Film und dieses & jenes

Kategorie: Mediathek (Seite 1 von 2)

„Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ von Claudia Müller


Elfriede Jelinek in einer alten TV-Sendung, ein Ausschnitt ist auch im Film zusehen. Foto: Plan C

Egal, ob es nun ein Ziel dieser Dokumentation ist oder nicht: Hat man den Film gesehen, möchte man im nächsten Buchladen nach Werken der Schriftstellerin schauen. „ Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ ist ein packendes, dichtes Porträt – literarisch, biografisch und politisch, voller Texte und Sprachlust, voller klug montierter Bilder und Szenen. Man ist sofort mittendrin im Thema Jelinek, wenn der Film einen alten TV-Mitschnitt zeigt, in dem die Schriftstellerin die wenige Zeit in einer Literatursendung für Autorinnen kritisiert (50 Minuten für Männer contra zehn für Frauen), dann die Verkündung des Literaturnobelpreises 2004 gezeigt wird und Jelinek aus dem Off kommentiert: „Ich kann da nicht hinfahren“, wegen einer Angststörung. „Rausgehen, das kann ich nicht mehr.“ Darüber, wie weit diese Angststörung, an der sie seit ihrer Jugend leidet, auch weiter befeuert wird vom Hass, der Jelinek in ihrer österreichischen Heimat entgegenschlägt, spekuliert der Film nicht. Das kann man selbst tun. Der Film will nicht psychologisieren.

„Mutters einziges Kind, das in der Spur bleiben soll“

Mit Zitaten und Archivaufnahmen zeichnet Regisseurin Claudia Müller die Jugend Jelineks nach, Jahrgang 1946, ein „Nichtlebendürfen“ – der Vater ist laut Jelinek „verrückt geworden“, die Mutter fördert und überfordert die Tochter in allerlei musischen Disziplinen. Sie dominiert die Tochter, die sie im Film als manchmal „gefährliches Tier“ bezeichnet, durch die sie das Lügen gelernt habe, um sie zu besänftigen, als „Mutters einziges Kind, das in der Spur bleiben soll“.

Elfriede Jelinek in einer Archivszene des Films. Foto. Plan C

Elfriede Jelinek in einer Archivszene des Films. Foto: Plan C

Die junge Jelinek „rettet sich in die Sprache“, wie sie sagt, weil das der einzige Bereich gewesen sei, in dem die Mutter sie nicht zur Leistung antrieb. Früh erhält sie Preise, begreift sich als Autorin, die etwas bewegen will, die eine „größere Effektivität im politischen Sinne“ erreichen will – feministisch und als Kritikerin politischer Zustände in ihrer Heimat Österreich, an denen sie leidet. Exemplarisch für sie ist etwa die Schauspielerin Paula Wessely (1907-2000); im NS-Kino war sie ein Star, ab den 1950ern war sie ein Star am Wiener Burgtheater – der Film zeigt einen grausigen Auftritt Wesselys im perfiden Propagandawerk „Heimkehr“ aus dem Jahr 1941.

„Wut und Hass“

Jelineks Kritik unter anderem an Wessely im Stück „Burgtheater“ (1985 nicht in Wien, sondern im fernen Bonn uraufgeführt) ist ein Wendepunkt in der Rezeption der Schriftstellerin, sagt Jelinek selbst. Seitdem habe sie „polarisiert“, das sei, vielleicht meint sie das etwas ironisch, „der Beginn meines Abstiegs“ – in jedem Fall spätestens der Beginn der Anfeindungen gegen sie: als „Nestbeschmutzerin“. Jelinek wird (und bleibt) Hassfigur vieler Konservativer, vor allem männlicher, wegen ihres kritischen Blicks auf Österreich und auf männlich geprägte Strukturen. Ein Ausschnitt zeigt auch eine Szene des seligen „Literarischen Quartetts“ zur Zeit von Marcel Reich-Ranicki. Der wundert sich über so viel „Wut und Hass“ und darüber, dass bei Jelinek „das Sexuelle demontiert“ wird – fast wirkt es, als sorge er sich um das Seelenheil der Autorin.

Interview mit Buchpreisträger Tonio Schachinger

Interview mit Iris Wolff

Der Film lässt viel Raum für die Texte Jelineks mit ihrer kunstvollen Sprache und oft einem sehr dunklen Humor. Mal werden die von ihr in alten Mitschnitten gelesen, vor allem aber von Sophie Rois, Martin Wuttke, Maren Kroymann und Sandra Hüller. Das alleine ist schon eine Wonne, während der Film das nicht brav inhaltlich, sondern eher assoziativ illustriert – mit Bildern aus Österreich, ebenso mit prächtigen Bergpanoramen wie mit hässlichen Après-Ski-Momentaufnahmen und Super-8-Aufnahmen aus den 1950ern (Montage: Mechthild Barth).

Nach dem Nobelpreis hat sich Jelinek noch weiter zurückgezogen, auch wenn sie für diesen Film mit der Regisseurin viel Kontakt hatte und ihr 2021 ein Interview gab, das im Film zum Teil verwendet wird. Aber erklären will sie ihre Werke nicht mehr, es sei alles gesagt. Gut, dass es dennoch diesen Film gibt.

 

Termin: 13.5., 22.15, Arte und ab dann in der Mediathek.
DVD bei Farbfilm Verleih.
„Die Klavierspielerin“ nach Jelinek ist ebenfalls in der Mediathek.

 

„Die 2050er – Everything will change“ – Interview mit Regisseur Marten Persiel

Der Filmemacher Marten Persiel. Foto: Christopher Flaering / Flare Film

Filmemacher Marten Persiel. Foto: Christopher Flaering / Flare Film

Im Jahr 2054 ist die Welt am Ende. Drei junge Menschen wollen erkunden, wie es so weit kommen konnte ; der Schlüssel dazu liegt in der Vergangenheit – unserer Gegenwart.
Vor zwei Jahren hat „Everything will change“ das 43. Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken eröffnet, jetzt ist der Spielfilm unter dem Titel „Die 2050er – Everything will change“ in der Mediathek der ARD zu sehen.  Ein Gespräch mit Regisseur Marten Persiel über seinen Film, Artensterben und den Hass auf Klima-Aktivisten.

 

 Im Hintergrund ist viel Vogelgezwitscher zu hören – wo sind Sie denn gerade?​

PERSIEL Ich bin in Lissabon, im botanischen Garten. Ich wohne hier in der Nähe auf dem Land. Bei der Recherchezeit für den Film habe ich in einer kleinen Hütte gelebt und das Artensterben, um das es im Film geht, miterlebt: Wenn man einen Naturort immer wieder über Jahre besucht, merkt man, wie sich vieles verändert, wie plötzlich keine Frösche mehr am Teich sind, wie keine Schmetterlinge dort herumfliegen, wo früher tausende waren. Das ist schockierend – und war auch ein Motor für den Film.​

Ihr Film verbindet eine fiktive Handlung mit  Dokumentarmaterial – wie würden Sie den Film selbst einordnen?​ Spielfilm? Doku?

