Film und dieses & jenes

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„Der Schnorchel“ aus dem Hause Hammer – gute Heimkinoveröffentlichung von Anolis

Natürlich: Dracula und Frankenstein, Peter Cushing und Christopher Lee, dazu geplante Invasionen aus dem Weltall in den Quatermass-Filmen – das verbindet man am ehesten mit den Werken der britischen Film-Firma Hammer. Doch die bot durchaus mehr als Horror. Der Film „Der Schorchel“,  1957 hammer-untypisch, weil relativ kostspielig, auch in Italien gedreht, ist ein kleiner, feiner, manchmal überraschend böser Thriller der Briten. Peter van Eyck, dank „Lohn der Angst“ ein veritabler Euro-Star, spielt einen Mann, der seine Gattin ermordet – in einer trickreichen, minutenlangen, dialoglosen Eröffnungssequenz, in der er eine Taucherbrille, Schnorchel, Gas und Gummischläuche braucht. Die Polizei glaubt an einen Freitod (worauf der Mörder spekuliert), nur seine junge Stieftochter ahnt, was geschehen ist. Doch niemand glaubt ihr, und der Mörder weiß, dass sie das nächste Opfer sein muss.

Im Mittelteil des Films von Guy Green stellt sich eher solide Spannung denn Hochspannung ein, aber im Finale zieht der Film an und bietet eine schöne Schlusspointe. Van Eyck, wunderbar ölig und von finsterem Charme, tut das, was sich nicht jeder Bösewicht traut (ACHTUNG SPOILER!!): Er bringt den süßen Filmhund um.

Die Extras der Bluray (auf der Hülle unterschlagen) sind exzellent: ein Audiokommentar mit Uwe Sommerlad und Volker Kronz, Booklet und Audiokommentar von Rolf Giesen, dazu ein 23-Minuten-Special über Komponist Francis Chagrin, Bildergalerien, Trailer – und eine Rekonstruktion des Endes, wie Drehbuchautor Jimmy Sangster es eigentlich im Sinn hatte. Doch diese grimmige „Rache ist süß“-Variante hat sich Hammer dann doch nicht getraut.

Erschienen bei Anolis.

 

Die Geschichte der Hammer-Studios.

Die Doku „The Frankenstein Complex“.

German Grusel: „Die Schlangengrube und das Pendel“

 

 

 

 

„Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ von Claudia Müller


Elfriede Jelinek in einer alten TV-Sendung, ein Ausschnitt ist auch im Film zusehen. Foto: Plan C

Egal, ob es nun ein Ziel dieser Dokumentation ist oder nicht: Hat man den Film gesehen, möchte man im nächsten Buchladen nach Werken der Schriftstellerin schauen. „ Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ ist ein packendes, dichtes Porträt – literarisch, biografisch und politisch, voller Texte und Sprachlust, voller klug montierter Bilder und Szenen. Man ist sofort mittendrin im Thema Jelinek, wenn der Film einen alten TV-Mitschnitt zeigt, in dem die Schriftstellerin die wenige Zeit in einer Literatursendung für Autorinnen kritisiert (50 Minuten für Männer contra zehn für Frauen), dann die Verkündung des Literaturnobelpreises 2004 gezeigt wird und Jelinek aus dem Off kommentiert: „Ich kann da nicht hinfahren“, wegen einer Angststörung. „Rausgehen, das kann ich nicht mehr.“ Darüber, wie weit diese Angststörung, an der sie seit ihrer Jugend leidet, auch weiter befeuert wird vom Hass, der Jelinek in ihrer österreichischen Heimat entgegenschlägt, spekuliert der Film nicht. Das kann man selbst tun. Der Film will nicht psychologisieren.

„Mutters einziges Kind, das in der Spur bleiben soll“

Mit Zitaten und Archivaufnahmen zeichnet Regisseurin Claudia Müller die Jugend Jelineks nach, Jahrgang 1946, ein „Nichtlebendürfen“ – der Vater ist laut Jelinek „verrückt geworden“, die Mutter fördert und überfordert die Tochter in allerlei musischen Disziplinen. Sie dominiert die Tochter, die sie im Film als manchmal „gefährliches Tier“ bezeichnet, durch die sie das Lügen gelernt habe, um sie zu besänftigen, als „Mutters einziges Kind, das in der Spur bleiben soll“.

Elfriede Jelinek in einer Archivszene des Films. Foto. Plan C

Elfriede Jelinek in einer Archivszene des Films. Foto: Plan C

Die junge Jelinek „rettet sich in die Sprache“, wie sie sagt, weil das der einzige Bereich gewesen sei, in dem die Mutter sie nicht zur Leistung antrieb. Früh erhält sie Preise, begreift sich als Autorin, die etwas bewegen will, die eine „größere Effektivität im politischen Sinne“ erreichen will – feministisch und als Kritikerin politischer Zustände in ihrer Heimat Österreich, an denen sie leidet. Exemplarisch für sie ist etwa die Schauspielerin Paula Wessely (1907-2000); im NS-Kino war sie ein Star, ab den 1950ern war sie ein Star am Wiener Burgtheater – der Film zeigt einen grausigen Auftritt Wesselys im perfiden Propagandawerk „Heimkehr“ aus dem Jahr 1941.

