Turbine Medien

Jim und Hilda, als die Welt noch in Ordnung ist. Foto: Turbine

 

Am Ende hört das Zahnfleischbluten gar nicht mehr auf. Die Haare fallen in Büscheln auf den staubigen Boden – und es bleibt nur noch das Beten des Psalms 23, den das alte Ehepaar nicht mehr ganz zusammenbekommt. Die letzte Viertelstunde von „Wenn der Wind weht“ ist erschütternd – nachdem der Film zuvor die Härte seiner Geschichte noch ein wenig mit einem gewissen schwarzen, manchmal grausigen  Humor abgemildert hatte. Der britische Zeichentrickfilm von 1986, der jetzt in einer mustergültigen Edition mit viel Bonus-Material erstmal aus Blu-ray erscheint, erzählt eine einfache Geschichte: In England schlägt eine Atomrakete ein, ein Ehepaar versucht, sich eine Art Schutzraum zu bauen, angeleitet von einer himmelschreiend verharmlosenden Broschüre der Regierung. Die rät etwa, die Fenster weiß zu streichen, das helfe gegen die radioaktive Strahlung. Das hilft natürlich nicht – aber was sollte auch helfen?

Lotte Reinigers „Prinz Achmed“ auf Bluray

Die Buchvorlage schrieb und zeichnete der  englische Künstler Raymond Briggs, der zuvor eher für Kinderbücher bekannt war wie „Oje, Du fröhliche“ (über einen vom Advent gestressten Weihnachtsmann). „Wenn der Wind weht“ erschuf er Anfang der 1980er Jahre, bewegt von der Angst vor Aufrüstung und einem atomaren Krieg. Im Buch wie Film steht fast ausschließlich das Paar Jim und Hilda Bloggs im Mittelpunkt, die Außenwelt dringt anfangs noch per Radio und Telefon zu ihnen, dann ist Stille. Insuläre Eheleute im beschaulichen Hinterland sind sie; er zumindest informiert sich noch ein wenig über die Weltlage, sie lebt ganz für eine britische Idylle zwischen Teestunde, Würstchen und Hackbraten. Briggs lässt da zwei schlichte Gemüter mit dem Unfassbaren kollidieren – der Auslöschung eines ganzen Landes, dem Ende der Welt.

 

Turbine Medien

Abendessen nach dem Einschlag. Foto: Turbine

 

Die politischen Spannungen und die Bedrohung durch Russland vor der Explosion versucht vor allem Hilda noch zu ignorieren. In den Zeitungen stehe ohnehin „nur Quatsch“, außerdem haben „wir den letzten Krieg überlebt, dann werden wir auch den nächsten überleben“. Als die letzten Radionachrichten melden, dass in drei Minuten eine Atomrakete einschlägt, sagt Hilda: „Dann hole ich noch schnell die Wäsche rein.“ Eine Atomexplosion verwüstet das Land, was der Film (inszeniert von Jimmy Murakami, „Sador – Herrscher im Weltraum“) nur aus der Perspektive des Paares zeigt und dafür von reinem Zeichentrick zu einer Mischung aus Animation und Modelltrick wechselt: Die Möbel werden von einer Druckwelle durchs Haus gewirbelt, zurück bleibt eine Ruine. Die einst sattgrünen Wiesen sind schwarzes Ödland, durch das der radioaktive Wind pfeift.

Stalin war ja „immer sehr nett“

Briggs gönnt seinen Figuren kleine Fluchten des Elends, vor allem auf dem Weg der Verklärung der Vergangenheit. „War eigentlich schön der Krieg damals“, sagt Hilda, die auch Stalin mit seinem onkeligen Schnurrbart „immer sehr nett“ fand, ebenso wie das Übernachten in U-Bahnschächten, wenn deutsche Bomben fielen. Jim steigert sich in eine Kriegsfantasie hinein, in der England zurückschlägt und Russland die Demokratie aufzwingt, angeführt vom legendären „Monty“ Montgomery, von dem Jim nicht weiß, ob er nicht schon längst gestorben ist. Rule Britannia. Hatte Autor Briggs hier nebenbei auch eine Parodie auf manche seiner betont rückwärtsgewandten Landsleute im Sinn? Man kann sich vorstellen, wie Jim und Hilda zum Brexit stehen würden. In jedem Fall federt dieser Humor die Härte der Handlung lange etwas ab – bis es ans Sterben geht und man sich nichts mehr schön reden kann.

Stimmen von Brigitte Mira und Peter Schiff

Meisterlich ist „Wenn der Wind weht“ in seiner kompromisslosen Konsequenz, zudem hat der Kontrast zwischen der Handlung und der knubbelnasigen und zarten Zeichnung seiner Figuren eine manchmal fast verstörende Wirkung. Synchronisiert wurde dieses Zwei-Personen-Weltuntergangsstück von zwei sehr prägnanten Schauspielern: Brigitte Mira (ebenso Fassbinders „Angst essen Seele auf“ wie der TV-Klassiker „Drei Damen vom Grill“) und Peter Schiff – mit seiner leicht angerauten Stimme sprach er auch den Computer Hal in der deutschen Fassung von Kubricks „2001“. In der Originalfassung von „Wenn der Wind weht“ sind es die britischen Bühnenstars Peggy Ashcroft und John Mills – der Vergleich beider Fassungen lohnt sich, klingt Ashcroft doch etwas weniger naiv und verhuscht als Mira, und Mills etwas weniger  wissend und alles erklärend als Schiff. Da besitzt das Ehepaar ein anderes, ausgeglicheneres Kräfteverhältnis.

Bowies 80er-Aroma

Zeitlos wirkt dieser Film, nimmt man die Musik aus: David Bowies Titelsong hat das deutliche Aroma jener 1980er Jahre, in denen er sich schwer tat – hier ist das Pathos ziemlich aufdringlich, im Gegensatz zum Film, der das umgeht. Und eine sehr konventionelle Ballade  von Roger Waters zum Abspann hätte es nicht gebraucht, sie wird dem unkonventionellen Film nicht gerecht. Vielleicht wollte man dem Publikum keine Stille oder das schlichte Heulen des verseuchten Windes nicht zumuten.

 

Bonusmaterial:
Gutes Booklet.
Zwei Dokumentationen zum Film.
Audiokommentar von Schnittassistent Joe Fordham und Filmhistoriker Nick Redman.
Tonspur nur mit Musik und Klangeffekten.
Interview mit Raymond Briggs.
Internationale Trailer.

Erschienen bei Turbine Medien.
www.turbine.de