Über Film und dieses & jenes

Monat: April 2017

„Vilnius“, das erste Album von Tom Schilling

Tom Schilling, fotografiert von Stefan Klüter.

„Diesen Namen muss man sich merken“, rät das Infoblatt der Plattenfirma. Aber man kennt man ihn doch schon längst: Schauspieler Tom Schilling, 35, trat als Jugendlicher am Berliner Ensemble auf, wurde 2000 mit der Literaturverfilmung „Crazy“ bekannt, spielte in „Elementarteilchen“ und zuletzt im Stasi-Spionage-Mehrteiler „Der geteilte Himmel“.
Sein vielleicht größter persönlicher Erfolg bisher ist „Oh Boy“, ein Film über das Dahindriften , das Abhängen, das Versacken. Der Film spielt keine kleine Rolle für Schillings Debüt als Musiker: Die Band Major Minors hatte 2012 unter dem Namen The Jazz Kids die Musik zu „Oh Boy“ aufgenommen und Schilling freundete sich mit den Musikern an, die nun seine Begleitcombo auf dem Album ist. „Vilnius“ heißt es und wird sich erst einmal gegen „Jetzt singt er auch noch“-Reflexkritiken durchsetzen müssen. Das könnte gelingen, auch wenn die ersten Kritiken nicht nur wohlwollend sind: einen „Kneipenfolk-Versuch“ etwa nennt der „Musikexpress“ das Album mit seinen zehn Stücken, von denen Schilling neun getextet und acht komponiert hat. Viel Liebeskummer und Melancholie ziehen sich durch die Texte, in denen Schilling gerne große Bilder malt, mit Mond, Schnee, Himmel, Sternen, Schatten und Licht, Morgenrot und Abendhauch.

 

Ein Gemälde von Gerhard Richter schmückt das Album-Cover.

 

Das kann manchmal prätentiös wirken, aber Schilling hebt das mit manchen drolligen Zeilen wieder auf, wie „Dann greif ich A-Moll – das Klavier ist verstimmt / Ich bin es wohl auch“. In der Single „Kein Liebeslied“, einem dahinratternden Chanson, besingt er freudig den Auszug der ehemaligen und wohl selten wahrheitsgetreuen Herzensdame – jetzt wird erst einmal die Wohnung geputzt, um ihre letzten Spuren zu tilgen.

Die Band spielt dazu eine Musik, die entgegen ihres Namens mit Jazz nichts zu tun hat: eher mit manchmal luftigen, manchmal rauen Klängen irgendwo zwischen rumpeligen Rock mit Nick-Cave-Aroma und Chanson. Das füllt auch die schwächeren Stücke mit einiger Spannung. „Ein Junge“ etwa mit etwas ungelenker Sentimentalität („Eine Träne tropft aufs Abendbrot“) erfreut mit einer satt vor sich hinschnaubenden Hammond-Orgel, das Liebeslied „Schwer dich zu vergessen“ mit schönen Streichern. Die Geister dürften sich am ehesten an der Ballade „Ja oder nein“ scheiden – dieses Duett mit der hier besonders kinderstimmigen Annett Louisan kann man als große Schnulze empfinden (als hätten sich Roy Black und Anita wiedervereint) – oder als herrlich gefühlige Pop-Perle. Keine kleine Leistung ist, wie Schilling und Band hier mit Bettina Wegners „Kinder“ umgehen. Da der Text um kleine Hände und kleine Seelen ohnehin aussagekräftig genug ist, singt ihn Schilling nicht tränenschwer, sondern eher gefühlvoll, aber pathosfrei  – und lässt ihn umso stärker wirken.

 

Tom Schilling & The Jazz Kids: Vilnius.
(Embassy of Music/Warner & Zebralution).

Konzerte in der Nähe:
8. Mai Heidelberg, 9. Mai Frankfurt.

 

Herz der Finsternis: „Taboo“ mit Tom Hardy

 

Eine Gnade, dass es noch kein Geruchsfernsehen gibt. Denn dieses London stinkt nicht nur gesellschaftlich zum Himmel. Metzger verwursten Gedärme am Straßenrand, manche Dialoge finden am Urinal um die Ecke statt, und fast jeder Figur wünschte man eine warme Dusche mit einem gerüttelt Maß Seife. Der TV-Mehrteiler „Taboo“, der bei amazon zu sehen ist und jetzt auch als DVD/Blu-ray erscheint, lässt atmosphärisch nichts aus, um tief hineinzuführen in die britische Metropole des Jahres 1814.

Dorthin kehrt der Abenteurer James Keziah Delaney (Tom Hardy) zurück. Zehn Jahre war er in Afrika für die (all)mächtige Londener „East India Company“, und ein Ruf wie Donnerhall eilt ihm voraus: Ein Monster soll er sein, gewalttätig und so wahnsinnig, wie es sein zuletzt Vater war, zu dessen Beerdigung Delaney in die alte Heimat zurückkehrt. Erfreut darüber ist fast niemand – immerhin aber seine Halbschwester Zilpha (Oona Chaplin, die Enkelin von Charles), wobei deren Verhältnis über ein rein platonisches einmal hinausgegangen zu sein scheint. Delaneys Vater hinterlässt dem Sohn nur eines: einen scheinbar wertlosen Zipfel Land in Nordamerika. Den will ihm die „East India Company“ verdächtig schnell abkaufen, doch Delaney besitzt Weitblick: Er ahnt, dass dieser Fleck einmal von handelsstrategisch höchster Bedeutung sein wird, sobald der Krieg zwischen den USA und England vorbei sein sollte. Delaney geht auf kein Angebot ein, und so greift die Handelsgesellschaft zu rabiaten Mitteln – ein erster Mordanschlag schlägt fehl.