PERSIEL Am liebsten gar nicht. Diese Unterscheidung sehe ich eher als Hilfe für den Zuschauer, für  Filmemacher finde ich sie weniger gut. Das ist wie bei einem Album von Jimi Hendrix, wo man nicht genau weiß, ob man es unter „Rock“ einordnen soll oder unter „Soul“. Auch bei meinem ersten Langfilm „This ain’t California“ gab es diese Frage, ob nun Spielfilm oder Doku – aber eigentlich stellt sie sich mir als Filmemacher nicht.​

Wie lange haben Sie sich schon mit dem Thema Artensterben beschäftigt?​

PERSIEL Seit meiner Kindheit. Mein Vater Heinz-Werner Persiel ist ein Naturschutz-Urgestein aus Niedersachen. Da bin ich sehr früh mit dem Thema in Berührung gekommen. Naturliebe ist tief in mir verwurzelt und bringt mich um den Schlaf – als Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde, habe ich heiße Tränen geweint, weil ich wusste, wer sein Naturschutzbeauftragter ist. Wir haben mit dem Klimawandel und Covid andere Probleme, so dass das Artensterben ignoriert wird, was mir unglaublich viel Sorgen macht. Deswegen habe ich mich in den Film so reingekniet, sechs Jahre an ihm geschrieben.​

Interview mit Steffen Greiner zu Verschwörungstheorien

Welche Rolle bei der Produktion hatte Wim Wenders? „Everything will change“ hat ja das Wenders-Stipendium der Medienstiftung NRW erhalten.​

PERSIEL Das Stipendium unterstützt neue Formen des Erzählens, da passen wir gut hinein mit dem erzählerischen Kniff, dass es sozusagen ein Dokumentarfilm aus der Zukunft über uns ist. Dieser Blick auf uns selbst, als wäre unsere Gegenwart „die gute alte Zeit“, hat ihm gut gefallen. Er hat auch zugesagt, im Film aufzutreten. Dass er ganz früh hinter dem Projekt stand, hat uns sehr geholfen, andere Künstler und die wichtigsten Wissenschaftler ins Boot zu bekommen.​

Wie tief haben Sie in den Archiven geforscht für die spektakulären Naturbilder, die ebenso den Schrecken der versehrten Natur zeigen wie ihre atemberaubende Schönheit?​

PERSIEL Da gebührt der größte Dank unserer Cutterin Maxine Goedicke, die Haupt-Cutterin von Wim Wenders – sie hat auch meinen ersten Langfilm „This ain’t California“ geschnitten und dafür den deutschen Kamerapreis gewonnen. Sie hat ein großes Talent für eine emotionale Montage. Am Anfang des Films zeigen wir viele Tiere, die in gewisser Weise aussehen wie Menschen – das ist in der ernsten Wissenschaft sehr verpönt, da soll man Tiere ja nicht anthropomorphisch darstellen. Wir tun das aber mit Absicht, weil wir keine wissenschaftliche Betrachtung im Sinn haben, sondern eine emotionale.​

Doku „Die Geschichte der Kriegsberichterstattung“ von Marcel Ophüls

Der Film ist in mehreren Ländern entstanden, Sie mussten für ihn also einige Male ins Flugzeug steigen. Mit einem schlechten Gefühl, wo Flüge doch Klimawandel und Artensterben beschleunigen?​

PERSIEL Ja klar, das ist ein extremes Problem. Wir haben getan, was man tun kann – wir haben entsprechend der C02-Produktion Geld an Klima-Initiativen gezahlt, wollten aber weitergehen als das und haben noch 3500 Bäume pflanzen lassen. Es bleibt eine paradoxe Situation. Aber diese These „Man kann ja eh nix machen“ stimmt nicht. Man kann viel vermeiden, man kann viel tun, und das haben wir auch bei der Produktion gemacht –  sie sollte möglichst grün sein.​

Die Doku „Speer goes to Hollywood“

Würde man selbst mehr gegen Artensterben und Klimawandel tun, wenn man unsterblich wäre? So aber kann man, je nach Alter, denken, dass das Ganze einen ja eh nicht mehr so richtig trifft.​

PERSIEL Das ist ein finsterer Gedanke, aber ich glaube auch, dass es so ist. Man merkt ja seit drei, vier Jahren, dass die Lage ernst ist. Aber viele Leute meines Alters, ich bin jetzt über 40, tun nichts, weil sie glauben, bis zum Ende mit einigermaßen trockenen Ohren durchzukommen. Aber bei den jungen Leuten ist das eine ganz andere Stimmung – die werden mit dem Ganzen klarkommen müssen.​

Wie erklären Sie sich da den teilweisen Hass auf Klima-Aktivisten?​

PERSIEL Die kann ich mir gar nicht erklären. Vielleicht ist es einfach Dummheit. Vielleicht passt dazu auch, wenn Leute mit Lust Insektengift auslegen und Tiere töten. Möglicherweise ist da etwas ganz Archaisches versteckt, ein Absetzen vom Rest der Schöpfung durch diese „Ich darf alles zerstören“-Attitüde.​

Und Klimawandel-Leugner, die wissenschaftliche Studien ignorieren?​

PERSIEL Ich glaube, dass es die gar nicht mehr gibt – vielleicht schreiben Leute solche Thesen noch in irgendwelche Blogs, um zu provozieren, aber sie wissen es selbst mittlerweile besser. Beim Artensterben liegt der Fall anders: Es ist viel weniger bekannt als es sein sollte.​

 

Verdorrt und feuerrot: Die Welt des Jahres 2054. Foto: Flare Film

Die Welt des Jahres 2054. Foto: Flare Film

Ihr Film zeigt die verwüstete Welt der Zukunft, indem die Natur feuerrot strahlt – war das ein komplizierter Filmtrick?​

PERSIEL Kompliziert war es, aber keine Computertrick, sondern die Arbeit einer Infrarotkamera, wie sie seit den 50ern schon eingesetzt wird  – dieses Prinzip wurde häufig von der US-Armee im Vietnamkrieg eingesetzt, um in Bildern aus der Luft das reale Grün des Dschungels zu unterscheiden von grün getarnten Wegen. Die Kamera kann Chlorophyll-Grün von grüner Farbe unterscheiden. Wir haben einen neuen Filter eingesetzt, der die Kamera alle Farben normal wiedergeben lässt, nur das grüne Chlorophyll wird zu Rot.​

In Ihrem Film, ohne dessen Ende vorweg zu nehmen, gibt es trotz allem Optimismus. Wie optimistisch sind sie, was die Realität angeht?​

PERSIEL Das Paradies der Vergangenheit ist verloren. Wir können das Artensterben und den Klimawandel nicht mehr aufhalten, die Situation nicht mehr zurückdrehen. Die Welt wird sich sehr verändern, Ökosysteme werden auseinanderfallen – aber die Natur hat die Kraft, sich zu fangen. Vielleicht gibt es eine Natur der Zukunft nach 200 schlimmen Jahren, mit vielleicht nur noch einem Viertel der Menschen. Es wird geschätzt, dass es vor der industriellen Zeit neun Millionen Tierarten gab. Die haben wir jetzt schon stark dezimiert – und das wird weitergehen, selbst wenn wir jetzt versuchen würden, umzukehren. Wir verlieren die Arten tausendfach schneller als wir dürften. Wir werden sie so oder so um mindestens die Hälfte dezimieren. Ich bin Pessimist, was das Paradies angeht, das es mal gab – das ist für immer verloren. Ich bin aber Optimist im Sinne der Heilkraft der Natur, dass es irgendwann mal wieder schön sein wird auf der Welt – aber so vielfältig wird sie nie wieder sein.​

Ihr Film packt emotional – soll er auch zum Aktivismus bewegen?​

PERSIEL Ja, aber diesen Aspekt habe ich gar nicht so gesehen, als ich mit der Arbeit begonnen hatte. Der Film sollte erstmal berühren und ein Kinoerlebnis sein. Aber das alleine ist eben nicht genug, deshalb will der Film den Zuschauer auch dazu bringen, etwas zu tun. Ich kann jedem nur empfehlen, nicht zuhause rumzusitzen, sondern in den Wald zu gehen und dort etwas zu erfühlen, was schwer zu beschreiben ist. Man ist draußen, die Tierinstinkte werden wach, man spürt den Ort und die Kraft, die man für diesen Kampf braucht. Das geht beim Rumsitzen zuhause nicht. Man muss raus in die Natur.​

 

 

„Raumpatrouille“ im Selbsttest – was sagt einem die „Orion“ heute?

