolge einen legendä­ren Ruf genießt und nach der Besetzung äußerlich problemlos unter SS-Führung weiterarbeitet. Die britische  Widerstandsbewegung, die immer wieder Anschläge verübt, sieht er kritisch. „Wir sind unpolitisch“ ist Archers Überlebensmotto, er will ein stabiles London bewahren, für die Zeit, wenn das Land befreit ist.

Archer hat sich also mit den Verhältnissen arrangiert – bis ein scheinbarer Routinemordfall weite Kreise zieht und auch Ermittler in Berlin alarmiert: Um brisante Daten geht es, um Pläne für eine Atombombe und den Versuch des Widerstands, Amerika als Alliierten zu gewinnen. Sich aus allem herauszuhalten, fällt Archer immer schwerer – zumal er eine Affäre mit einer US-Journalistin beginnt, die durchaus eine Agentin sein könnte. Rätselhaft ist auch der eisige Offizier Oscar Huth (Lars Eidinger), der aus Berlin anreist, die Ermittlungen leitet und damit auch Archers Vorgesetztem, dem scheinbar jovialen SS-Mann Kellermann (Rainer Bock) ein Dorn im Auge ist.

 

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Lars Eidinger als  Oskar Huth. Foto: Polyband

Ein großes Tableau breitet die aufwändige Serie aus, mit einem graubraunen London und germanisch gelben statt britisch roten Telefonzellen, mit „Großdeutsches Reich“-Briefmarken (Hitler-Konterfei inklusive) und einer originellen Idee: Deutschland lässt Karl Marx in London exhumieren, um den Leichnam den russischen Freunden zu kredenzen – der Widerstand zündet just dort, im Sarg, eine Bombe.

Spannend und wendungsreich ist diese Mischung aus Polit-Spekulation und einer Selbstfindungsgeschichte – aber bisweilen stolpert die Geschichte. Wenn der erfahrene Ermittler merkwürdig blauäugig agiert oder seine tragische Biografie (Frau und Kinder starben bei einem Bombenangriff) klischeehaft pflichtschuldig in den Dialog eingeflochten wird. Hauptdarsteller Sam Riley wirkt zudem sehr blass und raunt im Originalton so ominös, dass man ihn kaum versteht (was auch bei der Austrahlung in England kritisiert wurde). Ärgerlich, dass die DVD keine Untertitel hat, man hätte sie gebraucht.

Während Riley und auch Kate Bosworth als US-Journalistin oft wie merkwürdige Leerstellen wirken (inklusive blutleere Romanze), sind die Nebenrollen durchweg gut besetzt, etwa mit Ronald Zehrfeld und August Zirner als Wehrmachts-Offiziere. Die schillerndste und interessanteste Figur ist der Ehrgeizling Huth, den Lars Eidinger mal eisig arrogant und diabolisch wirken lässt, mal wie einen kleinen Jungen in großer Uniform mit Vaterkomplex. „Ich mag Gewinner“, sagt er, „und Nazis sind Gewinner“. Subtile Sätze sind das nicht, aber es ist wie immer eine Freude, Eidinger zuzusehen. Nur der Abgang seiner Figur, so viel muss verraten werden, ist mehr als zwiespältig. Da beschwört der Film ein pathosgetränktes, kerniges Heldentum (wofür auch „Unsere Mütter, unsere Väter“ des Regisseurs Kadelbach kritisiert wurde): Eine Augenbinde beim Erschießungskommando, so wirkt das im Film,  ist eben nur etwas für Weichlinge, nichts für schneidig Gescheitelte. Zumindest diese Szene kann einem übel aufstoßen.

Als DVD und Blu-ray bei Polyband.

 

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Schlecht, und doch gut: „Marseille“ mit Gérard Depardieu

 

Gerrad Dépardieu als Bürgermeister von Marseille. Fotos: Polyband Marseille mit Gérard Depardieu