 

 

Darsteller Tom Hardy hat diese Reihe zusammen mit seinem Vater Chips konzipiert, finanziert und den Plot (Drehbuch: Steven Knight, „Peaky Blinders“)  bis zum Rand gefüllt mit Inspirationen: Charles Dickens, Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, Gangsterfilme, Horror, Batman (der Held und sein Butler), „Les misérables“, Kolonialismus- und Kapitalismuskritik. Hier ist alles drin, weswegen manche Kritiker „Taboo“ Maßlosigkeit vorgeworfen haben. Doch das ist kleinlich angesichts dieses düster schimmernden Gesellschaftsporträts, den erzählerischen Verzweigungen, dem kunterbunten Personal (darunter Franka Potente als Puffmutter und Jonathan Pryce als Strippenzieher) und der erdrückenden Atmosphäre, die der Film optisch meisterhaft einfängt.

 

 

Hardy, ohnehin ein fast immer packender Schauspieler, steht hier ganz im Zentrum und kommt wie eine Naturgewalt über Londons Gassen: Ein Racheengel mit schwarzem Staubmantel wie aus einem Western, mit Tatöwierungen und mit dem Hang, seine meist kurzen Sätze gefährlich zu knurren – und gequält von Erinnerungen an Afrika und an sterbende Sklaven. Das London, das er nach Jahren der Abwesenheit wieder betritt, widert ihn an.

Das betont maskulin ausgestellte Antiheldentum der Figur wirkt manchmal überzogen („Der Tee ist eiskalt“ – „Sind wir das nicht alle?“ lautet einer der weniger subtilen Dialoge); aber insgesamt ist „Taboo“ eine aufregende Erfahrung, die man am besten im englischen Original genießt, nicht in der Synchronisation, die etwas keimfrei wirkt. Und das passt nun gar nicht zu diesem London.

Erschienen auf DVD/Blu-ray bei Concorde Home Video.
Fotos: Concorde

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Herrlich: „The Young Pope“ mit Jude Law

Young Pope Jude Law

Der Papst (Jude Law) beim Billard. Foto: Gianni Fiorito/Polyband

Ein göttliches Zeichen? Oder doch nur ein schlichter metereologischer Zufall? Die finsteren Wolken über dem Petersplatz lösen sich auf, als der neue Papst Pius XIII. den Balkon des Petersdoms betritt; die Sonne bricht durch und wärmt die Tausenden von Gläubigen, die ihre Tausende von Regenschirmen zusammenklappen. Des Papstes erste Rede lässt dann den Vatikan in seinen Grundmauern erzittern: mehr Freiheit! mehr Verhütungsmittel! Auch Frauen sollen Messen lesen dürfen! Kein Wunder, dass drei Kardinäle synchron in Ohnmacht fallen und eine Gruppe von Nonnen Freudentränen vergießt.

So beginnt die zehnteilige TV-Reihe „The Young Pope“, die jetzt auf DVD/Blu-ray erscheint und erzählerisch gleich einen Haken schlägt: Denn das alles war nur ein Traum des frisch gewählten Papstes (Jude Law), allerdings kein Traum der Verheißung, sondern, zumindest aus seiner Sicht, ein Albtraum. Lenny Belardo heißt er bürgerlich, ist der erste Amerikaner im Amt und nicht der Wunschkandidat des Konklave – seine Wahl scheint die Folge di-plomatischer Mauschelei zu sein; einige Kardinäle erhoffen sich in ihm einen telegenen und leicht lenkbaren Pontifikats-Naivling. Doch rasch dämmert der machtgewohnten Führungsriege, wen sie da vor sich hat – die Strippenzieher scheinen ihren Meister gefunden zu haben. Der wirkt nur auf den ersten Blick progressiv bis revolutionär, wenn er Zigaretten schmaucht oder zum Frühstück eine Diät-Cola trinkt; aber in ihm glüht ein erzkonservatives Herz.

 

Young Pope Jude Law

Foto:  Gianni Fiorito/Polyband.

Der italienische Regisseur, Drehbuchautor und Schriftsteller Paolo Sorrentino (46) hat diese Reihe geschrieben und inszeniert. Sein Film „La grande Belezza – Die große Schönheit“, der 2014 den Auslands-Oscar gewann, porträtierte die italienische High-Society hintersinnig und in opulenten Bildern. Das Format einer knapp zehnstündigen Reihe gibt Sorrentino nun die Möglichkeit, einen römischen Mikrokosmos zu malen wie ein riesiges Fresko; bevölkert ist es von plastischen Figuren, die man schnell zu durchschauen scheint, die aber stets übliche Erwartungen unterlaufen. Ist Pius der eisige Manipulator mit der Lust an der Macht? Oder im Herzen noch ein kleiner verschreckter Junge, der bis heute darunter leidet, dass seine Hippie-Eltern ihn im Waisenhaus entsorgt haben?