Szene aus "Raumpatrouille" - Eva Pflug als Sicherheitsoffizierin Tamara Jagelosk Foto: Eurovideo / Bavaria

Eine Szene aus „Raumpatrouille“: Eva Pflug als Sicherheitsoffizierin Tamara Jagelovsk, die man als 13-Jähriger für eine ziemliche Spaßbremse halten konnte. Foto: Eurovideo / Bavaria

 

Die Serie „Raumpatrouille“ ist ein Klassiker des deutschen Fernsehens. Jetzt erscheint sie wunderbar restauriert neu fürs Heimkino. Grund genug für einen persönlichen Test: Wie ist das, den Helden der Kindheit viele Jahre später wieder zu begegnen? Ein freudiges Wiedersehen? Oder ein peinliches?​

Abspielen lässt sich das staubige Tonband wohl nicht mehr. Aber der lebenslange Platz im Regal ist gesichert, als nostalgische Perle: ein „Magnetophonband“ von BASF, mit (laut BASF) 540 Meter aufgerolltem braunen Band, in einer roten Papphülle zum Ausklappen; dort steht in meiner krakeligen Kinderschrift und nicht ganz fehlerfrei „Raumpatriulle“. („Raumpatrouille“ ist schließlich kein ganz einfaches Wort.) 44 Jahre alt müssen die Handschrift und das Artefakt sein, mit vom Fernseher aufgenommenem Ton, als die Serie im Juni/Juli 1979 wiederholt wurde.​

 

Das alte Tonband, mit dem ich einst die erste Folge aufgenommen habe - und danach wieder und wieder angehört.

Das alte Tonband, mit dem ich einst die erste Folge aufgenommen habe – und danach wieder und wieder angehört.

Jetzt, 57 Jahre nach ihrer Erstausstrahlung ab September 1966, sind die Abenteuer der „Orion“, eine Pioniertat des deutschen Fernsehens, technisch exzellent restauriert fürs Heimkino erschienen, wenn auch ohne neues Zusatzmaterial, und laufen am 19. Mai beim Sender ONE. Grund genug, sich die sieben Folgen in einem Rutsch noch einmal anzuschauen und zu grübeln: Wie ist das, eine Serie, die man als Kind geliebt hat, Jahrzehnte später im gesetzten Alter noch einmal zu sehen? Was gefällt einem besser als damals? Was wirkt heute merkwürdig? Was befremdet vielleicht?​

Die „Frogs“ lassen immer noch gruseln​

Konstant geblieben ist manches: der Charme von Peter Thomas’ schmissiger Musik mit futuristisch angeschrägtem BigBand-Sound. Die Spannung der meisten Folgen, der Grusel vor den lichterflirrenden „Frogs“, die den Planeten Erde erobern wollen. Und natürlich die Verehrung für den Helden des Ganzen, Cliff Allister  McLane, kernig gespielt von Dietmar Schönherr. Ein Mann mit dem Hang zur charmanten Großspurigkeit; in Krisensituationen schwitzt er schon mal oder schreit herum, manchmal überraschend eruptiv in der zweiten Hälfte eines ruhig begonnen Satzes.​

 

Zeitloses Design - und bitte keine Witze über Bügeleisen! Dietmar Schönherr als Commander McLane, Ursula Lillig als Helge Legrelle. Foto: Eurovideo / Bavaria

Zeitloses Design – und bitte keine Witze über Bügeleisen! Dietmar Schönherr als Commander McLane, Ursula Lillig als Helge Legrelle. Foto: Eurovideo / Bavaria

Mit seinem galaktischen Latein ist er bisweilen am Ende, während die Sicherheitsbeamtin Tamara Jagellovsk (Eva Pflug), die den manchmal rebellischen Raumfahrer an die Kandarre nehmen soll, ihm intellektuell je nach Situation überlegen ist. Als Kind hatte ich die Dame des Geheimdienstes als nervend empfunden, als perückentragende Handlungsbremse; heute ist das Verhältnis McLane/Jagellovsk sehr interessant und wirkt ziemlich progressiv – etwa im Vergleich zu einem anderen TV-Klassiker der Spätsechziger, „Der Kommissar“: Dort sagt der Chef-Ermittler zu seiner Gattin „Du bist dumm, aber lieb“. Hätte Jagellovsk sich das gefallen lassen? Keinesfalls.​

„Dieser Amazonen-Zirkus!“​

Bleiben wir bei den Geschlechtern: Die für präpubertäre Kinderaugen damals ödeste Episode, wegen fehlender Weltall-Action, entpuppt sich heute als eine der interessantesten: „Der Kampf um die Sonne“. Es herrscht auf Terra seit Monaten eine unnatürliche Hitze, die Pole schmelzen; ein Glück, dass die Menschen mittlerweile auch den Meeresboden als Wohnort erschlossen haben. McLane kommt dem Phänomen auf die Spur – hinter dem Klimawandel stecken Abtrünnige auf einem Planeten namens Chroma. Der wird von Frauen regiert, was den Commander spürbar verwirrt und ihn unter anderem „Ich will jetzt endlich den Chef sprechen“ schreien lässt oder auch „dieser Amazonen-Zirkus!“ und „Jetzt rede ich!“. Der weibliche Konter sitzt: „Werden Sie nicht nervös – rauchen Sie eine.“ Die oberste Matriarchatin bescheidet dem ratlosen Raumfahrer auf einem gigantischen Flokati, dass man nur auf Männer zurückgreife, „wenn wir Rechner und Tüftler brauchen“, aber „in punkto Vernunft halten wir nicht viel von ihnen“. Das ist schon ein gerüttelt Maß an Feminismus im Fernsehen des Jahres 1966 – der allerdings dadurch etwa relativiert wird, dass die Damen McLane am Ende als Praktikanten anwerben, denn man hätte es ja „mit der Betonung des Weiblichen“ etwas übertrieben.​

Die beiden „großen galaktischen Kriege“

Interessant ist, wie vor allem in dieser Episode sich die deutsche Vergangenheit in die Zukunftsserie hinein pirscht: Da ist von zwei großen „galaktischen Kriegen“ die Rede, in denen man sich, wie ein Politiker blumig sagt, „nicht, äh, ganz korrekt benommen“ habe. Das könnte der Grund sein, warum sich die feministische Gemeinschaft auf Chroma überhaupt erst gebildet hat und mit der historisch belasteten Erdbevölkerung nichts zu tun haben will. „Ein Kind böser Eltern hat nur die Chance zu gedeihen“, sagt die oberste Matriarchin, „wenn es sich unabhängig von diesen Eltern entwickelt“. Oha. Was mag sich Darsteller Schönherr bei diesen Sätzen gedacht haben, die auch seine Biografie berührten? War er doch Generalssohn, nach eigenen Angaben „faschistisch erzogen“ worden – und später ebenso in der Friedensbewegung aktiv wie bei der Unterstützung Nicaraguas, dabei auch von „Buße“ sprach. Das sind Bezüge, über die man heute nachgrübeln kann, nicht zuletzt, wenn eine Folge schwächelt und einem Zeit zum Nachdenken schenkt: „Deserteure“, über Hypnose- beziehungsweise „Telenose“-Attacken der bösen „Frogs“. Damals ein großer Grusel, heute ein großer Schnarcher.​

 

ReferenzwerK: Josef Hilgers mittlerweile ziemlich rares Buch zur Serie. Foto: Schwarzkopf & Schwarzkopf

Referenzwerk: Josef Hilgers mittlerweile ziemlich rares Buch zur Serie. Foto: Schwarzkopf & Schwarzkopf

Immer noch ein Vergnügen, von gestern und zeitlos zugleich, ist das Design: Was Rolf Zehetbauer, der 1973 einen Oscar für „Cabaret“ erhielt, hier aus Stahl, Beton, Glas, geschwungenen Plastikformen, Plexiglas, Bleistiftspitzern und glänzenden Duschköpfen zusammenzauberte, hat nach wie vor Stil und Atmosphäre. Natürlich – an einer Requisite kommt man nicht vorbei, wird sie doch gerne von ironischen filmischen Erbsenzählen erwähnt: jener Bügeleisengriff in einem Kommandopult. Wer sich da beömmelt und eventuell noch „kultig“ sagt, sollte über diese Lästerung mal in Ruhe nachdenken – warum nicht gleich in der galaktischen Sträflingskolonie Mura aus der Folge „Die Raumfalle“? Die ist eine der spannendsten Episoden mit einem wunderbar bösartigen Wolfgang Büttner, heute wohl vergessen, damals ein großer Bühnendarsteller.​

„Unglaaaaaaaublich!“​

Überhaupt: die Mimen und ihre manchmal kollidierenden Schauspielstile! Als Kind war einem das unwichtig, aber heute ist es schon interessant, wie einige Darsteller sehr modern und lässig spielen, andere wie in einem anderen Jahrhundert. Da ist nicht zuletzt der lässige Friedrich Joloff als Geheimdienstchef Oberst Villa, ein Mann der wunderbar sonoren Stimme und eines schlangengleichen Charmes. Und da ist, als schnarrender Oberbefehlshaber, Franz Schafheitlin, der Sätze wie „Das ist ja unglaaauuublich!“ deklamiert, als müssten sie im Stadttheater noch die letzte Sesselreihe erreichen.

