Film und dieses & jenes

Kategorie: Literatur

„Der Kolibri“ von Francesca Archibugi

Szene aus "Der Kolibri". Unerfüllte Liebe: Marco (Pierfrancesco Favino) und Luisa (Bérénice Bejo) bei einem ihrer regelmäßigen Treffen.

Unerfüllte Liebe: Marco (Pierfrancesco Favino) und Luisa (Bérénice Bejo) bei einem ihrer regelmäßigen Treffen. Foto: Enrico de Luigi / MFA

Fast möchte man sich Notizen machen in den ersten Minuten. Wer sind all diese Leute, die durch eine toskanische Villa wuseln, mit ziemlich dünnen Nerven? „Der Kolibri“ mag etwas unübersichtlich beginnen, uns mitten hinein werfen in das Leben einer Familie – doch nach und nach dröselt der Film die Beziehungsfäden auf, bringt uns die Figuren näher und breitet ein großes Lebenstableau auf.​

Dessen Mittelpunkt ist Marco, Spitzname „Kolibri“, war er einst doch so schmächtig („er ist 14 und sieht aus wie zehn“), dass seine dauerstreitenden Eltern ihm eine Hormontherapie aufzwangen. Von dieser Jugend ab begleitet der Film Marco zu seinen letzten Augenblicken (bei dem der Film etwas mit den Altersmasken der Mimen zu kämpfen hat). In den Jahrzehnten dazwischen durchlebt er Momente des höchsten Glücks und die schlimmsten Augenblicke, die man gerade noch überstehen kann.​

Muntere Mischung der Zeitebenen​

Diese Lebenschronik erzählt die Regisseurin Francesca Archibugi dankenswerterweise nicht so, wie es ein schlechterer Film wohl getan hätte. So gibt es keine brave Chronologie oder eingeblendete Orientierungshilfen wie „Rom 1982“ oder „Paris 1995“. Hier werden die Zeitebenen mitunter so munter gemischt wie die Karten eines Pokerspiels (eine Leidenschaft von Marco); kurze Erinnerungen, längere Sequenzen, winzige Momente und Zeitsprünge innerhalb eines Schauplatzes geben den Rhythmus vor, der nicht aus dem Tritt kommt.​

Die Autobiografie von Michael Caine

Marco ist eher der passive Typ, der manchmal aber eine enorme Initiative entwickelt – etwa wenn er glaubt, eine Geistesverwandte, eine Schicksalsgefährtin entdeckt zu haben; – eine Flugbegleiterin, die ebenso wie er im letzten Augenblick nicht in eine Maschine gestiegen ist, die dann abstürzte. Schicksal? Bestimmung? Oder banaler Zufall? Marco jedenfalls lädt sie zum Essen ein – und sie heiraten. Wirklich glücklich wird diese Ehe aber nicht; Marinas bipolare Störung macht das gemeinsame Leben nicht einfacher. Und dann ist da auch eine Gefühlshypothek aus der Jugend: Einst in der Toskana lernte Marco die Französin Luisa kennen. Die große Liebe möglicherweise – aber das Leben kam dazwischen Nach Jahren nehmen sie wieder Kontakt auf und treffen sich regelmäßig, aber platonisch.​

Viel hineingepackt​

Grundlage des Films ist der preisgekrönte Bestseller von Sandro Veronesi; man spürt dass die Drehbuchautoren viel in den Film hineinpacken mussten (oder möglichst wenig aus der Vorlage weglassen wollten). Da gibt es Handlungsstränge, aus denen man jeweils einen eigenen Film hätte zwirbeln können; manches wirkt dann zu knapp abgehandelt – der Erzählstrang etwa über Marinas psychische Krankheit etwa, so dass sie vor allem wie ein dauerüberspanntes Ehemonster wirkt und wenig Mitgefühl erweckt. Im letzten Drittel öffnet sich bei einer Pokerpartie noch ein Handlungskistchen, das man als reizvollen Exkurs empfinden kann oder als überflüssig.​