So sieht es zumindest sein Mentor, der selbst Papst werden wollte, von seinem Schüler aber letztlich ausgetrickst wurde – weswegen er sich nach der Wahl fast die Pulsadern aufgeschnitten hätte. Pius engagiert die Nonne (Diane Keaton), die ihn im Waisenhaus großgezogen hat, sofort als enge Assistentin – um sie nach einem Disput vorerst zu degradieren. Sein zentraler Gegner ist Kardinal Voiello (Silvio Orlando), der erst als machtversessener Strippenzieher erscheint, dann aber ganz unerwartete Züge zeigt.

 

Young Pope Jude Law

Foto: Gianni Fiorito/Polyband

Gerade die Gespräche zwischen Voiello und Pius sind eine Freude – bei diesem Parlieren in hochherrschaftlichen Räumen wird nie die Stimme erhoben; aber jedes Wort ist eine Waffe, jeder noch so oberflächlich scheinende Dialog ist ein Scharmützel. Pius erweist sich als Meister der kaltlächelnd und lustvoll verabreichten Demütigung, wenn er etwa einen missliebigen greisen Bischof vom warmen Rom ins eisige Alaska versetzt. Den Satz „Ich werde nie den Nächsten lieben wie mich selbst“ glaubt man diesem Narziss sofort, der in intimen Momenten bekennt: „Ich bin nicht tiefgründig, ich bin überheblich“. Ist dieser Pius nun ein schlichtes Ekel? Oder hat er ein höheres Ziel? Wenn ja, welches?

Die Serie, die bald fortgesetzt werden soll, hält das in der Schwebe, und Jude Law spielt diesen widersprüchlichen Charakter, den auch Zweifel am Glauben plagen, ungemein lebendig. Die schwarzhumorige Handlung um Kirche, Glaube (den der Film durchaus ernst nimmt), Glaubensvermarktung, Machtsicherung und unterdrückte Libido kleidet Sorrentino in eine opulente Optik: Er zelebriert Pracht und schöne Roben (im Abspann wird Giorgio Armani gedankt), lässt die Kamera durch große Räume schweben – es sind sonnendurchflutete Schlachtfelder. Dies alles ist, um im Bild zu bleiben, zum Niederknien.

Erschienen bei Polyband.

 

Young Pope Jude Law

Ja, Regieren ist schwer.  Foto: Gianni Fiorito/Polyband

 

Young Pope Jude Law

Nett und neu auf Blu-ray: „Der scharlachrote Pirat“

 

Robert Shaw

 

Gänzlich abgesoffen ist er ja nicht, der gute alte Piratenfilm – aber gäbe es Johnny Depp und die „Fluch der Karibik“-Reihe nicht, würde kein Freibeuter mehr über die Leinwand segeln. Nach den goldenen Zeiten von Errol Flynn oder dem „Roten Korsar“ versuchten Studios immer wieder, das Genre wiederzubeleben – fast immer vergeblich, manchmal spektakulär scheiternd: 1996 etwa versenkte „Die Piratenbraut“, satte 100 Millionen Dollar teuer, nur eines: ihr Filmstudio Carolco.
Einen vergeblichen, dennoch sehenswerten Wiederbelebungsversuch unternahm Hollywood 1976 mit „Der scharlachrote Pirat“, als DVD lange vergriffen und nun erstmals in brillantem HD auf Blu-ray zu sehen. Der Film ist ein Vehikel für den 70er-Jahre-Star Robert Shaw („Der Clou“, „Der weiße Hai“). Die Geschichte ist dünn: Ein Pirat (Shaw) fechtet einen sadistischen Südsee-Tyrannen ins Jenseits. Die Ausführung aber ist prächtig: Breitwandformat und bunte Bilder, die die tiefblaue See und den roten Einteiler des Piraten geradezu erstrahlen lassen.

Robert Shaw

 

Auffällig müht sich der Film, den naiven Abenteuergeist der alten Filme neu zu entfachen. Fast jeder Satz wird mit Impetus geschmettert, begleitet von mannhaftem „hahahaaa!“ und den Zusätzen „mein verrückter Freund“ oder „Du Schurke!“. Ein bunter Spaß von gestern, dessen Nostalgie sich sogar noch steigern lässt: Die Blu-ray enthält auch eine gekürzte Schmalfilmversion aus den 80ern, als Super-8 noch die Krönung der Heimkinotechnik war.

Erschienen bei Koch Media.

 

Robert Shaw

 

Robert Shaw

Zum Tod von Michael Ballhaus: Zwei Interviews

Fassbinder, Scorsese und noch viel mehr. Kameramann Michael Ballhaus ist im Alter von 81 Jahren gestorben. Er fand die Bilder zu „Die Ehe der Maria Braun“ (1979), „Die fabelhaften Baker Boys“ (1989), „Good Fellas“ (1990), „Zeit der Unschuld“ (1993) und „Gangs of New York“ (2002). Zwei Mal hat er das Saarbrücker Ophüls-Festival besucht, 2013 und 2004. Vor beiden Festivals habe ich ihn interviewt, 2004 zusammen mit dem Kollegen Thomas Reinhardt. Hier die beiden Gespräche.

Die Bilder stammen aus dem famosen Buch „Das fliegende Auge – Michael Ballhaus, Director of Photography, im Gespräch mit Tom Tykwer. Berlin Verlag, 2003, 262 Seiten.  www.piper.de
Ballhaus hatte sie aus einem Privatarchiv zur Verfügung gestellt.