„Wut und Hass“

Jelineks Kritik unter anderem an Wessely im Stück „Burgtheater“ (1985 nicht in Wien, sondern im fernen Bonn uraufgeführt) ist ein Wendepunkt in der Rezeption der Schriftstellerin, sagt Jelinek selbst. Seitdem habe sie „polarisiert“, das sei, vielleicht meint sie das etwas ironisch, „der Beginn meines Abstiegs“ – in jedem Fall spätestens der Beginn der Anfeindungen gegen sie: als „Nestbeschmutzerin“. Jelinek wird (und bleibt) Hassfigur vieler Konservativer, vor allem männlicher, wegen ihres kritischen Blicks auf Österreich und auf männlich geprägte Strukturen. Ein Ausschnitt zeigt auch eine Szene des seligen „Literarischen Quartetts“ zur Zeit von Marcel Reich-Ranicki. Der wundert sich über so viel „Wut und Hass“ und darüber, dass bei Jelinek „das Sexuelle demontiert“ wird – fast wirkt es, als sorge er sich um das Seelenheil der Autorin.

Interview mit Buchpreisträger Tonio Schachinger

Interview mit Iris Wolff

Der Film lässt viel Raum für die Texte Jelineks mit ihrer kunstvollen Sprache und oft einem sehr dunklen Humor. Mal werden die von ihr in alten Mitschnitten gelesen, vor allem aber von Sophie Rois, Martin Wuttke, Maren Kroymann und Sandra Hüller. Das alleine ist schon eine Wonne, während der Film das nicht brav inhaltlich, sondern eher assoziativ illustriert – mit Bildern aus Österreich, ebenso mit prächtigen Bergpanoramen wie mit hässlichen Après-Ski-Momentaufnahmen und Super-8-Aufnahmen aus den 1950ern (Montage: Mechthild Barth).

Nach dem Nobelpreis hat sich Jelinek noch weiter zurückgezogen, auch wenn sie für diesen Film mit der Regisseurin viel Kontakt hatte und ihr 2021 ein Interview gab, das im Film zum Teil verwendet wird. Aber erklären will sie ihre Werke nicht mehr, es sei alles gesagt. Gut, dass es dennoch diesen Film gibt.

 

Termin: 13.5., 22.15, Arte und ab dann in der Mediathek.
DVD bei Farbfilm Verleih.
„Die Klavierspielerin“ nach Jelinek ist ebenfalls in der Mediathek.

 

„Airport 77“: Oldie but Goldie (mehr oder weniger)

 

Ein wohliger Nostalgie-Abend mit einem Film, den ich seit dem Gang ins Kino 1977 oder 1978 nicht mehr gesehen hatte. Vom Personal her ist alles da, was das Katastrophenfilm-Genre braucht – persönliche, manchmal melodramatische Verwicklungen: ein von der Tochter und Enkel entfremdeter Vater; der Pilot, der heiraten will, dessen Freundin aber gerade einen familiengründungswidrigen Karrieresprung macht; dazu ein blinder Sänger und eine junge Frau, die sich sofort in seine Sangeskünste verliebt. Es hätten nur noch eine Nonne und eine Hochschwangere gefehlt. (Und immer hat man „Airplane!“ der Zucker-Brüder im Hinterkopf.)

Kino-Anzeigen von 1977

Die Grundidee ist famos – nach einem etwas überkompliziert erzählten Kunstraub-Versuch mit angeklebtem Schnurrbart und Betäubungsgas liegt ein Jumbo-Jet unter Wasser, langsam tropft es hinein, und die Nerven der Beteiligten werden verständlicherweise dünn. Solide Spannung und gute Besetzung: in Ehren ergraute Altstars wie James Stewart und Joseph Cotten; Gil Gerard bevor er „Buck Rogers“ wurde; Christopher Lee, der ein makabres Ende findet; und Jack Lemmon in einer untypischen Rolle als Polit/Held – sehr sehenswert.

Der Bildband The Golfinger Files“

Nicht alle Tricks sind gut gealtert – aber es gibt ein paar wunderbare matte paintings des nächtlichen Himmels von Albert Whitlock. Für mich der beste der „Airport“-Filme, und die Bluray von Koch/Plaion ist sehr gut – inklusive einer Super8-Fassung, die den Film auf schlanke 16 Minuten eindampft.

„Jesus shows you the way to the highway“ von Miguel Llansó

Szene aus "Jesus shows you the way to the Highway". Foto: REM

Redford und Stalin. Foto: REM

Hat man diesen Film hinter sich, muss man erst einmal seine Hirnwindungen sortieren – sie könnten verquirlt sein nach diesen 79 Minuten voller bizarrer Ideen, grotesken Humors, Satire und Jux. Die Handlung von „Jesus shows you the way to the highway“nachzuerzählen, kann dann auch nur eine vage Annäherung sein: Nach einer Titelsequenz in der Ästhetik piepsiger PC-Spiele der 1980er Jahre geht es flott hinein in die Handlung, die ein bisschen wie „Matrix“ ohne Budget, aber mit viel Spaß am Surrealen wirkt. Zwei CIA-Agenten müssen in eine virtuelle Welt eintauchen, um dort einen PC-Virus zu bekämpfen: Denn der stört das System, das den Betrieb einer futuristischen Stadt steuert, aufs Empfindlichste.