Porträt „Ennio Morricone – der Maestro“

Jedenfalls tut sich sehr viel in diesen zwei Kinostunden. Fels in der Handlungs-Brandung ist der grandiose italienische Darsteller Pierfrancesco Favino als Marco. Ihm nimmt man die gutmütige Passivität ab, die manchmal in zupackende Initiative eruptiert, wenn es seine Lebenssituation erzwingt; Favino unterlegt seinem Spiel stets eine leichte Melancholie, mit Blick auf einige biografische Katastrophen und auf ein mögliches anderes Leben, wäre die einstige Teenagerliebe haltbarer gewesen. Hätten Marco und Luisa zusammen ein glücklicheres Leben gehabt? Wer kann das schon sagen? Das Leben, auch das gibt uns der Film mit, ist eben unberechenbar, im Schönen wie im Schrecklichen.​

Interview mit Autor Emanuel Bergmann: „Gary Oldman ist wirklich ein Schatz“

Schriftsteller Emanuel Bergmann, Foto: Joël Hunn / Diogenes Verlag

Schriftsteller Emanuel Bergmann. Foto: Joël Hunn / Diogenes Verlag

Seine Jugend verbrachte Emanuel Bergmann in Saarbrücken, nach dem Abitur ging er nach Los Angeles, arbeitete für Filmstudios und Produktionsfirmen, studierte Journalismus und schrieb lange für das Magazin „Widescreen“. Sein Romandebüt „Der Trick“ wurde ein Bestseller, jetzt kommt er mit „Tahara“ nach Saarbrücken. Der bittersüße Roman erzählt vom Filmkritiker Marcel Klein, dessen Welt bei den Festspielen in Cannes chaotisch wird: durch eine Romanze und durch ein Star-Interview, bei dem der Kritiker beim Schreiben etwas nachhilft – was einen Skandal auslöst.

 

Sie sind in Saarbrücken aufgewachsen – was waren damals Ihre drei liebsten Plätze?​

BERGMANN Mein Lieblingsort: Der Parkplatz vom Bauhaus an der Dudweiler Landstraße. Da habe ich als Kind immer Skateboardfahren geübt. Ansonsten war ich oft in der Karstadt-Passage – so hieß das damals. Und natürlich auch am St. Johanner Markt und am Staden.​

Und was hat Ihnen damals in der Stadt gar nicht gefallen?​

BERGMANN Vieles. Schon damals war mir Saarbrücken zu eng, zu klein. Ich hatte immer den Wunsch, wegzugehen. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass Saarbrücken für einen Lausbub wie mich eigentlich der ideale Abenteuerspielplatz war.​

Interview mit Sandra Hüller

Ihre Hauptfigur, ebenfalls in Saarbrücken aufgewachsen, erzählt von glücklichen Kinobesuchen im UT und im Passage-Kino. Waren das damals auch Ihre liebsten Kinos – und was haben Sie sich angeschaut?​

BERGMANN Ich bin ständig ins Passage-Kino gegangen, ins UT und auch ins Gloria, das es damals noch gab. Das war ein riesiger, leicht verfallener Filmpalast, wo ich fast allein im Vorführraum saß und ganz große Kinofilme genießen konnte. Im Passage-Kino liefen im Sommer immer alle möglichen Kultfilme, von Disney bis Hitchcock. Ich habe mir alles angeschaut, was es gab: Action, Horror, Comedy, Science-Fiction…​

In Los Angeles waren Sie unter anderem Botenjunge beim Fox-Studio – wie kann man sich das vorstellen? Ist man da ganz unten in der Nahrungskette?​

BERGMANN Im Gegenteil, ich gehörte überhaupt nicht zur Nahrungskette. Ich bin immer mit einem Golfwagen über das Studiogelände gedüst und habe wichtige Briefe und Pakete an wichtige Leute übergeben. Die haben sich in der Regel immer sehr gefreut, und sie waren eigentlich alle nett zu mir. Egal, ob Sekretärin oder Studiochef – ich wurde immer herzlich empfangen.​

Wie sich Roger Corman seinen „Star Wars“ zusammenbastelte 

Haben Sie wirklich das Drehbuch zu „Titanic“ gelesen, bevor der Film gedreht wurde?​

BERGMANN Ja, das stimmt. Das Drehbuch geisterte durch das Studio, und ich durfte es auch lesen. Ich fand es übrigens doof. Meine Meinung damals: Die Geschichte ist hanebüchen, die Dialoge dämlich, und jeder weiß, dass das Schiff am Ende sinkt. Ein Flop!​