Interview 2013

1969 haben Sie Jimi Hendrix in Saarbrücken gefilmt. Wie kam es denn dazu?

Ballhaus: Das war eine ziemliche Überraschung. Ein Freund aus Frankfurt rief mich an, ob ich denn Zeit und Lust hätte, etwas mit Jimi Hendrix zu machen. Ein anderer Kameramann hatte ihn bei seiner Tournee begleiten sollen, aber Hendrix mochte ihn anscheinend nicht. Ich wollte natürlich und musste sofort mit Kamera und Assistent nach Saarbrücken, wo die Tournee begann. Wir haben uns sofort gemocht, hatten zwar nur drei Tage zusammen, aber die waren so intensiv wie 14 Tage mit anderen.

Was wurde aus den Aufnahmen?

Ballhaus: Die Firma, die sie produziert hatte, ging bankrott, das Material wurde verkauft. Jahre später hieß es plötzlich aus Amerika, der Film sei wieder da und werde bald veröffentlicht – danach habe ich nie wieder etwas davon gehört.

Ende der 60er Jahre haben Sie erstmals als Dozent für Filmstudenten gearbeitet, danach immer wieder bis heute – was haben Sie selbst dabei gelernt?

Ballhaus: Gerade 1968 in meiner Anfangszeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin habe ich mehr gelernt als meine Studenten. Die waren weniger am Lernen als am Politischen interessiert und haben bei mir ständig nachgefragt, warum ich dieses und jenes so mache – da ich sehr intuitiv arbeite, musste ich viel über meine Arbeit nachdenken. Sie sagten mir etwa „Warum nehmen Sie ein 50er-Objektiv für einen Kapitalisten – Sie müssen ein Weitwinkelobjektiv nehmen, dann wirkt der viel hässlicher!“.

Holger Meins, späteres Mitglied der RAF, der im Hungerstreik gegen seine Haftbedingungen starb, war einer Ihrer Studenten. Wie ist der Ihnen damals aufgefallen?

Ballhaus: Er war still, sehr sympathisch, sehr zurückgezogen. Er war einer, der bei den anderen, die sehr aktiv, eloquent und überzeugend waren, mitgelaufen ist. Dass er da reingerutscht ist in eine Gruppe, die plötzlich Verbrechen beging, war sehr traurig.

Wolfgang Petersen war auch einer Ihrer Studenten. Jahrzehnte später waren Sie in Hollywood bei „Air Force One“ und „Outbreak“ sein Kameramann. Wie war das für Sie?

Ballhaus: Eine ganz natürliche Sache. Wir hatten uns in Amerika ja schon angefreundet, und es wurde eine wunderbare Arbeit. Er ist ein äußerst entspannter Regisseur, der immer freudig an den Drehort kommt.

Mit Martin Scorsese haben Sie besonders gerne und oft gearbeitet. Wie war das für Sie, als Sie seinen Film „Hugo Cabret“ gesehen haben, den er nach Ihrem Abschied aus Hollywood mit einem anderen Kameramann gedreht hat? Empfindet man da Wehmut?

Ballhaus: Nein, ich hatte mich ja längst entschlossen, nicht mehr als Kameramann zu arbeiten. Ich fand den Film wunderschön anzuschauen, weiß aber, dass die Dreharbeiten sehr lang und schwierig waren.

In dem Film gleitet die Kamera über die Stadtlandschaft von Paris, das allerdings im Computer entstanden ist. Wie viel hat ein Kameramann mit solch einer Szene noch zu tun. Wenig?

Ballhaus: Gar nichts. Deshalb interessieren mich solche computergenerierten Bilder und Filme weniger. Ich hatte gerne die kreative Kontrolle über alle Bilder. Einen Film mit vielen Computereffekten habe ich gemacht – „Wild Wild West“ – und das hat mir überhaupt nicht gefallen.

War diese Entwicklung hin zum allzu bearbeiteten Bild der Grund, aufzuhören?

Ballhaus: Nein. Der Beruf des DP, des „director of photography“ ist sehr anstrengend. Mit 72 Jahren habe ich mich entschlossen, den Beruf nicht mehr auszuüben. Wenn man 18 Stunden am Set steht, fragt man sich manchmal „Muss ich das machen?“ Und irgendwann wusste ich: Ich muss nicht. Ich habe genug Filme gemacht, ich habe genug Geld verdient. Ich kann jetzt beruhigt sagen, dass ich mit einem wunderschönen Film aufgehört habe – „The departed“ mit Scorsese.

Aber in Deutschland haben Sie doch noch einen Film gedreht, „3096 Tage“ nach den Erinnerungen der entführten Natascha Kampusch. Werden Sie nun doch weiter arbeiten?

Ballhaus: Nein, das war ein Sonderfall, weil das Thema sehr schwierig, aber interessant ist – und weil meine Frau die Regisseurin ist. Wir haben lange diskutiert, ob das gut gehen kann. Es ging dann sehr gut.

Beim Fernsehen werden die Budgets knapper. Was bedeutet das für die Kameraleute?

Ballhaus: Das Geld wird weniger, die Drehzeiten kürzer, und ich habe das Gefühl, dass beim Fernsehen nur noch aus der Hand gefilmt wird. Es wackelt furchtbar, es gibt eine halbnahe Einstellung und dann nur noch Nahaufnahme nach Nahaufnahme, weil das eben das Einfachste ist. Das meiste finde ich nicht akzeptabel.