Das Wandeln der Agenten namens Palmer und Gagano durch diese virtuelle Welt zeigt der Film auf wunderbar bizarre Weise – mit Personen, die sich so ruckartig bewegen, als seien sie durch Einzelbild-Trick animierte Kunststoff-Figuren wie in einem alten „King Kong“- oder Dinosaurier-Film. Zudem tragen die Agenten im virtuellen Raum Papiermasken, die eine mit dem Antlitz von US-Komiker Richard Pryor, die andere mit dem von Robert Redford.

PC-Virus namens „Sowjetunion“​

Nach Feierabend, zurück in der realen Welt will Agent Gagano – gespielt vom kleinwüchsigen Darsteller Daniel Tadasse Gagano – allerdings seinen Dienst quittieren und mit seiner Frau eine Kickboxschule eröffnen. Dazu kommt es nicht, denn es droht noch mehr Ungemach. Ein PC-Virus namens „Sowjetunion“ (mit dem Antlitz von Stalin, dessen Helfershelfer allerdings mit Bundesadler-Armbinde geschmückt sind) bedroht das Betriebssystem der CIA. Gagano muss noch einmal ran – und findet aus der virtuellen Welt nicht mehr heraus. Derweil strahlt „Sowjetunion“ in die Welt hinaus, zettelt Verschwörungen an, und auch eine Art afrikanischer Batman namens „Batfro“ kommt ins Spiel – nicht zu vergessen einige Kampfsportkünstler. Über Insekten in Menschengestalt, aus denen dann die menschlichen Darsteller herausschlüpfen, wundert man sich schon nicht mehr.​

Die Geschichte der „Cannon“-Schundschmiede

Es ist eine Wundertüte, die der spanische Regisseur/Autor Miguel Llansó hier auskippt. Dabei ist diese spanisch-estländisch-äthiopisch-lettisch-rumänische Koproduktion kein wahllos bunter Trash, sondern kunstvoll zusammengesetzt – als wolle der Spanier der allgegenwärtigen Blockbuster-Glätte ein raues Gegenbild unter die Nase halten (oder reiben). Drehorte in einer Fabrik sollen das Innere eines U-Bootes simulieren, das fast schon antike Computer-Mobiliar erschafft eine mal wohlige, mal ärmliche Retro-Atmosphäre, unterfüttert mit Low-Budget-Flair. Die Schnitte sind bisweilen bewusst holprig, und sogar in der Originalfassung sind die Dialoge nachsynchronisiert, was dem Ganzen einen weiteren Verfremdungs-Effekt kredenzt; sinnigerweise hatte man sich für die deutsche Fassung ebenfalls Ungewöhnliches ausgedacht: Da sprechen die Musiker der Berliner Band „Stereo Total“ – Brezel Göring und die im Februar 2021  gestorbene Françoise Cactus – gleich alle Rollen. Warum auch nicht?​

Auf DVD bei Rapid Eye Movies , online bei Amazon Prime.

„55 Tage in Peking“ auf Bluray

Er kleckerte nicht, er klotzte. Bei Madrid baute US-Produzent Samuel Bronston (1908-1994) Studios und gigantische Kulissen, eine Art Klein-Hollywood in einem Land der niedrigeren Löhne und weniger strengen Gewerkschaften. In Spanien entstanden so 1961 die Epen „König der Könige“ und „El Cid“, letzteres mit Charlton Heston. Der spielte zwei Jahre später auch in Bronstons „55 Tage in Peking“. Im Jahr 1900 spielt der Film – die Bewegung der Boxer bringt China in Unruhe, sie ermorden chinesische Christen und Ausländer. Als sie das Diplomatenviertel der Stadt stürmen wollen, sind vor allem US-Soldat Lewis (Heston mit gerecktem Heldenkinn) und der britische Diplomat Robertson (David Niven mit gezwirbeltem Schnurrbart) gefragt.

Nostalgie: Die Serie „Stingray“ von Gerry Anderson

Diese sichtlich teure Mischung aus Massen- und Dialogszenen in edel ausgestatteten Studiokulissen ist Großkino von gestern, mit vielen Glatzenkappen und Nicht-Asiaten, die Asiaten spielen; der Film lässt sich nostalgisch anschauen, verlangt aber auch etwas Geduld – nicht zuletzt wenn es mit Ava Gardner glamourös und romantisch werden soll. Doch Heston, Niven, die Actionsequenzen und das exzellente Bild der Bluray reißen es heraus. 1964 war es aber schon vorbei mit Bronstons Imperium: Der Misserfolg von „Der Untergang des Römischen Reichs“ begrub ihn unter einem Schuldenberg.

Bluray von Black Hill / WVG, 158 Minuten. Extras: Deutscher Trailer.