Sie haben 18 Jahre für das Magazin „Widescreen“ geschrieben, bevor es eingestellt wurde. Was waren die besten und die weniger guten Momente?​

BERGMANN Von den besten Momenten gibt es so viele, dass ich sie gar nicht alle aufzählen kann. Für mich war es ein ganz großes Privileg, mit so vielen großen Filmschaffenden sprechen zu dürfen. Ich habe dabei sehr viel über das Geschichtenerzählen gelernt. Zu den schlimmsten Momenten zählen peinliche Interviews, die ich aus irgendwelchen Gründen vergeigt habe. Das ist mir nur selten passiert, aber es war jedes Mal schrecklich.​

Ihre Hauptfigur fingiert ein Interview mit einem Star und macht es interessanter als es real war. Hatten Sie in Ihrer Journalistenzeit auch mal diese Versuchung? Im Roman spricht Klein ja auch davon, „den Deppen bessere Worte in den Mund“ zu legen.​

BERGMANN Manchmal hat es mich verwirrt, wenn die Gesprächspartner eine wunderschöne, naheliegende Antwort partout nicht geben wollten. Klar, ich kann die Versuchung verstehen, ein bisschen nachzubessern, aber es ist wie die Versuchung, eine Bank zu überfallen – sowas gehört sich nicht! Ich kannte mal jemanden, der das gemacht hat. Er hat Zitate gefälscht und ist dann aufgeflogen. Das war Betrug. Aber immerhin war es auch eine Inspiration für meinen Roman.​

Andreas Pflügers Buch „Herzschlagkino“

Ist die Figur des Kritikers im Roman eine Version Ihrer selbst – oder eher ein Gegenentwurf?​

BERGMANN Ein bisschen von beidem. Marcel Klein ist in vielen Dingen besser als ich, aber er ist auch ein Blender, ein Feigling, ein Schmock. Er ist meine Schattenseite.​

Was waren die schlimmsten realen Interview-Sätze, die Sie über die Jahre nicht mehr ertragen konnten?​

BERGMANN Die schlimmsten realen Interview-Sätze möchte ich nicht verraten. Das wäre unfair.​

Wie hatte sich die Arbeit über die 18 Jahre verändert? Sind die Stars immer mediengeschulter und damit weniger originell und offen geworden?​

BERGMANN Jungstars sind immer am schwierigsten. Sie haben zu wenig Erfahrung in dem Job, und vielleicht auch zu wenig Lebenserfahrung. Die alten Hasen kennen das Geschäft, sie nehmen sich nicht so ernst und reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Das macht viel Spaß.​

Wer aus der Filmbranche  hat sie damals am meisten beeindruckt, wer am wenigsten?​

BERGMANN Grundsätzlich gilt: Je größer die Stars, desto angenehmer ist das Gespräch. Am meisten beeindruckt hat mich die Oberliga, also Leute wie James Cameron, Steven Spielberg, Helen Mirren oder auch Ewan McGregor. Das sind souveräne Leute, die Spaß an der Sache haben. Mein Lieblingsinterview war mit Gary Oldman, der ist wirklich ein Schatz.​

Ihr Roman „Der Trick“ war ein Bestseller und wurde in 17 Sprachen übersetzt. Hat man da als Autor ziemlich ausgesorgt? Oder ist das reichlich naiv meinerseits?​

BERGMANN Ausgesorgt habe ich leider keineswegs, aber „Der Trick“ war für mich bei manchen Krisen – beispielsweise Covid – ein echter Segen. Aber jetzt muss es irgendwie weitergehen.​

Haben Sie eine Meinung zu den aktuellen „Tatorten“ aus Saarbrücken?​

BERGMANN Ich habe noch nie einen „Tatort“ bis zum Ende durchgehalten. Ist nicht so meins. Ich verstehe nicht, warum man die Storys nicht spannender und vor allem bildlicher erzählt.​

Emanuel Bergmann: Tahara. Diogenes, 288 Seiten, 25 Euro.