Und im deutschen Kino?

Ballhaus: Da ist es etwas anders, da entstehen durchaus schöne Sachen.

Welche Kollegen schätzen Sie denn besonders?

Ballhaus: Frank Griebe schätze ich sehr, der vor allem die Filme von Tom Tykwer gestaltet.

Ihre beiden Söhne Florian und Jan Sebastian haben lange mit Ihnen zusammen gearbeitet – das muss für einen Vater ein Geschenk sein.

Ballhaus: Das ist etwas Wunderbares – wenn man sich gut verträgt. Mit Florian habe ich zehn Jahre lang zusammengearbeitet, das war ein große Freude.

Hatten Sie Angst, dass sie in diesem Geschäft untergehen könnten – oder einfach weniger Talent haben als ihr Vater?

Ballhaus: Die Angst hat man anfangs schon, aber ich habe die Arbeit der beiden ja sehr gut kennen gelernt. Florian hat ein fantastisches Bildgefühl. Da wusste ich, dass er es als Kameramann schaffen würde. Mein Sohn Jan Sebastian ist ein sehr erfolgreicher Regie-Assistent.

Wenn Sie gewusst hätten, dass Kollegen ihre berühmte Kamera-Kreisfahrt so oft kopieren würden – hätten Sie sie patentieren lassen?

Ballhaus: Leider kann man das nicht, auch wenn es eine lustige Idee ist. Es stimmt schon, sie wurde sehr oft kopiert – so oft, dass ich selber keine Lust mehr darauf hatte.

Interview 2004

Herr Ballhaus, was verschafft uns das Vergnügen, dass Sie zum Ophüls-Festival nach Saarbrücken kommen?

Ballhaus: Boris Penth hat mich in der Film- und Fernseh-Akademie Berlin getroffen und gefragt, ob ich zum Ophüls-Jubiläum nach Saarbrücken kommen wolle und einen Bezug zu Max Ophüls hätte. Den hatte ich: „Lola Montez“ war meine erste Begegnung mit dem Kino. Ich habe den Film immer wieder gesehen, er ist bis heute ein starker Einfluss.

1955 haben Sie die Dreharbeiten von „Lola Montez“ besucht. War das der Auslöser, Kameramann zu werden?

Ballhaus: Ich war 20 und zum ersten Mal in einem Filmstudio. Ophüls drehte gerade die Zirkus-Szenen, was mich enorm beeindruckte. Vorher hatte ich die Fotografie geliebt und das Theater – und plötzlich erkannte ich das Filmemachen als die Verbindung von beidem. Da wusste ich, was ich werden wollte.

Sie zeigen beim Ophüls-Festival „Zeit der Unschuld“ von Martin Scorsese und geben dazu eine Einführung. Warum gerade dieser Film?

Ballhaus: Das ist einer meiner Lieblingsfilme. Martin Scorsese ist ja auch ein großer Ophüls-Fan – wir haben uns „Lola Montez“ immer wieder zusammen angeschaut und wollten einige Ideen auch in unserem Film verwirklichen. Vor allem die Art, wie Ophüls das Bildformat genutzt hat. In den intimeren Szenen reduziert er das Bild zu einem Quadrat, in den großen Zirkus-Szenen dehnt sich das Bild zum Breitwand-Format aus.

Sie haben mit den besten und bekanntesten Regisseuren zusammen gearbeitet, mit Fassbinder, Wenders, Coppola, Scorsese – wer fehlt noch?

Ballhaus: Eigentlich habe ich mit allen meinen Wunschkandidaten gedreht. Jetzt bin ich neugierig auf jüngere Regisseure. Deshalb habe ich zum Beispiel mit Boaz Yakin „Uptown Girls“ gedreht.

Gibt es auch Kandidaten in Deutschland? Tom Tykwer etwa, mit dem Sie ein Buch geschrieben haben?

Ballhaus: Den Tom Tykwer mag ich sehr gerne, aber der hat seinen festen Kameramannn – und in die Arbeitsbeziehung will ich mich nicht einmischen.

Sie haben mit den Musik-Superstars der 80er gearbeitet – Prince, Madonna, Bruce Springsteen – was war die reizvollste Zusammenarbeit?

Ballhaus: Bei Rockvideos trifft man einfach interessante Leute. Und Madonnas „Papa Don’t Preach“ ist wohl das meistgesehene Stück Film, das ich je belichtet habe. Es ist schön, so tolle Menschen wie Springsteen oder so ein enormes Talent wie Prince kennen zu lernen.

Nimmt man da etwas mit für die Kino-Arbeit oder sind das zwei zu verschiedenartige Bereiche?

Ballhaus: Es ist eine andere Art des Erzählens. Man muss Geschichten schneller auf den Punkt bringen – da lernt man besonders präzises Arbeiten.

Sie haben von 1960 bis heute rund 100 Filme gedreht. Wie hat sich in ihren Augen das Filmgeschäft verändert?

Ballhaus: Die Budgets steigen ins Astronomische. Ich habe selber schon einen Film für 150 Millionen Dollar gedreht – bei Fassbinder hatten wir 300 000 Mark zur Verfügung. Die USA hat eben einen gigantischen Weltmarkt und kann seine Filme dort mit viel Geld bewerben. Für den deutschen Film ist das unmöglich. Auch technisch hat sich viel verändert. Die Objektive brauchen weniger Licht, man kann deshalb mehr mit natürlichem Licht arbeiten. Und das digitale Material hat der Branche ebenfalls einen großen Umbruch beschert.