 

Schafheitlin war in der NS-Zeit in den berüchtigsten Propagandafilmen zwischen „Ich klage an“ und „Kolberg“ zu sehen, was irgendwie gut passt in diese Serie – bei der geht es in Zukunftskulissen eben auch sehr gegenwärtig um Krieg, Militär, Geheimdienste und um eine Waffe namens „Overkill“ von atomarer Zerstörungskraft. Da erzählt „Raumpatrouille“ einiges von deutscher Vergangenheit und auch der Gegenwart der 1960er Jahre. Es gibt trotz seines Alters in diesem Universum also überraschend viel Neues zu entdecken – oder, wie es zu Beginn jeder Episode so schön heißt: „am Rande der Unendlichkeit“.​

„Raumpatrouille“ ist bei Eurovideo erschienen: auf DVD, Bluray und 4K UHD.

Informationen zu den Extras.

Zu sehen beim Sender One: 19. Mai, ab 13.20 Uhr laufen alle sieben Folgen.

 

Fantastisch restauriert - die "Raumpatrouille" als neue Heimkino-Edition. Foto: Eurovideo / Bavaria

Fantastisch restauriert – die „Raumpatrouille“ als neue Heimkino-Edition. Foto: Eurovideo / Bavaria

 

Weitere Lektüre:

So entstand der bunte Klassiker „Flash Gordon“

„Sador – Herrscher im Weltraum“ – Roger Cormans bringt „Star Wars“ und „Die glorreichen Sieben“ zusammen

„Auslöschung „von Alex Garland

„Das Blau des Kaftans“ von Maryam Touzani

Das Blau des Kaftans

Saleh Bakri als Halim, Lubna Azabal als Mina.   Foto: Arsenal

 

Die Liebe ist eine Himmelsmacht – und in diesem sehr berührenden Film auch ein Stück Stoff, zumindest symbolisch. Der Kaftan im Laden von Mina und Halim leuchtet strahlend blau, ist eine Auftragsarbeit höchster Schneiderkunst und muss, wie Halim sagt, „der Zeit standhalten“ und seine Besitzer von Generation zu Generation überleben. Das Ehepaar führt eine Schneiderei in der Altstadt von Salé in Marokko, die Zeiten sind schwierig für sie: Die Handwerkskunst Halims wissen immer weniger Kundinnen und Kunden zu schätzen; „niemand merkt den Unterschied zwischen Handarbeit und Nähmaschine“, sagt ihm eine Kundin. Eine andere rät ihm, „einfach schneller zu arbeiten“, denn er gerät mit seinen Aufträgen, die ihre Zeit brauchen, in Rückstand.

„Mehr nicht?“

Das Handwerk lernen will kaum noch jemand, aber mit dem jungen Youssef scheint das Paar einen talentierten Lehrling gefunden zu haben. Der sei „in Ordnung“, sagt Halim. „Mehr nicht?“, fragt Mina – und es ist klar, wie die Frage gemeint ist. Denn sie weiß, was man im Film bei einem Gang Halims ins Dampfbad erfährt: Er ist homosexuell, sucht und findet dort eher Sex als Romantik, schnell und im Verborgenen. Um Liebe geht es da nicht, denn die empfindet er für seine Frau – während sich zwischen ihm und dem neuen Lehrling auch eine Zuneigung entwickelt. Diese Grundkonstellation mag sich etwas konstruiert und platt lesen – der Film selbst ist es nicht. „Das Blau des Kaftans“ ist ein wunderbar intimes Kammerspiel mit vielen Zwischentönen und Schattierungen. Die Dialoge sind knapp, aber vielsagend, die Musik sparsam, jede Geste und jeder Blick zählen in diesem Film, in dem es nicht um homo contra hetero geht, sondern, so schlicht und einfach wie kompliziert, um die Liebe zwischen Menschen.

Haft wegen Homosexualität

Die Ehe von Halim und Mina scheint anfangs erlahmt zu sein, vom Alltag etwas ausgebleicht; doch immer wieder zeigen kleine Momente, wie nahe sich die beiden stehen – unter anderen in einer vielsagenden Szene, in der er sie mit in ein Café nimmt, wo sich ausschließlich Männer vor einem Fernseher tummeln und ein Fußballspiel kommentieren. Der Kellner ignoriert die Frau, Halim bestellt für sie, und irgendwie genießen die beiden, hier zusammen zu sein – sie, die offensichtlich Unerwünschte, und er, der in dieser Männerherde sozusagen unerkannt bleibt. Notgedrungen, drohen in Marokko für Homosexualität doch bis zu drei Jahre Haft.

Der „Tod in Venedig“ und das Leben danach

„Das Blau des Kaftans“ ist der zweite Spielfilm der marokkanischen Autorin und Regisseurin Maryam Touzani. In ihrem Debüt „Adam“ über die Freundschaft zweier Frauen in Casablanca spielte Lubna Azabal eine Hauptrolle wie im „Kaftan“. Erneut bietet sie eine intensive Darstellung: hier als Frau, die durchaus mit Eifersucht auf den neuen Lehrling reagiert, zugleich ihren Mann schützen will und ermuntern, sich nicht derart zurückzuziehen, wie er es tut. Saleh Bakri spielt den Ehemann mit einer stillen Autorität, die doch immer wieder zu bröckeln droht – möglicherweise schämt sich Halim für seine unpersönlichen, wohl lieblosen Sex-Ausflüge im Dampfbad (der Film ist da sehr diskret, mehr als nackte Männerfüße und eine heruntergelassene Unterhose sieht man nicht). Ayoub Messioui spielt den Lehrling, dem schnell klar wird, dass er hier in eine sehr komplexe Beziehung eindringt, als er sich zu Halim hingezogen fühlt. Zumal sich die Situation noch zuspitzt, als Mina ernsthaft erkrankt.

Eine Utopie?

Die Bildsprache des Films ist meisterlich. Die Kamerafrau Virginie Surdej zeigt die Räume in erdigen Farben, aus dem die Stoffe der Schneiderei – vor allem das Blau des Kaftans – immer wieder herausstrahlen. Die Kamera ist nahe an Gesichtern, an nähenden Fingern, an schwitzenden Körpern im Dampfbad. Alles wirkt hier zugleich heimelig wie beengend, der Film verbleibt bis fast zum Ende, bei dem der titelgebende Kaftan eine Rolle spielt, in den Gassen der Altstadt; das nahe Meer können die Figuren nur erschnuppern, wie eine Verheißung auf ein freieres Leben, das den Dreien dann doch zumindest vorübergehend gelingt. Eine Utopie? Wenn ja, dann keine naive – der Film schließt mit einem Bild, das so optimistisch wie melancholisch ist, Freiheit und Unfreiheit zusammenbringt.

DVD bei Good!movies.
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag, 18. auf 19. Juli 2024, ab 0.15 Uhr im WDR.