Lesung in Saarbrücken: Freitag, 19. April, 19.30 Uhr, im Saarbrücker Filmhaus.
Karten gibt es bei der Buchhandlung Raueiser, Tel. (06 81) 379 18 30, ticket-regional.de
Das ganze Programm des Festivals: https://erlesen-saarland.de

Interview mit Iris Wolff: „Ich träume von einem Hotel für leise Leute“

Schriftstellerin Iris Wolff, fotografiert von Maximilian Gödecke.

Iris Wolff, fotografiert von Maximilian Gödecke.

 

Ein seltenes Phänomen: Euphorische Kritiken, Preise – und kommerzieller Erfolg. Das Buch „Die Unschärfe der Welt“ machte die Autorin Iris Wolff (46) bekannt, mit „Lichtungen“ hat sie ihren fünften Roman veröffentlicht, eine Liebes- und Freundschaftsgeschichte. Daraus liest sie am 17.4. in den Lichtspielen Wadern gelesen, im Rahmen des Festivals „erLesen!“, eingeladen von der Bücherhütte Wadern.​

 

Sie waren schon einmal in den Lichtspielen Wadern, 2021 mit Ihrem Roman „Die Unschärfe der Welt“. Ist das einer der ungewöhnlicheren Orte, an denen Sie bisher gelesen haben?​

WOLFF Unbedingt! Lesungen finden meist ganz klassisch in Literaturhäusern oder Buchhandlungen statt. Ich empfand den Kinosaal in Wadern als sehr angenehm, auch fürs Publikum – das bei Getränken in bequemen Sesseln zuhören konnte. Was ich gerne einmal erleben würde, ist: eine Lesung im Liegen. Ob das irgendwann jemand organisiert?​

Das Kino war schnell ausverkauft, Ihr Roman „Lichtungen“ ist ein Bestseller – was bedeutet für Sie der kommerzielle Erfolg rein praktisch? Verschafft er Ihnen wertvolle Zeit, sozusagen Luft zum Schreiben?​

WOLFF Ich kann seit meinem dritten Roman vom Schreiben leben – etwas, was an sich schon recht ungewöhnlich ist. Dass nun der aktuelle Roman so einen sensationellen Erfolg hat, lässt mich dankbar sein und staunen. Ich habe es am Beginn meines Schreibens nie für möglich gehalten, dass so viele Leserinnen und Leser meine Erzählwelten mögen werden. Dieser Erfolg hat für mich eher immateriellen Wert – er stärkt mich, gibt mir Vertrauen, weiter meinen Weg zu gehen.​

Interview mit Buchpreisträger Tonio Schachinger

Wie war das, als Sie noch nicht als freie Schriftstellerin arbeiten konnten – aufreibend?​

WOLFF Meine ersten beiden Bücher hatten eher eine überschaubare Wahrnehmung. Ich war froh über jede Einladung. Obwohl es schwer war, da meine gesamte Zeit entweder meinem Brotberuf oder dem Schreiben galt, und somit kaum Freizeit übrig blieb, habe ich nie daran gezweifelt, dass ich genau das machen möchte – schreiben, über Literatur sprechen.​

In „Lichtungen“ erzählen Sie von den Figuren Lev und Kato, die einander seit Kindheitstagen in Rumänien kennen – der Roman beginnt mit ihrem Wiedersehen in Zürich und erzählt dann kapitelweise rückwärts. Wie hat sich dieses Konzept auf Ihren Schreibprozess ausgewirkt? Denn Sie müssen das Ende ja schon komplett erdacht haben – beim üblichen chronologischen Erzählen nicht, zumal Sie einmal gesagt haben, sie würden sich gerne von Ihren Figuren überraschen lassen.​

WOLFF Ich habe Lev liegend im Bett kennengelernt, also im letzten Drittel des Romans. Von dort aus habe ich die Geschichte in zwei Richtungen geschrieben, ich wusste also lange nicht, wie das Buch beginnt und wie es endet. Hohes Risiko – denn wenn man vorne beginnt und wie ich ins Offene hineinschreibt, weiß man wenigstens, wie eine Geschichte anfängt. Trotz der komplexen Erzählstruktur wollte ich nicht, dass die Leserinnen und Leser sich selbst alles mühevoll zusammensuchen müssen. Die Geschichte muss einen Sog haben, Plausibilität besitzen und Einfachheit. Das erzählerisch hinzubekommen, war nicht leicht. Wenn ich es mir aussuchen darf, würde ich gern wieder am Beginn in eine Geschichte eingelassen werden …​