 Wie sehen Sie diese Tendenz, immer mehr mit Digital-Kameras zu drehen – gefällt Ihnen diese Ästhetik?

Ballhaus: Ich hänge schon sehr am Filmmaterial – und keine Digitalkamera erreicht bisher dessen Qualität. Bei großen Produktionen rechnet sich das Umsteigen aufs Digitale nicht einmal – da wird nicht alles plötzlich halb so teuer. Für manche Produktionen passt es, für andere nicht. Vor sieben Jahren habe ich vorhergesagt, dass bald nichts mehr auf Film gedreht wird – deswegen halte ich mich mittlerweile mit Prognosen lieber etwas zurück.

Wie sehen Sie die Entwicklungen in der Tricktechnik und bei den computergenerierten Bildern?

Ballhaus: Tricks sind immer schneller und billiger zu produzieren. Für intelligente Filmemacher ist das eine Möglichkeit, neue Bilder zu finden. Jedes Bild, das man sich denken kann, ist mittlerweile möglich. Aber das bringt auch die Gefahr mit sich, dass man Unnötiges produziert. Man sollte sich selber Grenzen setzen und auch an die Fantasie des Publikums glauben.

In „Dracula“ von 1992 haben Sie bewusst altmodische Kameratricks verwandt – in einem Film wie „Wild Wild West“ von 1999 aber wurden Ihre Bilder Monate später mit dem Computer bearbeitet und neu zusammengesetzt.

Ballhaus: Ein interessanter Vergleich. Bei „Dracula“ haben Francis Ford Coppola und ich uns „Nosferatu“ von 1922 zum Vorbild genommen und wollten so wenig wie möglich Künstliches zeigen. Ich war also zum großen Teil der Herr der Bilder, was ich bei „Wild Wild West“ nicht war. Dort habe ich vieles gedreht, was nachher nochmal bearbeitet wurde. Diese Einschränkung macht mir wenig Freude. Ich habe gern die Kontrolle über das ganze Projekt.

Sie drehen meist teure Hollywood-A-Filme – bringt das nicht die Gefahr mit sich, dass kleine oder mittelgroße Produktionen, die vielleicht interessante Geschichten zu bieten haben, Sie nicht fragen, weil sie denken, man könnte Sie ohnehin nicht bezahlen?

Ballhaus: Ich drehe ja auch Filme, in denen ich nicht die Top-Gage bekomme. Wenn mir ein Angebot gut gefällt, ist die Höhe der Gage für mich nicht unbedingt ein Hinderungsgrund.

Wie haben Sie die Oscar-Nacht erlebt, als „Gangs Of New York“ trotz zehn Nominierungen, darunter auch eine für Sie, nicht ein Mal gewonnen hat?

Ballhaus: Ich saß hinter Scorsese. Für ihn war das eine Demütigung, für uns alle ein deprimierender Abend. Er hat hinterher wie ein gebrochener Mann gewirkt und gesagt, dass er diesen Raum nie wieder betreten werde. Wir hatten zehn Nominierungen und standen am Ende mit leeren Händen da. Ich selbst dachte mir, dass ich keinen bekommen würde, und war deshalb auch nicht enttäuscht, aber für die anderen war es schlimm.

Scorsese dreht „The Aviator“ mit einem anderen Kollegen – welche Gründe hatte das, und fühlt man sich da nicht wie ein verlassener Ehepartner?

Ballhaus: Grundsätzlich wollen wir immer zusammenarbeiten. Aber diesmal hatte ich ein anderes Angebot – „Was das Herz begehrt“ mit Jack Nicholson. Scorsese sagte mir, ich solle das machen, er wäre noch nicht so weit mit „The Aviator“. Dann ging das bei ihm aber doch schneller. Nur leider war ich da schon mitten in den Dreharbeiten.

Welche Kollegen schätzen oder beneiden Sie? Hatten Sie früher einen Liebslingkameramann oder ein Vorbild ?

Ballhaus: Ganz am Anfang die Kollegen der „Nouvelle Vague“ in Frankreich und dann auch die Italiener. Auch Sven Niquvist, der so wunderbar das menschliche Gesicht fotografieren kann. Aber ich schaue mir heute auch gerne Arbeiten junger Kollegen an, ich bin da sehr offen und bereit, Neues auszuprobieren.

Immer wieder war Ihr Regie-Debüt, die Geschichte von Lotte Lenya und Kurt Weill, im Gespräch – wie steht es um das Projekt?

Ballhaus: Das wird dieses Jahr gemacht, meine Frau und ich sind als Co-Produzenten dabei.

Wie oft sind Sie überhaupt in Deutschland?

Ballhaus: Immer öfter. Ich trete jetzt etwas kürzer und gönne mir mehr Zeit in Deutschland. In den letzten Jahren war ich im Schnitt zwei bis drei Monate pro Jahr in Deutschland, das wird in Zukunft aber deutlich mehr werden.

Was sind ihre nächsten Projekte?

Ballhaus: Ich lese Drehbücher, aber bis jetzt war kein Stoff dabei, den ich unbedingt hätte machen wollen.