„Herzschlagkino“ von Andreas Pflüger – „77 Filme fürs Leben“

Andreas Pflüger (66) ist in Saarbrücken aufgewachsen. Nach dem Abbruch eines Theologie- und Philosophiestudiums arbeitete er als Taxifahrer, Möbelverkäufer und Koch, schrieb Hörspiele und viele Drehbücher, darunter 27 „Tatorte“. Sein jüngster Roman ist "Wie Sterben geht". Foto: Stefan Klüter
Andreas Pflüger (66) ist in Saarbrücken aufgewachsen. Nach dem Abbruch eines Theologie- und Philosophiestudiums arbeitete er als Taxifahrer, Möbelverkäufer und Koch, schrieb Hörspiele und viele Drehbücher, darunter 27 „Tatorte“. Sein jüngster Roman ist „Wie Sterben geht“. Foto: Stefan Klüter

 

Der saarländische Autor Andreas Pflüger schreibt über seine 77 liebsten Filme. In dem hinreißenden Band „Herzschlagkino“ erfährt man einiges über die Filme – aber auch viel über Pflüger selbst. Wieso hatte „Alien“ romantische Wirkung? Und wieso rief Götz George bei seinen Eltern an?​

Manchmal ist das so mit dem Kino. Man geht rein – und kommt ein bisschen größer wieder heraus. So war das auch bei Andreas Pflüger. Als ersten Film im Kino schaute er sich in Saarbrücken „Todesgrüße aus Shanghai“ an, ein Epos der stählernen Handkanten und spitzen Schreie von Bruce Lee, den übrigens in der deutschen Fassung Elmar Wepper wunderbar kernig spricht. Pflüger war damals 15, aber nach dem Film „kein Junge mehr, sondern ein brandgefährlicher Kerl; jedenfalls fühlte ich mich so“. Dass er später mal über Jahrzehnte hinweg Drehbücher schreiben würde, konnte er damals nicht wissen. Aber er wusste, so schreibt er es im Vorwort dieses Buchs, was er am Kino liebt: „Wenn der Vorhang aufgeht, will ich überwältigt werden, vom Sound, der Musik, von Bildern zu groß für die Leinwand.“ So sei aus ihm „ein Hollywood-Junkie“ geworden, „fürs gepflegte Kammerspiel bin ich verloren“.​

Kein Polieren unbekannter Perlen​

77 seiner liebsten Filme hat der saarländische Schriftsteller zusammengetragen, die meisten kommen im weitesten Sinne aus Hollywood, eine Handvoll aus Europa – „Diva“ etwa oder „Sommer vorm Balkon“. Pflüger will keine unbekannten Perlen polieren oder mit Geheimtipp-Nischenwissen angeben, die meisten Filme haben Klassiker-Status. Pflüger weiß, dass man bei Kalibern wie „The Shining“, „Das Schweigen der Lämmer“ oder „GoodFellas“ nicht mehr den Inhalt erklären muss – das wäre Ressourcen-Verschwendung.​ Vielmehr geht er die Filme aus anderen Perspektiven an, oft autobiografisch und gerne mit wohligen Abschweifungen; bei „Alien“ etwa geht es nur am Rande um HR Gigers Weltallmonster. Sondern vor allem um Elke, Pflügers damalige Kommilitonin, „mit so einem winzigen schwarzen Dingsbums auf der Wange und einem Lispeln, das mich verrückt machte“. Der galaktische Schrecken beim gemeinsamen Kinobesuch, der ersten Verabredung, führt dazu, dass Elke nicht alleine nach Hause gehen will. Der Rest ist Geschichte. Allerdings eine ziemlich kurze. Nach drei Wochen interessiert Elke sich deutlich stärker für „einen Typen, der einen roten Alfa Spider fuhr und Vergil auf Latein zitierte“.​

Auch Familiäres erfährt man – etwa, bei Pflügers Text zum Film „Shine“, dass seine Eltern nach seinem abgebrochenen Theologie-Studium und dem Wunsch, Autor zu werden, Schlimmstes befürchten, was den Lebensunterhalt angeht. Sie fragen aber lieber nicht mehr nach. Doch als er mal wieder zu Besuch aus Berlin da ist, klingelt beim Sonntagsbraten das Telefon. Die Mutter erbleicht rasant, denn es meldet sich Götz George; er will Pflüger sprechen, wohl wegen eines Drehbuchs. Fortan sorgen sich die Eltern nicht mehr, und der Vater fragt zum ersten Mal: „Erzähl mal, was Du so machst.“​

„Wehwehchen von Autoren mit vierstelligen Auflagen“​

Um Pflügers Arbeit als Autor geht es in den Filmbetrachtungen, ums Handwerk an sich, „das gerne gering geschätzt wird – aber nur von denen, die es nicht beherrschen“. Ein Autor etwa wie John Grisham, dessen Roman „Die Firma“ mit Tom Cruise verfilmt wurde, halte literarischen Stil und Rhythmus offensichtlich für „Wehwehchen von Autoren mit vierstelligen Auflagen“. Aber von seinen Plots könne man viel lernen, da sei Grisham so versiert wie ein „Waschbär beim Eierklauen“. Ebenso bewundert Pflüger an der dunklen Hollywood-Satire „Barton Fink“ der Coen-Brüder, dass in deren Drehbuch „nichts zu viel ist“. Gerade das sei eine besonders schwierige Kunst.​

Ab jetzt keine Drehbücher mehr​

Eine Schreibblockade, wie sie ein Autor in „Wonder Boys“ durchleidet (gespielt von Michael Douglas), erlebte er bisher fünf Mal, man „tut sich selbst leid und hasst die ganze Welt“. Zumindest eine Hürde im Arbeitsleben hat Pflüger aus dem Weg geräumt – die Diskussionen mit Produzentinnen und Produzenten bei Film und Fernsehen. Ein Produzent, unzufrieden mit einer ersten Drehbuchfassung, bat ihn, ihm doch einfach dieses „Pflüger-Feeling“ zu geben. „Das war fünf Minuten bevor ich beschloss, nur noch Romane zu schreiben.“​