"Petrovs Flu"

Petrova (Chulpan Khamatova) auf der Jagd.   Foto: Farbfilm Verleih

 

Donnerlittchen, was für ein Film. Viel Wahl lässt einem „Petrov’s Flu – Familie Petrow hat die Grippe“ nicht: Entweder wird einem dieser rastlose, überbordende Film an und auf die Nerven gehen. Oder man lässt sich mitnehmen von diesem reißenden Bewusstseinsstrom der grotesken Bilder und der bizarren Ideen. Wie auch immer, nach den 145 Minuten wird man in jedem Fall gerne erst mal frische Luft schnappen wollen – genau so wie jene vermeintliche Leiche im Film, die aus einem Sarg steigt, in diesem knallbunten Personal-Panoptikum damit aber nicht einmal als besonders ungewöhnlich auffällt. Irgendwann wundert man sich über nichts mehr.​​

Inszeniert hat das der russische Bühnen- und Filmregisseur Kirill Serebrennikov, ebenso international preisgekrönt wie verhasst beim Putin-Regime in Moskau und der russisch-orthodoxen Kirche. Die protestierte etwa gegen seine Ballett-Inszenierung über den legendären Tänzer Rudolf Nurejew (1938-1993), der homosexuellund in den Westen geflüchtet war. Serebrennikow inszenierte unter anderem am Bolschoi-Theater und war ab 2012 künstlerischer Leiter der Moskauer Avantgarde-Bühne „Gogol- Zentrum“; das wurde 2017 von Strafverfolgungsbehörden durchsucht, ebenso wie Serebrennikows Wohnung. Der Vorwurf: Veruntreuung von Staatsgeldern, ein Vorwurf, den der Regisseur als „irrsinnig“ bezeichnete. Serebrennikow wurde im August 2017 verhaftet, im Juni 2020 zu einer dreijährigen Haft auf Bewährung verurteilt.​

Ein Bus voller Volkszorn

Es überrascht nicht, dass der Regisseur in „Petrov’s Flu“ Russland in dunklen Farben zeichnet. Nach der literarischen Vorlage, Alexei Salnikows „Petrov hat Fieber. Gripperoman“ (verlegt bei Suhrkamp), erzählt der Film vom Comiczeichner/Autor/Autoschlosser Petrov, der zu Anfang in einem Bus unterwegs ist. Draußen rieselt leise der Schnee, innen wird laut gehustet (vor allem von Petrov), gerempelt und gemault – nicht zuletzt über den Zustand des Landes. „Gorbatschow hat das Land verkauft, Jelzin hat es versoffen“, heißt es da; zu dieser Kurzanalyse des postsowjetischen Russlands gesellen sich noch Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Dieser Bus voll brodelnden Volkszorns hält an, Petrov wird herausgeholt, Männer drücken dem Hustenden und Torkelnden eine Kalaschnikow in die Hand – er muss mal eben bei der Hinrichtung einer gut gekleideten Abendgesellschaft mitschießen. Deren Forderung nach einer ordentlichen Verhandlung wird durch einen kurzen Feuerstoß abgerissen, Petrov darf zurück in den Bus, weiter geht die Fahrt.​

Roadmovie „Abteil Nr. 6“ in der ARD-Mediathek

Träumt Petrov? Oder suchen ihn Erinnerungen heim? Oder durchdämmert und durchschwitzt er längst einen wahnwitzigen Fiebertraum – mit uns an seiner Seite? Wie auch immer: Technisch ist das virtuos gemacht, mit einer minutenlangen Einstellung ohne Schnitt (oder ohne sichtbaren Schnitt), die einen unweigerlich und unmittelbar mit ins Geschehen hineinzieht. Serebrennikow gibt bei seinen langen Sequenzen nur selten Signale (oder Warnungen), wenn er uns auf unerwartete Erzähl-Ebenen lockt.​

Prügelei im Lyrik-Zirkel

Weiter geht es in eine öffentliche Bibliothek, in der Petrovs Frau Petrova arbeitet. Sie wundert sich über einen männlichen Kunden, der sich erst Bücher über den Marquis de Sade leiht, dann über Konzentrationslager und dann über Gynäkologie; nebenan tagt ein Lyrikzirkel, bei dem sich die Diskussion über Versrhythmen in eine Schlägerei hineinsteigert. Da werden Petrovas Augen nachtschwarz, den aggressivsten Diskutanten verprügelt sie, bis Blut auf die Lyrikbände spritzt. Realität? Oder Gewaltfantasien einer äußerlich eher stillen Bibliothekarin? Steht hier ein ganzes Land vor dem kollektiven Nervenzusammenbruch?​​

Interview zu Verschwörungstheorien

Es bleibt undurchsichtig, wenn der Film uns zwischendurch und erstmal unmerklich in die Handlung eines Romans führt, den Petrov bei einem Verlag unterzubringen versucht; später engt sich das sehr breite Format der Filmbilder rechts und links ein, mutmaßlich bei Erinnerungen Petrovs an seine Jugend, im letzten Filmdrittel wird es schwarzweiß für eine weitere Geschichte mit Bezug zu Petrov, in der sich Serebrennikov mit einem gewissen Genuss auch über das eigene Metier lustig macht: Da probt eine Theatertruppe mit großer Künstlergeste, als bringe sie Tschechovs Gesamtwerk auf die Bühne – letztlich geht es um Kinderbespaßung.​​

In dieser buchstäblich fiebrigen Gesellschafts-Groteske verbinden sich schwarzer Humor mit Melancholie und Traurigkeit, Resignation angesichts der gesellschaftlichen Zustände mit einem gewissen Trotz der Hoffnung. Alles wirkt muffig und ranzig, die Welt (beziehungsweise Russland) ist, wenn denn mal die Sonne scheint, meist graubraun. Dass ein Film wie dieser in Russland entstehen konnte, überrascht schon – allerdings als Koproduktion mit Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Ein Werk wie eine Antithese zum „Arthouse-Wohlfühlfilm“ – eine enorme filmische Erfahrung.​

Loriot trifft Douglas Sirk: „Da kommt noch was“ von Mareille Klein

Film Da kommt noch was

Zbigniew Zamachowski als Ryszard, Ulrike Willenbacher als Helga. Foto: Weltkino

Die meisten Unfälle passieren ja zuhause, heißt es – manchmal auch die symbolischsten, zumindest in diesem sehenswerten Film.  Da stürzt Helga, beim Versuch, eine Spinne an der Wohnzimmerdecke zu fangen, vom Schemel, kracht durch ein Holzgitter im Boden und bleibt stecken. Die ganze Nacht lang, bis ihre Putzhilfe sie morgens entdeckt. „Ich bin in ein Loch gefallen, ich komme hier nicht alleine raus“, sagt Helga und meint möglicherweise ihr Leben. Das wirkt zwar wohl geordnet, aber sehr, sehr still – das Lauteste im Haus sind das Rattern und das Röcheln ihrer Kaffeemaschine. Vor zwei Jahren, da war Helga um die 60, hat ihr Mann sie wegen einer anderen Frau, der Arzthelferin des Familiendoktors, verlassen; Helga bleiben eine kartenspielende Runde von Freundinnen (über die Tiefe oder Untiefe der Freundschaft kann man streiten) und Konzertbesuche – wenn sie Pech hat, läuft Zeitgenössisches, das an ihren Nerven sägt.

Ein Interview über Loriot

Eine gewisse Unruhe kommt in diesen Gleichlauf der Dinge, als die bewährte Putzhilfe urlaubt und Ersatz empfiehlt: den Polen Ryszard. Dessen Deutschkenntnisse sind begrenzt, Helgas Polnischkenntnisse sind nicht existent. Die Kommunikation holpert also erstmal, doch im Partykeller mit Anmutung der 1970er und Musik der 1990er kommt man sich erst langsam, dann doch ziemlich rasch näher. Helga und dem verwitweten Ryszard geht es zusammen so gut wie lange nicht mehr – doch wie wird das Umfeld mit snobistischer Attitüde auf den Putzmann/Handwerker aus Polen reagieren?

Douglas Sirk und Loriot

„Da kommt noch was“ ist gleichzeitig Tragikomödie und in gewisser Weise auch Gesellschafts-Gruselfilm; die Geschichte erinnert ebenso an Douglas Sirks alte Melodramen wie „Was der Himmel erlaubt“ (Mittelschichts-Witwe liebt jüngeren Gärtner) wie an Loriots subtiles Aufspießen bürgerlicher Konventionen.

Geschrieben und inszeniert hat das die Kölnerin Mareille Klein, Jahrgang 1979, die man vom Saarbrücker Filmfestival Max Ophüls Preis her kennt: Ihre exzellente Dokumentation „Auf Teufel komm raus“, über das Leben eines aus der Haft entlassen Sexualstraftäters, lief 2011 im Wettbewerb; ein Jahr später gewann Kleins „Gruppenfoto“ den Kurzfilmpreis. Nach „Dinky Sinky“ (2016), ihrem Abschlussfilm an der HFF München, ist „Da kommt noch was“ ihr zweiter Spielfilm.