Gérard Dépardieu als Bürgermeister von Marseille. Fotos: Koskas/Netflix/Polyband

Marseille scheint ein Dorf zu sein – zumindest in dieser französischen Serie. Nun sind ja nicht wenige Film- und Seriendrehbücher dramaturgisch förmlich am Reißbrett konstruiert. Aber man sollte es ihnen nicht anmerken. Aber in „Marseille“ kommt es filmisch dann mitunter knüppeldick. In einer Szene werden beispielhaft alle losen Drehbuchfäden miteineinander verknüpft, dass die Episode filmisch fast stolpert. Also:  Da kauft ein Mann in einer Kneipe eine ordentliche Portion Koks – so weit nichts gänzlich Ungewöhnliches. Der Käufer aber ist der Chauffeur/Berater des Marseiller Bürgermeisters (Gérard Depardieu), der gerade unter anderem mit der Mafia im Clinch liegt, da er ein Casino mit legalem Glücksspiel am Hafen plant. Der Verkäufer des Kokains ist im Nebenberuf allerdings auch Handlanger eben jener  Mafiosi, die wiederum mit des Bürgermeisters politischem Ziehsohns (Benoit Magimel) unter einer Decke stecken, der gerade den politischen Tod des Mentors plant. Der Handlanger des Dealers, der bei dem Drogenkauf dabei ist, ist  wiederum ein alter Kindheitsfreund der Bürgermeistertochter (und in sie, auch das noch,  unglücklich verliebt). Deren beste Freundin wiederum arbeitet im Wahlkampfbüro des Bürgermeister-Gegenspielers, der unter anderem den homosexuellen Chef der örtlichen Zeitung umgarnt, wo wiederum die Bürgermeistertochter arbeitet, aber unter falschem Namen, damit ihre Identität nicht bekannt wird.

Mies geschrieben, dennoch sehenswert

Also viel „wiederum“, „zugleich“, viele dramaturgisch bequeme Zufälle: „Marseille“, die erste französische Eigenproduktion des Streaming-Anbieters Netflix,  ist zweifelsohne eine mies geschriebene Serie. Zumal sie zwei ziemlich dümmlich-naiv-erotisierte Frauenrollen aufbietet und noch ein paar familiäre Verwicklungen bereit hält, die hier nicht verraten werden sollen und die sich ein Drehbuchautor erstmal trauen muss.

 

Gerrad Dépardieu, Marseille. Fotos: Polyband Marseille mit Gérard Depardieu

Der politische Ziehsohn und große Gegenspieler (Benoit Magimel).

Nur – warum ist es trotzdem ein ziemlich großer Spaß, sich die Serie anzusehen (auch wenn man sich für den Spaß etwas schämt?) Von dem französischen und ungleich raffinierteren Serien-Konkurrenten „Baron Noir“ (kürzlich hier vorgestellt) oder „House of Cards“ ist „Marseille“ meilenweit entfernt; die Reihe liegt viel näher an „Dallas“, der klassischen  Seifenoper der 80er Jahre, einem wohlig überschaubaren, aber auch etwas miefigen  Intrigantenstadl. Der große Reiz von „Marseille“ ist, nicht ganz überraschend, sein Hauptdarsteller: Gérard Depardieu, der gallische Wuchtbrummer, räumt mit seiner Präsenz alle Drehbuchhindernisse aus dem Weg, Klischees walzt er wie eine schnaufende Lokomotive platt und erschafft auf deren Trümmern, eine plastische, tragisch anmutende Figur. Ein Engel im Polit-Betrieb ist er nicht (wie könnte er das sein, nach 20 Jahren  als Bürgermeister?), aber an alten Überzeugungen hält er ebenso fest wie an der Zuneigung zum Arbeitsplatz („Verdammt, wie ich diese Stadt liebe“). Dennoch ist er nicht ganz unschuldig daran, dass sein politischer Ziehsohn ihn abservieren will – hatte der Bürgermeister doch geplant, auch aus der Rente heraus über ihn, seinen geplanten Nachfolger, mit- und weiter zu regieren. Den Gegenspieler, sozusagen den „J.R.“ („Dallas“-Kucker erinnern sich) spielt Benoit Magimel und zeigt sich Depardieu aufAugenhöhe. Magimel ist von seinen Zusammenarbeiten mit Michael Haneke („Die Klavierspielerin“) oder Claude Chabrol („Die Blume des Bösen“) bessere Drehbücher gewohnt, aber er wirft sich mit Schwung in die Rolle eines Mannes, der sich  höchst konsequent der Machtmechanik widmet, Sex ingebriffen (bevorzugt auf betont unromantische Weise). Und doch treibt auch ihn die Zuneigung zur Stadt an, die der amtierende Bürgermeister in seinen Augen „nicht mehr versteht, er ist zu alt“. Dass er seinen großen Mentor politisch absägen will, ist für ihn nur logisch: „Es ist Vatermord – das ist ganz normal“.

Erschienen bei Polyband, 326 Minuten.
Die zweite Staffel ist in Vorbereitung.

http://www.polyband.de

 

Marseille mit Gérard Depardieu Benoit Magimel

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