Clint der Große​

Clint Eastwood hat es Pflüger bei den 77 Filmen am meisten angetan – sei es als Darsteller, Regisseur oder, meist, beides. Vier Mal taucht er auf, noch vor den Regisseuren Ridley Scott und Stanley Kubrick, dessen „Uhrwerk Orange“ er einst im Saarbrücker „Scala“ sah, der heutigen „Camera Zwo“. Keinen anderen Eastwood-Film hat er öfter gesehen als dessen Regie-Arbeit „Mystic River“, 30 oder 40 Mal – er ist sogar enttäuscht, wenn er ihn im Fernsehen verpasst. Bei Eastwood liebt er den Minimalismus, das ökonomische Erzählen, dieses „Nichts ist zu viel“ wie bei „Barton Fink“ der Coens.​

Kinos in Saarbrücken, Brüssel, Moskau​

Auch in verschiedene Kinos führt uns Pflüger, nicht nur in Saarbrücken, auch nach Paris: Dort lebt er Ende der 1970er für einige Zeit, schaut „Dr. Seltsam“ in einem Programmkino, „in dem es immer nach nassem Hund mit einem Quäntchen Knofi“ riecht und in das man am besten ein Kissen mitbringt, da die Bestuhlung schon kraftvoll durchgesessen ist. „Apocalypse Now“ sieht er auf Interrail-Reise in einem „abgerockten Brüsseler Bahnhofskino“; verstanden habe er den Film erst Jahre später.​ Den Westernklassiker „Die glorreichen Sieben“ schaut er sich 1993 im überheizten Rossija-Kino am Puschkinplatz in Moskau an; der US-Ton läuft im Hintergrund  – und im Vordergrund „ein russisches Voiceover, jede Rolle von derselben Frau gesprochen. Eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.“ Am Film mag Pflüger alles, auch Darsteller Horst Buchholz. Den lernt er später bei der Berlinale kennen; Buchholz habe einen „spektakulär versifften Flokati-Mantel“ getragen und viel geraucht, „ich glaube, er hat seine Kippen samt Filter gegessen. Ein Lachen wie ein Betonmischer.“ Aber die Buchholzschen Hollywood-Geschichten an diesem Abend klingen für Pflüger ehrlich, „er tat nicht, als hätte sein Stern in der Stadt der Engel hell gestrahlt“. Als Buchholz geht, hinterlässt er einen Geruch nach Mottenkugeln. Das ist schon große Kunst, wie Pflüger hier in einem kleinen Textabsatz einen melancholischen, zugleich unsentimentalen Abgesang auf eine schwierige Karriere anstimmt.​

„Da lernt man beten“​

Insgesamt kann man sich bei der Lektüre auch auf Pflügers Händchen für kernige Sätze und Pointen verlassen: Angesichts der damaligen Verrisse für den Science-Fiction-Film-Noir „Blade Runner“ bemerkt er lakonisch: „Die Ewigkeit schert sich nicht um Rezensionen.“ Bei „Silverado“ versucht er Western-Hasser zu bekehren, denn diese Filme seien ja auch bloß „Dramen, in denen Pferde mitspielen“. Angesichts des deutschen Films „Fanfaren der Liebe“, einer Art Pendant zu Billy Wilders „Manche mögen’s heiß“ warnt er lakonisch: „Da lernt man beten.“​ Aber auch sich selbst schont er nicht und gibt zu, angesichts von Brad Pitts Auftritt in „Thelma & Louise“ prophezeit zu haben, dass „der Kerl in der Versenkung verschwindet“. Man kann ja mal daneben liegen – was uns zu „Manche mögen’s heiß“ zurückführt und zu dessen letztem Dialogsatz. Es ist eben niemand vollkommen.  ​

Andreas Pflüger: Herzschlagkino. 77 Filme fürs Leben.
Arche, 165 Seiten, 17 Euro.
Info: www.andreaspflueger.de

Nostalgie: Ein Fundstück aus der VHS-Ära

 

Beim Aufräumen des Schreibtischs gefunden – ein altes Ausleihkärtchen für eine VHS-Cassette in der Videothek. Reifere werden sich erinnern, Jüngere, mit Streaming-Aufgewachsene,  werden es nicht glauben: So ein Kärtchen nahm man aus dem Wandregal, in dem die Hülle des Films stand, gab es an der Theke ab, und Videothekarin oder Videothekar drückte einem dann die Cassette in die Finger. Und wenn man die  nicht zurück gespult zurück gegeben hat, kostete es extra (zumindest in manchen Läden). Alles sehr lange her.