Interview mit Sandra Hüller

Sie erzählt eine zarte Liebesgeschichte, aber auch viel von Hierarchien, von sozialem Gefälle, von Macht und Ignoranz. Wenn Helga etwa ihre Putzanweisungen an Ryszard in einem rudimentären Deutsch-Englisch-Gemisch transportiert und mit „Comprende?“ abschließt. Oder wenn im Freundinnenkreis, wo Ryszard als Handwerker sehr beliebt ist, immer von „mein Pole“ gesprochen wird. „Polen sind gute Handwerker“ heißt es da so nett gemeint wie alltagsrassistisch.

Der Höhepunkt dieses Snobismus, vielleicht auch der Höhepunkt des Films sind die Szenen einer Geburtstagsfeier, zu der Helga und Ryszard eingeladen sind. Dort begegnet man ihm mit freundlicher Neugier, aber auch mit einem Blick von oben herab. Ob seiner mäßigen Kenntnisse der deutschen Sprache fragt man ihn in Rustikal-Englisch „Why not learning language?“, bevor die neue Frau von Helgas Ex-Mann ihren Beruf so erklärt: „I’m the Arzthelperin.“

Da weht schon ein wenig Loriot durch das Besserverdiener-Interieur, auch wenn der Film solche Momente nicht betont komödiantisch ausspielt. Sondern er inszeniert sie ganz realistisch und gibt ihnen damit eine gewisse alltägliche Grausamkeit – wie etwa auch bei Ryszards Toilettenputzen unter Helgas strengem und kenntnisreichem Blick.

Graubraune Fliesen, graubraunes Leben

Zu dem Eindruck, dass vieles direkt aus dem Leben gegriffen wirkt, tragen auch die Kulissen bei, die keine sind: Der Film entstand fast ausschließlich in drei Häusern in Ottobrunn bei München, keine 200 Meter voneinander entfernt. Die Innenausstattung, von Kameramann Patrik Orth („Toni Erdmann“) in breiten Kinobildern eingefangen, wirkt komplett unkünstlich – graubraune Fliesen passen vortrefflich zu Helgas aktuellem Leben, das sich langsam verändert.

Gespielt ist das Ganze bis in die Nebenrollen hin famos. Der in seiner polnischen Heimat sehr populäre Darsteller Zbigniew Zamachowski spielt Ryszard als stillen, zurückhaltenden Mann, der in wichtigen Momenten – nicht zuletzt im Partykeller – Initiative ergreift. Im Zentrum des Films steht aber Ulrike Willenbacher; hinter der Spröde ihrer Figur Helga lässt sie immer eine gewisse Sanftheit durchscheinen, sie schwankt zwischen dem Verletztsein durch das Ehe-Ende und einer stoischen Stärke. Die Komik mancher Situationen und vieler Dialoge spielt sie nicht überdeutlich aus, auch wenn vieles auf stille Weise sehr witzig ist: Etwa wenn Helga sich im Baumarkt vor einer vermeintlichen Freundin in die Bäder-Abteilung flüchtet und dort kleinlaut ausharrt, auf der Tonspur untermalt von einer kernigen Baumarkt-Durchsage über die Vorzüge des „Duschsystems Euphoria“.

 

DVD bei Weltkino, und noch bis 10. Mai in der Arte-Mediathek.

„Buba“ von Arne Feldhusen mit Bjarne Mädel

Buba Bjarne Mädel Netflix

Bjarne Mädel als Jakob Otto alias „Buba“. Foto: Netflix

Merkwürdig – warum zündet das Ganze nicht so richtig? Warum ist „Buba“ nie so gelungen, wie man anhand der Beteiligten erwarten dürfte, eigentlich müsste? Trotz Darsteller Bjarne Mädel, von dem man sich ja ziemlich alles ohne Risiko anschauen kann. Trotz Regisseur Arne Feldhusen, der mit Mädel die TV-Perlen „Der Tatortreiniger“, „Stromberg“, „Mord mit Aussicht“ und „Der kleine Mann“ gedreht hat.  „Buba“, ihre jüngste Zusammenarbeit, hat zwar ihre Momente, aber insgesamt enttäuscht diese Netflix-Tragikomödie.

Bierbauch und schlechte Laune

„Buba“ ist eigentlich eine Nebenfigur aus der Neflix-Serie „How to sell drugs online (fast)“: Jakob Otto alias Buba (Bjarne Mädel), ein blondierter Kleinkrimineller mit schlechter Laune und Bierbauch, der im fiktiven Städtchen Rinseln seinen Geschäften nachgeht. Diese Figur überlebt allerdings die erste Staffel der Reihe nicht, wegen eines Arbeitsunfalls sozusagen – er erschießt sich aus Versehen mit einer Pistole aus einem 3D-Drucker. „Buba“ erzählt nun, als neudeutsch „Prequel“, die Vorgeschichte: Wie der kleine Jakob zum großen Jakob wird und schließlich, in einer kleinen Rahmenhandlung, zum toten Jakob.

Das real existierende Fremdsprachen-Akzent-Syndrom

Die Kindheit in den 1980ern ist traumatisch: Denn während Jakob es sich bei einem Breakdance-Wettbewerb gut gehen lässt, bei dem auch Leonardo DiCaprio mitwirbelt (der 1984 tatsächlich bei einem Deutschland-Besuch bei einem Wettbewerb dabei war), sterben seine Eltern bei einem Unfall. Sein Bruder mit dem schönen Namen Dante überlebt mit einer Kopfverletzung, die ihn a) zum täglichen Schlucken einer Pillen-Kollektion zwingt und b) ihn fortan ein wunderbar schmieriges Österreichisch sprechen lässt – eine Folge des real existierenden Fremdsprachen-Akzent-Syndroms.

Netflix Buba

Bjarne Mädel (links) und Georg Friedrich.

Ob die Drehbuchautoren Sebastian Colley („Kroymann“, „How to sell…“) und Isaiah Michalski („King of Stonks“) diese skurrile Idee bemüht haben, um den Wiener Darsteller Georg Friedrich verpflichten zu können, oder ob erst die Rollen-Idee kam und dann die Besetzung, ist unwichtig: Friedrich, der mit Michael Haneke und Ulrich Seidl drehte, zuletzt im Kino in „Die große Freiheit“ zu sehen war, ist gewohnt exzellent. Kaum jemand spielt das liebgewonnene, wenn auch nicht mehr allzu originelle Klischee vom schmierigen Halbwelt-Ösi besser als er; der fleckige Bademantel, den er hier gerne trägt, ist bei ihm ebenso eine zweite Haut wie beim „Dude“ aus „The Big Lebowski“.

Kritik zu „Die Theorie von allem“

Das Verhältnis der mittlerweile erwachsenen Brüder ist so innig wie angespannt – denn Jakob hat aus seinem Schuldkomplex heraus die Theorie entwickelt, dass es ihm möglichst schlecht gehen muss, damit es dem Rest der Welt, vor allem seinem Bruder, gut geht. Eine Prämisse wie aus einem Märchen – und als solches bezeichnet sich auch selbst der Film, in dessen Welt sich Provinz-Mafiosi tummeln, die zwar aus dem heimischen Hinterland kommen, sich aber als Albaner ausgeben, „weil die Leute dann mehr Angst haben“. Bei diesen Pseudo-Albanern heuern die Brüder an und erpressen zum Einstand Schutzgeld, mit mal weniger, mal mehr Brutalität.

Zu viel Guy Ritchie?

Da wirkt es so, als hätten sich die Drehbuchautoren Guy Ritchies schräge Gangsterfilme wie „Bube, Dame, König, Gras“ und „Snatch“ ein oder zweimal zu oft angeschaut; ein Gefühl von Déjà-vu kommt auf. Wenn Gangster über rare Figuren aus Überraschungs-Eiern debattieren oder ihre Chefin (Maren Kroymann) in Seelenruhe und unter aller Augen ein Stück Torte ist, wirkt das manchmal bemüht skurril; die angestrebte Lässigkeit hat etwas Krampfiges. Und ob man die Szene vom Samenraub bei einem Pferd nun drollig oder lediglich derb findet, wird wohl davon abhängen, wie lange man die Pubertät schon hinter sich hat.