 

Pure Nostalgie: Alte Kino-Anzeigen aus dem Archiv, Teil 1

Nostalgie deluxe: Ein Gang ins Archiv ist a) gut für die Beine und b) überraschend – scheinbar unzählige Kinos gab es früher im Saarland, und ab und an schaute sogar Hans Albers vorbei. Hier ein erster Blick auf alte Kinoanzeigen aus den Jahren 1951/52.

 

Nostalgie

Sehr merkwürdig – da läuft ein Film mit Cary Grant, den die Anzeige aber komplett verschweigt? Hat man ihn mit Perücke nicht erkannt?

 

Nostalgie

Lauter Kinos, die es heute nicht mehr gibt.

 

 

 

Nostalgie

Richard Widmark in Saarlouis.

 

 

Nostalgie

John Wayne, der „z. Z bedeutendste Filmschauspieler Amerikas“?

 

 

Nostalgie

Und was sind „Westdeutschlands Rabbatzer“?

 

 

Nostalgie

Heute ziemlich vergessen – aber ein wirklich schöner Abenteuerfilm.

 

 

 

Nostalgie

Ein Film auch für die „junggebliebenen Herzen“.

 

 

Nostalgie Kinoanzeige

Die Garbo im Passage-Kino.

 

Nostalgie Kinoanzeige

Und als Höhepunkt: der „Blonde Hans“ leibhaftig zu Besuch in Saarbrücken.

 

 

 

Das Buch „Im Kino“ von Harald Martenstein

Harald Martenstein: Alte Chinesen im Kino erinnern ihn an Heiner Geißler, bei der Berlinale wird er mit einem Heldentenor verwechselt, und sein erster Filmkritik-Auftrag war „In der Lederhose wird gejodelt, Teil 2“. Foto: C. Bertelsmann

 

Man kann sich halt nicht alles aussuchen. Da sitzt der junge Harald Martenstein, in der Redaktion noch am Ende der Nahrungskette, in einem Bahnhofskino und schaut „In der Lederhose wird gejodelt, Teil 2“. Der Auftrag des Chefredakteurs ist unmissverständlich: eine wohlwollende Kritik, schließlich ist das Kino Anzeigenkunde und damit König. Erfreulich, dass diese doppelte Attacke von a) merkwürdigem Berufsverständnis und b) teutonischem Balzfilm Martenstein die Liebe zum Kino nicht verleidet hat. Im Gegenteil: „Nur als Filmkritiker hätte ich gut gelaunt alt werden können“, schreibt er in dem höchst vergnüglichen Band „Im Kino“, in dem er über 80 Texte zusammengestellt hat. Denn, so seine These, ein schlechter Film ist leichter auszuhalten als schlechte Literatur, außerdem: „Du kannst an einem Tag drei Filme sehen, drei Romane täglich sind nicht zu schaffen.“ Ein Spezialist habe er nie werden wollen, er ist „ein Schreiber“, aber „kein Journalist, kein Kritiker, kein Schriftsteller“.
Das erklärt wohl die erfreuliche Distanz, die Martenstein etwa in seinen bekannten Berlinale-Kolumnen zu manchen Filmen und zum Festivalbetrieb pflegt. Er verspürt keinen Kritikerfuror, mit dem er die Welt von verkannten Meisterwerken überzeugen wird. Er erstarrt nicht in Ehrfurcht, wenn er einen Großkünstler sieht; Neugier und Gelassenheit halten sich bei ihm die Waage.

Die Berlinale-Pressekonferenzen, durch die ja eine Gefühlswelle der Dankbarkeit dafür wogt, im selben Raum wie ein Star sein zu dürfen, beschreibt er schön gehässig in der Kolumne „Schleimen und Schmachten“; beim deutschen Berlinale-Film „Gnade“ mokiert er sich über das Drehbuch, das zu 90 Prozent aus Fragen bestehe – aus diesen Fragen bestückt er seine Kritik dann zu 95 Prozent. Konsequent und komisch – ähnlich wie seine Überschriften, die nicht immer subtil sind, aber neugierig machen: „Bei uns haben die Huren alle Abitur“ etwa, „Goebbels in Namibia“ oder „Ein Penis im Glück“.

Klatsch der Berlinale, bei der er schon mal von Passanten mit einem britischen Heldentenor verwechselt wird, trägt er gerne weiter – jenen etwa, dass Matthias Matussek, damals Spiegel-Kulturchef, beim Festival mehr als die übliche eine Karte für die Eröffnung gefordert und bei Zuwiderhandlung mit einem bösen Text gedroht habe. Martensteins (fiktive) Taktik: Er stellt der Berlinale einen liebedienerischen Text in Aussicht. Mit Erfolg: Er erhält Tickets für „Familie, Freunde, Bewunderer und die beiden Lieblingskonkubinen“.

Oft ironisch sind die Texte, die Scherz- und sprachliche Gagdichte ist enorm hoch – aber erwärmt sich Martenstein besonders für einen Film, wird er ernst und schaut besonders genau hin, etwa bei Andreas Dresens „Nachtgestalten“ in einem Text aus dem Jahr 1999. Schlechtere Filme watscht er elegant ab, am Stalingrad-Film „Duell“ stört ihn unter anderem die Pathos-Musik sehr, „jeden Moment rechnet man damit, dass die drei Tenöre aus den Schützengräben steigen“. Romuald Karmakars „Die Nacht singt ihre Lieder“ nennt er einen „Karmakarpaarzerfleischungsfilm“, in dem man als Zuschauer „verstrindbergt und veribsent“ werde. Und: „Filme können arrogant sein, wie Menschen.“ Dieses Werk hat er wohl wirklich nicht gemocht.