Die alte Videothek in der Bleichstraße

Wenn das Kino der Kindheit vor sich hin bröckelt

Loriot trifft Douglas Sirk: „Da kommt noch was“ von Mareille Klein

Film Da kommt noch was

Zbigniew Zamachowski als Ryszard, Ulrike Willenbacher als Helga. Foto: Weltkino

Die meisten Unfälle passieren ja zuhause, heißt es – manchmal auch die symbolischsten, zumindest in diesem sehenswerten Film.  Da stürzt Helga, beim Versuch, eine Spinne an der Wohnzimmerdecke zu fangen, vom Schemel, kracht durch ein Holzgitter im Boden und bleibt stecken. Die ganze Nacht lang, bis ihre Putzhilfe sie morgens entdeckt. „Ich bin in ein Loch gefallen, ich komme hier nicht alleine raus“, sagt Helga und meint möglicherweise ihr Leben. Das wirkt zwar wohl geordnet, aber sehr, sehr still – das Lauteste im Haus sind das Rattern und das Röcheln ihrer Kaffeemaschine. Vor zwei Jahren, da war Helga um die 60, hat ihr Mann sie wegen einer anderen Frau, der Arzthelferin des Familiendoktors, verlassen; Helga bleiben eine kartenspielende Runde von Freundinnen (über die Tiefe oder Untiefe der Freundschaft kann man streiten) und Konzertbesuche – wenn sie Pech hat, läuft Zeitgenössisches, das an ihren Nerven sägt.

Ein Interview über Loriot

Eine gewisse Unruhe kommt in diesen Gleichlauf der Dinge, als die bewährte Putzhilfe urlaubt und Ersatz empfiehlt: den Polen Ryszard. Dessen Deutschkenntnisse sind begrenzt, Helgas Polnischkenntnisse sind nicht existent. Die Kommunikation holpert also erstmal, doch im Partykeller mit Anmutung der 1970er und Musik der 1990er kommt man sich erst langsam, dann doch ziemlich rasch näher. Helga und dem verwitweten Ryszard geht es zusammen so gut wie lange nicht mehr – doch wie wird das Umfeld mit snobistischer Attitüde auf den Putzmann/Handwerker aus Polen reagieren?

Douglas Sirk und Loriot

„Da kommt noch was“ ist gleichzeitig Tragikomödie und in gewisser Weise auch Gesellschafts-Gruselfilm; die Geschichte erinnert ebenso an Douglas Sirks alte Melodramen wie „Was der Himmel erlaubt“ (Mittelschichts-Witwe liebt jüngeren Gärtner) wie an Loriots subtiles Aufspießen bürgerlicher Konventionen.

Geschrieben und inszeniert hat das die Kölnerin Mareille Klein, Jahrgang 1979, die man vom Saarbrücker Filmfestival Max Ophüls Preis her kennt: Ihre exzellente Dokumentation „Auf Teufel komm raus“, über das Leben eines aus der Haft entlassen Sexualstraftäters, lief 2011 im Wettbewerb; ein Jahr später gewann Kleins „Gruppenfoto“ den Kurzfilmpreis. Nach „Dinky Sinky“ (2016), ihrem Abschlussfilm an der HFF München, ist „Da kommt noch was“ ihr zweiter Spielfilm.

Interview mit Sandra Hüller

Sie erzählt eine zarte Liebesgeschichte, aber auch viel von Hierarchien, von sozialem Gefälle, von Macht und Ignoranz. Wenn Helga etwa ihre Putzanweisungen an Ryszard in einem rudimentären Deutsch-Englisch-Gemisch transportiert und mit „Comprende?“ abschließt. Oder wenn im Freundinnenkreis, wo Ryszard als Handwerker sehr beliebt ist, immer von „mein Pole“ gesprochen wird. „Polen sind gute Handwerker“ heißt es da so nett gemeint wie alltagsrassistisch.

Der Höhepunkt dieses Snobismus, vielleicht auch der Höhepunkt des Films sind die Szenen einer Geburtstagsfeier, zu der Helga und Ryszard eingeladen sind. Dort begegnet man ihm mit freundlicher Neugier, aber auch mit einem Blick von oben herab. Ob seiner mäßigen Kenntnisse der deutschen Sprache fragt man ihn in Rustikal-Englisch „Why not learning language?“, bevor die neue Frau von Helgas Ex-Mann ihren Beruf so erklärt: „I’m the Arzthelperin.“

Da weht schon ein wenig Loriot durch das Besserverdiener-Interieur, auch wenn der Film solche Momente nicht betont komödiantisch ausspielt. Sondern er inszeniert sie ganz realistisch und gibt ihnen damit eine gewisse alltägliche Grausamkeit – wie etwa auch bei Ryszards Toilettenputzen unter Helgas strengem und kenntnisreichem Blick.

Graubraune Fliesen, graubraunes Leben

Zu dem Eindruck, dass vieles direkt aus dem Leben gegriffen wirkt, tragen auch die Kulissen bei, die keine sind: Der Film entstand fast ausschließlich in drei Häusern in Ottobrunn bei München, keine 200 Meter voneinander entfernt. Die Innenausstattung, von Kameramann Patrik Orth („Toni Erdmann“) in breiten Kinobildern eingefangen, wirkt komplett unkünstlich – graubraune Fliesen passen vortrefflich zu Helgas aktuellem Leben, das sich langsam verändert.