Lustige Kopfschüsse?

Natürlich schaut man Mädel und Friedrich gerne zu, wie sie in ihrer muffigen Wohnküche von einem besseren Leben träumen, wenn Dante grantelt, die Brüder müssten „jetzt mal groß denken“; wenn Jakob sich verliebt, weswegen ihn sofort die Sorge umtreibt, dass etwas Schreckliches passieren muss, da es ihm nun ausgesprochen gut geht. Eine Traumsequenz, untermalt von Georg Danzers „Weiße Pferde“ (das Wienerische verfolgt Jakob also auch in den Tiefschlaf), ist originell – aber das große Finale enttäuscht dann: mit hysterischen, neu hinzugekommenen Gangstern, einer bemühten Wendung und einer Schießerei, bei der man sich fragen darf, ob Kopfschüsse im Film so lustig sind, wie die Drehbuchautoren denken.

„Buba“ ist bei Netflix zu sehen, ebenso wie „How to sell drugs online (fast)“.
In der ARD-Mediathek kann man sich mit Bjarne Mädel einige „Tatortreiniger“-Folgen anschauen, außerdem „Sörensen hat Angst“ sowie „Sörensen fängt Feuer“ von und mit Mädel.

„The Innocents“: Schrecken und Freiheit der Kindheit

The Innocents capelight

Ida (Rakel Lenora Flotta) entwickelt ungeahnte Kräfte. Foto: Capelight / Mer Film

Wie kommen wir auf die Welt? Wie ein unbeschriebenes Blatt, moralisch gesehen? Ohne Empathie und Moral, die wir noch erlernen müssen? Oder wie ein Engel – mit reinem Herzen, das im Laufe des Lebens nicht mehr so rein bleibt? Diese Fragen stellt sich der außergewöhnliche norwegische Film „The Innocents“, der vom Schrecken und der Freiheit der Kindheit erzählt.

Glasscherben in den Schuhen

Die junge Ida zieht mit ihrer Familie um, in einen gepflegten Hochhauswohnblock am Waldrand. Ihre ältere Schwester Anna leidet an Autismus; vor Jahren hat sie sich fast ganz in sich zurückgezogen, die Kommunikation mit der Familie ist minimal. Die Eltern kümmern sich vor allem um sie und vernachlässigen dabei Ida, die dadurch eine gewisse Härte entwickelt hat – manchmal kneift sie Anna mit aller Gewalt, ohne dass die den Schmerz nach außen tragen kann. Einmal steckt sie sogar Glasscherben in die Schuhe der Schwester.

Beiläufige Brutalität

Es ist mutig von Regisseur und Autor Eskil Vogt, dass er uns solch eine Hauptfigur an die Hand gibt – und höchst gekonnt, wie er sie als Mensch auslotet, deren Handlungen anfangs einige Male grausam sind und doch noch im Bereich einer kindlichen Unschuld beziehungsweise Unwissenheit bleiben. Ida lernt den jungen Ben kennen, der auf dem Fußballplatz gehänselt wird und im Wald Ida Außergewöhnliches zeigt: Mit der Kraft seiner Gedanken kann er Gegenstände bewegen. Ben und Ida, die eine ähnliche Begabung bei sich entdeckt, beginnen einige Experimente, wobei der Film in einer Szene mit einer Katze mit ungeheurer, zugleich beiläufiger Brutalität verstört.

Capelight

Ben (Sam Ashraf) überschreitet mit seinen Kräften Grenzen. Foto: Capelight / Mer Film

Ben ist nicht der einzig übernatürlich Begabte in dieser sommerlichen Hochhaussiedlung: Die junge Aisha kann die Gedanken der Bewohner „hören“ und entwickelt eine besondere Beziehung zu der autistischen Anna, deren abgeschottete Innenwelt sie erspüren kann. Die Vier bilden ein übernatürliches Quartett, wobei sich für sie die Frage stellt – wie geht man mit dieser Macht um? Ben ist der Einsamste und Gekränkteste der Gruppe und lebt das am stärksten aus. Seine desinteressierte Mutter (mit Kippe und Dauer-Handy etwas grobschlächtig charakterisiert) lernt seine Macht in der Küche kennen, unter anderem in Form einer gusseisernen Pfanne und eines Topfs mit kochendem Wasser. Später entdeckt Ben die Fähigkeit, Menschen zum Instrument seiner Rache-Fantasien zu machen.

German Grusel: „Die Schlangengrube und das Pendel“

So beklemmend und erschreckend der Film in diesen Szenen auch ist – es ist kein üblicher Horror, der vor allem auf den Schock-Effekt setzt und eindimensional ist. „The Innocents“ blickt in das Innenleben seiner Figuren, in denen es angesichts ihrer Kräfte brodelt. Als Bens Aktionen immer grausiger werden, widersetzen sich die drei anderen Mädchen. Es kommt zu Gewissensentscheidungen und zum großen Konflikt, den man aber nicht simpel „Gut gegen Böse“ nennen kann – es ist vor allem die Abkehr von einer kindlichen Unschuld, die bewusste Entscheidung, notgedrungen Schuld auf sich zu laden. Mord, um weitere Morde zu verhindern.

Der Film „Hagazussa“ und seine Regisseur Lukas Heigelfeld

„The Innocents“ baut seinen Schrecken subtil und langsam auf, Kameramann Sturla Brandt Grovlen setzt den Wohnblock nicht vordergründig als Burg des Horrors in Szene, sondern als sonnenbeschienene Siedlung, in der doch der Grusel lauert. Sei es in den hohen und anonymen Treppenhäusern oder in den endlosen Kellergängen, die die Kamera suggestiv durchschwebt. Der Film konstruiert dabei meisterlich  eine hermetisch geschlossene Welt der Kinder – die Erwachsene sind Randfiguren, verstehen vieles falsch, vieles gar nicht. Wir sind ganz bei diesem Quartett, deren junge Darsteller durchweg fantastisch sind. Die hat Regisseur Vogt anderthalb Jahre lang gesucht und vor den Dreharbeiten lange mit ihnen gearbeitet – da ist kein unglaubwürdiger Moment dabei in diesem Film, der gleichermaßen ans Herz wie an die Nerven geht.

Auf DVD von Capelight. , aktuell auch in der Mediathek von 3sat.

Edler Zwirn, feine Nase: Der schwedische Mehrteiler „Hjerson“

Hjerson (Johan Rehborg) und Sandberg (Anna Halström). Foto. ZDF / Edel Motion

Ermittlungsarbeit in der Küche: Hjerson (Johan Rehborg) und Sandberg (Anna Halström). Foto. ZDF / Edel Motion

„Das Letzte, was die Welt jetzt braucht, ist eine weitere Krimireihe im Fernsehen.“ Sagt die Hauptfigur einer weiteren Krimireihe im Fernsehen. Vielleicht soll diese Ironie auf der Meta-Ebene ja der Kritik den Wind aus den Segeln nehmen – angesichts einer unbestreitbaren TV-Krimi-Schwemme, nicht zuletzt aus den skandinavischen Ländern. „Hjerson“ heißt dieser Mehrteiler aus Schweden, dessen Ursprung in England liegt: bei Agatha Christie, der Königin des „Whodunit“, bei dem die minutiöse Aufklärung eines Verbrechens mit möglichst vielen Verdächtigten im Zentrum steht.

Christie (1890-1976) erfand nicht nur den Meisterdetektiv Hercule Poirot oder die Miss Marple, sondern auch eine Krimischriftstellerin namens Ariadne Oliver, die wiederum eine Hauptperson für ihre Krimis ersonnen hat: den schwedischen Ermittler Sven Hjerson. Und eben der ist die Titelfigur dieses ambitionierten Mehrteilers (vier mal 90 Minuten). Wie nahe der nun dem Werk Agatha Christies steht oder ob man sich vor allem mit ihrem Namen schmücken will, müssen deren Kenner beurteilen. Sehenswert ist „Hjerson“ jedenfalls, wobei sich die Serie abhebt von einigen anderen Krimis aus Skandinavien, bei denen Orte wie Seelenlandschaften gerne neblig trüb sind. „Hjerson“ ist bunter (wie seine Kleidung), filmisch verspielter und humoristischer – den Todesfällen und schicksalhaften Verstrickungen zum Trotz.