Spürbar empört hat ihn Hermine Huntgeburths „Effi Briest“-Verfilmung, in der Effi nicht stirbt, sondern als Großstadtsingle ein neues Leben beginnt, weil das laut Regisseurin „zeitgemäßer“ sei. Martenstein hofft, dass Huntgeburth sich nicht Kafkas „Prozeß“ vornimmt, denn den würde Josef K. dann in zweiter Instanz gewinnen; und bei einer „Faust“-Adaption Huntgeburths gehe Gretchen wohl als „starke, moderne Frau“ als Tierärztin nach Südafrika.
In „ein chinesisches Volksgefängnis“ wünscht Martenstein jene Kritiker, die einen Film daran messen, ob er mit ihrem Weltbild übereinstimmt. Er lässt sich lieber bezaubern oder gar verschaukeln: Es komme nur darauf an, „ob man an die Lüge glaubt, die jeder Film für uns aufbaut“.

Harald Martenstein: Im Kino.
C. Bertelsmann, 208 Seiten, 16,99 Euro.

www.randomhouse.de/Buch/Im-Kino/Harald-Martenstein/C.-Bertelsmann/e489105.rhd

 

 

Klein, fein: Filmmagazin „Revolver“

Filmmagazin Revolver

 

„Keine Kritiken, keine filmgeschichtlichen Abhandlungen, keine Werbung.“ An dieses Credo hält sich das Filmmagazin „Revolver“ seit seiner Gründung 1998. Die Filmemacher Christoph Hochhäusler, Saskia Walker, Benjamin Heisenberg, Nicolas Wackerbarth, Marcus Seibert und Franz Müller geben die Zeitschrift, die in eine nicht zu enge Hosentasche passt, zweimal im Jahr heraus: mit Essays und Interviews abseits aktueller kommerzieller Filmverwertung – und, kaum überraschend, auch abseits von Profit. Die Redaktion arbeitet ehrenamtlich.

Das jüngste Heft 35 (155 Seiten, 7 Euro) widmet sich der Cinephilie, der großen Liebe zum Kino, in Gestalt von Filmclubs und ambitionierten Mini-Festivals. In zwei Interviews spricht Christoph Hochhäusler („Unter dir die Stadt“) mit Kuratoren/Machern etwa des Kommkinos Nürnberg, des Terza Visiona Festivals (über den italienischen Genrefilm) und des Hofbauer-Filmkongresses (mit obskuren/vergessenen/bizarren Filmen). Schöne Diskussionen sind das über die Liebe zum Kino abseits des Üblichen und mit Mut zu viel Text, den heute ja nicht jede Zeitschrift aufbringt.

Informationen und Abo:
http://www.revolver-film.com

http://www.verlagderautoren.de/

 

Filmmagazin RevolverFilmmagazin Revolver

Neues von Goldfrapp: „Silver Eye“

Alison Goldfrapp

Alison Goldfrapp. Foto: Goldfrapp

Was sind sie wohl diesmal? Folkpopper mit Blumen im Haar und einem Bett im Kornfeld, wie beim vorigen, auch schon drei Jahre alten Album „Tales of Us“? Oder 80er-Jahre-Nostalgiker wie bei der CD „Head First“ (2010)? Oder gar Herbstmelancholiker mit Vorliebe für flauschige Streicherteppiche wie bei Goldfrapps Debüt „Felt Mountain“, das jetzt auch schon 17 Jahre alt ist?

Gänzlich berechenbar ist sie nicht, die Arbeit des britischen Duos (Will Gregory/Alison Goldfrapp), auch wenn Goldfrapps leicht angeraute Stimme eine Konstante ist. Das neue, siebte Album „Silver Eye“ ist nun keine Neuerfindung im großen Stil, sondern weist zurück auf ihre vornehmlich elektronische Phase mit den CDs „Black Cherry“ und „Supernature“. Die große Überraschung fehlt also, dennoch ist das ein überwiegend spannendes Album – mit eingängigen, dabei aber nicht aufdringlichen Melodien und cleveren Arrangements irgendwo zwischen 70er/80er-Jahre-Nostalgie und der Elektronik von heute.

Gregory lässt die Synthesizer pulsieren, blubbern und jaulen, dass es eine Wonne ist. Die Rhythmen changieren zwischen elegant klackend und elefantös stampfend – manches erinnert vage an Giorgio Moroders Stöhn-Discohits mit Donna Summer wie „I feel love“. Andere Stücke wagen die große melodramatische Geste: „Zodiac Black“ etwa beginnt karg und zart, um sich dann, mit verrätselten Texten um Wasser und Dunkelheit, hochzuschrauben zur großen sphärischen Klangexplosion mit rhythmischem Wummern und entrückten Chören.

Nicht jedes der zehn Stücke ist derart gelungen, ein, zwei Songs wirken wie allzu routiniertes Füllmaterial. Das ist aber verschmerzbar angesichts des grandiosen Höhepunkts „Moon in your mouth“: eine Ode an Liebe und Leben, die in ihrem nostalgischen 80er-Elektronikkleid und mit wunderbarer Melodie direkt ans Herz geht – zum Heulen schön.

Goldfrapp: Silver Eye
(Mute).

http://www.goldfrapp.com

 

Alison Goldfrapp

 

 

 

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