Gespielt ist das Ganze bis in die Nebenrollen hin famos. Der in seiner polnischen Heimat sehr populäre Darsteller Zbigniew Zamachowski spielt Ryszard als stillen, zurückhaltenden Mann, der in wichtigen Momenten – nicht zuletzt im Partykeller – Initiative ergreift. Im Zentrum des Films steht aber Ulrike Willenbacher; hinter der Spröde ihrer Figur Helga lässt sie immer eine gewisse Sanftheit durchscheinen, sie schwankt zwischen dem Verletztsein durch das Ehe-Ende und einer stoischen Stärke. Die Komik mancher Situationen und vieler Dialoge spielt sie nicht überdeutlich aus, auch wenn vieles auf stille Weise sehr witzig ist: Etwa wenn Helga sich im Baumarkt vor einer vermeintlichen Freundin in die Bäder-Abteilung flüchtet und dort kleinlaut ausharrt, auf der Tonspur untermalt von einer kernigen Baumarkt-Durchsage über die Vorzüge des „Duschsystems Euphoria“.

 

DVD bei Weltkino, und noch bis 10. Mai in der Arte-Mediathek.

„The Innocents“: Schrecken und Freiheit der Kindheit

The Innocents capelight

Ida (Rakel Lenora Flotta) entwickelt ungeahnte Kräfte. Foto: Capelight / Mer Film

Wie kommen wir auf die Welt? Wie ein unbeschriebenes Blatt, moralisch gesehen? Ohne Empathie und Moral, die wir noch erlernen müssen? Oder wie ein Engel – mit reinem Herzen, das im Laufe des Lebens nicht mehr so rein bleibt? Diese Fragen stellt sich der außergewöhnliche norwegische Film „The Innocents“, der vom Schrecken und der Freiheit der Kindheit erzählt.

Glasscherben in den Schuhen

Die junge Ida zieht mit ihrer Familie um, in einen gepflegten Hochhauswohnblock am Waldrand. Ihre ältere Schwester Anna leidet an Autismus; vor Jahren hat sie sich fast ganz in sich zurückgezogen, die Kommunikation mit der Familie ist minimal. Die Eltern kümmern sich vor allem um sie und vernachlässigen dabei Ida, die dadurch eine gewisse Härte entwickelt hat – manchmal kneift sie Anna mit aller Gewalt, ohne dass die den Schmerz nach außen tragen kann. Einmal steckt sie sogar Glasscherben in die Schuhe der Schwester.

Beiläufige Brutalität

Es ist mutig von Regisseur und Autor Eskil Vogt, dass er uns solch eine Hauptfigur an die Hand gibt – und höchst gekonnt, wie er sie als Mensch auslotet, deren Handlungen anfangs einige Male grausam sind und doch noch im Bereich einer kindlichen Unschuld beziehungsweise Unwissenheit bleiben. Ida lernt den jungen Ben kennen, der auf dem Fußballplatz gehänselt wird und im Wald Ida Außergewöhnliches zeigt: Mit der Kraft seiner Gedanken kann er Gegenstände bewegen. Ben und Ida, die eine ähnliche Begabung bei sich entdeckt, beginnen einige Experimente, wobei der Film in einer Szene mit einer Katze mit ungeheurer, zugleich beiläufiger Brutalität verstört.

Capelight

Ben (Sam Ashraf) überschreitet mit seinen Kräften Grenzen. Foto: Capelight / Mer Film

Ben ist nicht der einzig übernatürlich Begabte in dieser sommerlichen Hochhaussiedlung: Die junge Aisha kann die Gedanken der Bewohner „hören“ und entwickelt eine besondere Beziehung zu der autistischen Anna, deren abgeschottete Innenwelt sie erspüren kann. Die Vier bilden ein übernatürliches Quartett, wobei sich für sie die Frage stellt – wie geht man mit dieser Macht um? Ben ist der Einsamste und Gekränkteste der Gruppe und lebt das am stärksten aus. Seine desinteressierte Mutter (mit Kippe und Dauer-Handy etwas grobschlächtig charakterisiert) lernt seine Macht in der Küche kennen, unter anderem in Form einer gusseisernen Pfanne und eines Topfs mit kochendem Wasser. Später entdeckt Ben die Fähigkeit, Menschen zum Instrument seiner Rache-Fantasien zu machen.

German Grusel: „Die Schlangengrube und das Pendel“

So beklemmend und erschreckend der Film in diesen Szenen auch ist – es ist kein üblicher Horror, der vor allem auf den Schock-Effekt setzt und eindimensional ist. „The Innocents“ blickt in das Innenleben seiner Figuren, in denen es angesichts ihrer Kräfte brodelt. Als Bens Aktionen immer grausiger werden, widersetzen sich die drei anderen Mädchen. Es kommt zu Gewissensentscheidungen und zum großen Konflikt, den man aber nicht simpel „Gut gegen Böse“ nennen kann – es ist vor allem die Abkehr von einer kindlichen Unschuld, die bewusste Entscheidung, notgedrungen Schuld auf sich zu laden. Mord, um weitere Morde zu verhindern.

Der Film „Hagazussa“ und seine Regisseur Lukas Heigelfeld

„The Innocents“ baut seinen Schrecken subtil und langsam auf, Kameramann Sturla Brandt Grovlen setzt den Wohnblock nicht vordergründig als Burg des Horrors in Szene, sondern als sonnenbeschienene Siedlung, in der doch der Grusel lauert. Sei es in den hohen und anonymen Treppenhäusern oder in den endlosen Kellergängen, die die Kamera suggestiv durchschwebt. Der Film konstruiert dabei meisterlich  eine hermetisch geschlossene Welt der Kinder – die Erwachsene sind Randfiguren, verstehen vieles falsch, vieles gar nicht. Wir sind ganz bei diesem Quartett, deren junge Darsteller durchweg fantastisch sind. Die hat Regisseur Vogt anderthalb Jahre lang gesucht und vor den Dreharbeiten lange mit ihnen gearbeitet – da ist kein unglaubwürdiger Moment dabei in diesem Film, der gleichermaßen ans Herz wie an die Nerven geht.