„Milf-Hotel“ füllt geistig nicht mehr aus

Zu Beginn steckt die TV-Produzentin Klara Sandberg (Hanna Alström) in der Krise – Trashformate wie „Milf Hotel“ füllen sie nicht aus, doch eine neue Idee beflügelt sie: Warum nicht eine halb-dokumentarische Krimi-Serie mit dem legendären Ermittler Sven Hjerson (Johan Rheborg) auf den Weg bringen, der einige der kniffligsten Fälle der schwedischen Kriminalgeschichte aufgedröselt hat? Das erste Problem: Hjerson hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, scheint unauffindbar. Das zweite Problem: Als Sandberg ihn aufspürt, hat er nicht das geringste Interesse, Teil einer TV-Serie zu werden. Er braucht die Welt nicht, seine erlesene Garderobe und der tägliche Gang zum Friseur (trotz schütteren Haars) sind ihm Lebensbegleiter genug. Doch flüchten kann er vor der TV-Produzentin nicht, befinden sich beide doch auf einer Fähre. Als dort ein Mord geschieht, kann Hjerson den alten Spürsinn nicht verdrängen (und die Fernsehfrau nicht loswerden).

Vor dem Hintergrund der Krimi-Handlung – etwa einem Todesfall bei Kino-Dreharbeiten – erzählen die Episoden von der beginnenden Freundschaft zwischen Ermittler und Produzentin, von deren etwas aus dem Tritt gekommenen Liebesleben und Hjersons schwieriger und verdrängter Kindheit, die er langsam aufblättert. Gerade dieser Strang ist interessant (manchmal interessanter als der Krimi-Plot), zumal Darsteller Rheborg die Kauzigkeit und die Ticks von Hjerson nicht überzieht – man fühlt mit ihm mit, trotz seiner immer mal aufblitzenden Arroganz und seiner scheinbaren Gefühlskühle.

Die erste Staffel von „Hjerson“ ist in der Mediathek des ZDF zu sehen und auf DVD bei Edel-Motion erschienen.
DVD-Extra: Ein kurzes Interview mit den Hauptdarstellern.

„Helden der Wahrscheinlichkeit“ mit Mads Mikkelsen

Mads Mikkelsen Helden der Wahrscheinlichkeit

Die Rache-Gang von links: Otto (Nikolaj Lie Kaas), Emmenthaler (Nicolas Bro), Lennart (Lars Brygmann) und Markus (Mads Mikkelsen). Foto: Weltkino

Obacht – vom Trailer sollte man sich nicht täuschen lassen. Der lässt einen bleihaltigen Rachefeldzug vermuten, als wolle Mads Mikkelsen den Karriereweg von Liam Neeson beschreiten und zum grimmigen Actionhelden mittleren Alters mutieren. Doch „Helden der Wahrscheinlichkeit“ ist dann doch ein ganz anderer Film: Um Trauer und Traumata geht es, um Familie und gegenseitige Hilfe, um nichts weniger als den Sinn des Lebens – filmisch verpackt in ein Werk, das von einem auf den anderen Augenblick umschlagen kann: von düsterem Drama zum knochenharten Actionfilm, von schwarzer Komödie zu einer philosophischen Betrachtung des Menschseins. Wie der dänische Autor und Regisseur Anders Thomas Jensen das zusammenbringt (und schlüssig zusammenhält), ist schon eine große Kunst.

„Sie hat einfach aufgehört, zu existieren“

Bei einem Zugunglück stirbt die Frau des dänischen Soldaten Markus (Mikkelsen) und Mutter der jungen Mathilde. In ihrer gemeinsamen Trauer ist der Vater keine Hilfe für die Tochter, die er ohnehin – wohl durch seine oftmalige Abwesenheit – nicht wirklich kennt. Psychologische Hilfe lehnt er ab, denn „Fremde stören nur“; mehr als die Tochter zum Joggen zu bewegen, damit sie nicht pummelig wird, fällt ihm auch nicht ein. In einer intensiven Dialogszene macht er ihr seine Weltsicht recht barsch klar: Die Mutter sei jetzt in keiner besseren Welt, sondern „sie hat einfach aufgehört, zu existieren“. Und es gebe weder Gott noch irgendeine Bestimmung oder einen tieferen Grund für den Tod der Ehefrau; alles sei letztlich zufällig und ohne Sinn. Für Markus sind das schon viele Worte, denn am ehesten drückt er sich durch Aktion und Gewalt aus, die Teil seines Berufs ist  – den Freund der Tochter schlägt er im Affekt, sein Versuch der Entschuldigung ist vielsagend ignorant: „Ich hätte nicht so hart zuschlagen sollen.“

Rache ist grausig

Zwei Besucher brechen Markus‘ Trauerstarre zumindest ein wenig auf. Die verhuscht wirkenden Wissenschaftler Otto und Lennart, fasziniert von Statistiken und beseelt von der Idee, das Leben mit Zahlen irgendwie berechenbar zu machen, haben eine Theorie: Das Zugunglück war kein Unfall, sondern herbeigeführt – im Zug saß der Abtrünnige eines kriminellen Rocker-Clans mit dem ironischen Namen „Riders of Justice“ (so heißt der Film auch international), der gegen die Bande in einem Prozess aussagen wollte. Also ein Anschlag der Rockerbande? Die Idee erhärten Otto und Lennart mit ein paar mehr oder weniger stichhaltigen Indizien, und Markus tut, was er am besten kann – Gewalt ausüben. Umgehend ist der erste Rocker tot, die Bande schlägt zurück. Das Spiel der Gewalt ist eröffnet und beschert dem Film einige kurze, aber drastische Actionszenen, wobei sich nicht das Gefühl der Genugtuung wie in anderen Filmen mit Rache-Thematik einstellen will. Markus` Rache ist nicht süß, sondern grausig.

Schicksals-WG der verwundeten Seelen

Zugleich geschieht etwas anderes: In Markus‘ Haus wächst langsam eine Art Schicksals-WG der verwundeten Seelen zusammen. Die beiden Wissenschaftler, zusammen mit einem übergewichtigen und extrem cholerischen Kollegen, werden so etwas wie notwendige Ersatzväter für die trauernde Tochter. Mit im Bunde ist auch ein eher zufällig aus den Fängen der Bande befreiter Strichjunge, der sich nun als eine Art Au-Pair-Hilfe betätigt. Da kehrt so etwas wie Frieden ein in dem Haus, wo sich vorher wortlose Trauer breitmachte. Herzerwärmend ist das, aber Autor/Regisseur Jensen überzieht es nicht ins Gefühlige. Seine allesamt vom Schicksal gebeutelten Figuren, einige von ihnen in ihrer sozialen Inkompetenz dann doch eher mögens- denn liebenswert, finden nicht das große Glück, aber zumindest wieder halbwegs zurück ins Leben. Das ist aus der Sicht des Films eine ganze Menge, auch aus der Sicht von Markus, der sich am schwersten tut mit dieser neuen Familie der Angeschlagenen. Er muss sich ohnehin um die Rocker kümmern, die den neuen Frieden stören wollen.

„Arctic“ mit Mads Mikkelsen

Folgt das Leben einer bestimmten Ordnung? Oder ist alles nur Zufall, mal glücklich, mal tragisch? Und falls ja – macht das das Leben an sich sinnlos? Darum geht es letztlich in diesem exzellent gespielten Film, der nicht vorgibt, die letzten Antworten zu kennen. Nur eines im Leben ist eine Gewissheit: Mads Mikkelsen trägt im Finale den bizarrsten Skandinavier-Pulli der Filmgeschichte.

TV-Termin: In der Nacht von 19. auf 20. Januar, 0.15 Uhr, bei Bayern 3. Aktuell in der Mediathek der ARD.
DVD und Bluray bei Splendid Film.

« Ältere Beiträge

© 2024 KINOBLOG

Theme von Anders NorénHoch ↑