Interview mit Thomas Hettche

Wenn man eine lange Lesereise unternimmt – „Lichtungen“ stellen Sie an über 60 Terminen vor –, droht da beim Lesen eine gewisse Routine? Wie kann man der entgegenwirken – etwa durch das Wechseln der Textstellen? Was aber wieder die Dramaturgie eines Leseabends durcheinanderbringen könnte?​

WOLFF Routine spüre ich noch nicht, jeder Abend ist für mich aufregend und spannend – weil es immer andere Menschen sind, die zuhören. Ich habe natürlich gewisse Lieblingsstellen, die ich gerne lese, weil sie mir Sicherheit geben. Am schönsten ist es, wenn ich nicht allein auf der Bühne sein muss und es ein lebendiges Gespräch gibt. Mich von dem Augenblick und den Fragen überraschen lassen, das macht mir am meisten Spaß. Die Mühen und Ermüdungen einer Lesereise liegen woanders: Im Reisen.​

Wie empfinden Sie bei einer Lesung die eigenen Texte, an denen Sie ja lange gearbeitet haben – gibt es da Stellen, bei denen Sie denken, dass Sie die heute anders schreiben würden? Oder ist ein Text für Sie abgeschlossen, wenn er als Buch gedruckt ist?​

WOLFF Wer einen Blick in mein Lese-Exemplar wirft, wird sehen, dass ich Sätze weglasse, Wörter ersetze. Ein Buch wirklich loszulassen, ist schwer. Mein Verlag möchte im kommenden Jahr auch meine ersten beiden Romane als Taschenbücher herausbringen, und ich muss es mir regelrecht verbieten, Hand an die Sätze zu legen. Ich weiß, dass die Bücher so in die Welt gehen sollten, wie ich sie damals geschrieben habe. Schließlich habe ich mit jedem Buch eine Entwicklung gemacht, hat sich das Erzählen, die Sprache verändert.​

In Kritiken wird oft Ihr „schlanker Stil“ gelobt. Müssen sie nach dem Schreiben lange, um im Sprachbild zu bleiben, entfetten und einköcheln? Oder ist das, was Sie erstmals schreiben, nahezu identisch mit dem, was später gedruckt wird?​

WOLFF Irgendwie beides. Ich schreibe unheimlich langsam, koche schon beim Schreiben ein.​

Wird literarisches Handwerk zu oft unterschätzt – gerne von Autorinnen und Autoren, die lieber auf göttliche Eingebung warten denn mal üben?​

WOLFF Literatur braucht beides: Inspiration, was ein unfassbares Phänomen, vielleicht eher ein Zustand ist. Und ebenso Ausdauer, Handwerk. Bei jungen Schreibenden stelle ich fest, dass sie unterschätzen, wie oft ein Text überarbeitet werden muss, bis er wirklich gut ist. Ein Text wird meiner Erfahrung nach besser, wenn man sich Zeit mit ihm lässt; wenn man wieder und wieder liest, korrigiert, verändert, verknüpft, reduziert, präzisiert. Ich feiere Langsamkeit, Gründlichkeit, Behutsamkeit. In der Literatur wie im Leben. Ich möchte starke Bilder finden, einen neuen Blick. In den besten Momenten des Schreibens wird es einem geschenkt, aber oft ist es auch ein Ringen.​

Sie haben eben das Reisen angesprochen. Was stört oder zumindest irritiert Sie bei Lesereisen am meisten in Hotels? Die meist unbrauchbaren Leselampen?​

WOLFF Mich freut Ihre Frage. Manchmal habe ich den Eindruck, mein Beruf bringt es mit sich, dass ich auch Hotelkritikerin sein könnte. Neben dem Bahnhof ist das Hotel meist das einzige, was man – neben dem Veranstaltungsort – von einer Stadt sieht. Inzwischen nehme ich meist auf den ersten Blick wahr, was in einem Zimmer nicht bedacht wurde, damit man sich wohlfühlt. Der ganze Zauber bröckelt, wenn man feststellen muss, dass direkt nebenan der Putzraum mit einer automatisch ins Schloss fallenden Tür ist. Was mich am meisten stört, ist Lärm. Ich träume von Hotels für leise Leute. Gern mit Hotelkatze. Hätte nur jedes vierte Hotel eine Katze, wären die Tierheime besser dran.​

Iris Wolff: Lichtungen.
Klett-Cotta, 256 Seiten, 24 Euro.
Iris Wolffs Seite.