Auf DVD von Capelight. , aktuell auch in der Mediathek von 3sat.

„Drive my car“ von Ryusuke Hamaguchi – ab 1. Mai bei Arte

Drive my car Oscars

Regisseur Yusuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) und die Fahrerin Misaki (Toko Miura).        Foto: REM

 

Eine große Überraschung war das schon. Ein japanischer Film, drei Stunden lang, erhält bei den Oscars 2022 vier Nominierungen: für das beste adaptierte Drehbuch, den besten internationalen (also nicht-nordamerikanischen) Film, für die beste Regie und als bester Film. Letztlich gewann „Drive my car“ den Oscar als besten internationalen Film. Das gab diesem wundersamen und wunderbaren Film von Ryusuke Hamaguchi Aufmerksamkeit und einen gewissen kommerziellen Rückenwind, den er gut brauchen kann – ist doch „Original mit Untertiteln“ und „179 Minuten Laufzeit“ für manchen Kinogänger eher abschreckend denn animierend. Nur: Ließ man sich abschrecken, brachte man sich um eine eigenwillige und beglückende Seh-Erfahrung.

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Nachts und nackt beginnt der Film, wenn die Drehbuchautorin Oto ihrem Mann Yusuke, einem Schauspieler und Theaterregisseur, eine Geschichte erzählt, die sie nach den gemeinsamen Liebesnächten immer weiter spinnt: Um eine Frau geht es, die ihrer ersten Liebe nachspioniert, regelmäßig in das Haus des Angebeteten einbricht, um Dinge zu hinterlassen. Yusuke hört fasziniert zu, ein enges Band der Vertrautheit scheint diese beiden Eheleute miteinander zu verbinden. Doch als Yusuke eines Tages unerwartet nach Haus kommt, sieht er seine Frau innigst zugange mit einem anderen Mann auf dem Sofa. Ohne bemerkt zu werden, verlässt er die Wohnung wieder, verschweigt das Ganze gegenüber Oto (ebenso wie sie es tut). Als er just an dem Abend nach Hause kommt, an dem seine Frau etwas mit ihm besprechen kann, ist sie an einer Hirnblutung gestorben. Yusuke bleibt erschüttert und trauernd zurück – und im Ungewissen darüber, was seine Frau ihm mitteilen wollte.

Der rote Saab in Hiroshima

Erst hier, nach 40 Minuten, läuft der Vorspann von „Drive my car“, er ist wie ein filmischer Raumteiler, der auch den Bruch in Yusukes Leben widerspiegelt – und auch einen Zeitsprung von zwei Jahren. Yusuke nimmt das Angebot eines Bühnenfestivals in Hiroshima an, dort Tschechows „Onkel Wanja“ zu inszenieren. Bei den ersten Besetzungsgesprächen taucht überraschend auch ein junger Schauspieler auf, von dem Yusuke glaubt, ihn damals mit seiner Frau auf dem Sofa gesehen zu haben. Das setzt dem Witwer zu, ebenso irritiert ihn die Vorgabe des Festivals, dass er in Hiroshima nicht selbst seinen alten roten Saab fahren darf, sondern dass ihm eine Fahrerin zugeteilt wird – die zurückhaltende Misaki, die für ihn wider Erwarten zu einer großen Stütze wird.

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Was in der knappen Inhaltsangabe etwas simpel klingt, ist im Film ganz anders: Regisseur und Ko-Autor Hamaguchi gliedert „Drive my car“, entstanden nach einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami, in lange Szenen und Gespräche – es sind die Herzstücke des Films, wenn Yusuke mit seiner Fahrerin, mit dem mutmaßlichen Liebhaber seiner Frau, mit einem Kollegen und dessen Frau minutenlang spricht. Um Liebe geht es, um Trauer und Tod (die Tochter von Oto und Yusuke ist vor Jahren sehr jung gestorben), um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit extremer Nähe zwischen Menschen. Muss körperliche Untreue ein Beleg für mangelnde Liebe sein? Wie gut kann man seinen Partner kennen, wenn es schon schwer genug fällt, sich selbst einigermaßen zu kennen?

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Hamaguchi erzählt davon mit exzellenten Darstellern, denen man trotz Zurückhaltung die Seelenlage ihrer Figuren anmerkt, mit gelungenen Verschränkungen mit der „Onkel Wanja“-Inszenierung (ohne ein selbstgefälliges Meta-Ebenen-Spiel zu beginnen) – und vor allem in aller Ruhe. Hier wird viel gesprochen, im roten Saab, an der nächtlichen Hotelbar, im Esszimmer, auf einem verschneiten Hügel. Gefühlvoll ist das alles, aber nicht sentimental, die Melancholie ist spürbar, aber sie drängt sich filmisch nicht auf. Sicher, ein wenig Sitzfleisch braucht man für den Film – aber er wird einen tief berühren.

 

Am 1 . Mai ab 22 Uhr bei Arte, danach in der Mediathek.

Blu-ray und DVD bei REM.

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