„Herzschlagkino“ von Andreas Pflüger – „77 Filme fürs Leben“

Andreas Pflüger (66) ist in Saarbrücken aufgewachsen. Nach dem Abbruch eines Theologie- und Philosophiestudiums arbeitete er als Taxifahrer, Möbelverkäufer und Koch, schrieb Hörspiele und viele Drehbücher, darunter 27 „Tatorte“. Sein jüngster Roman ist "Wie Sterben geht". Foto: Stefan Klüter
Andreas Pflüger (66) ist in Saarbrücken aufgewachsen. Nach dem Abbruch eines Theologie- und Philosophiestudiums arbeitete er als Taxifahrer, Möbelverkäufer und Koch, schrieb Hörspiele und viele Drehbücher, darunter 27 „Tatorte“. Sein jüngster Roman ist „Wie Sterben geht“. Foto: Stefan Klüter

 

Der saarländische Autor Andreas Pflüger schreibt über seine 77 liebsten Filme. In dem hinreißenden Band „Herzschlagkino“ erfährt man einiges über die Filme – aber auch viel über Pflüger selbst. Wieso hatte „Alien“ romantische Wirkung? Und wieso rief Götz George bei seinen Eltern an?​

Manchmal ist das so mit dem Kino. Man geht rein – und kommt ein bisschen größer wieder heraus. So war das auch bei Andreas Pflüger. Als ersten Film im Kino schaute er sich in Saarbrücken „Todesgrüße aus Shanghai“ an, ein Epos der stählernen Handkanten und spitzen Schreie von Bruce Lee, den übrigens in der deutschen Fassung Elmar Wepper wunderbar kernig spricht. Pflüger war damals 15, aber nach dem Film „kein Junge mehr, sondern ein brandgefährlicher Kerl; jedenfalls fühlte ich mich so“. Dass er später mal über Jahrzehnte hinweg Drehbücher schreiben würde, konnte er damals nicht wissen. Aber er wusste, so schreibt er es im Vorwort dieses Buchs, was er am Kino liebt: „Wenn der Vorhang aufgeht, will ich überwältigt werden, vom Sound, der Musik, von Bildern zu groß für die Leinwand.“ So sei aus ihm „ein Hollywood-Junkie“ geworden, „fürs gepflegte Kammerspiel bin ich verloren“.​

Kein Polieren unbekannter Perlen​

77 seiner liebsten Filme hat der saarländische Schriftsteller zusammengetragen, die meisten kommen im weitesten Sinne aus Hollywood, eine Handvoll aus Europa – „Diva“ etwa oder „Sommer vorm Balkon“. Pflüger will keine unbekannten Perlen polieren oder mit Geheimtipp-Nischenwissen angeben, die meisten Filme haben Klassiker-Status. Pflüger weiß, dass man bei Kalibern wie „The Shining“, „Das Schweigen der Lämmer“ oder „GoodFellas“ nicht mehr den Inhalt erklären muss – das wäre Ressourcen-Verschwendung.​ Vielmehr geht er die Filme aus anderen Perspektiven an, oft autobiografisch und gerne mit wohligen Abschweifungen; bei „Alien“ etwa geht es nur am Rande um HR Gigers Weltallmonster. Sondern vor allem um Elke, Pflügers damalige Kommilitonin, „mit so einem winzigen schwarzen Dingsbums auf der Wange und einem Lispeln, das mich verrückt machte“. Der galaktische Schrecken beim gemeinsamen Kinobesuch, der ersten Verabredung, führt dazu, dass Elke nicht alleine nach Hause gehen will. Der Rest ist Geschichte. Allerdings eine ziemlich kurze. Nach drei Wochen interessiert Elke sich deutlich stärker für „einen Typen, der einen roten Alfa Spider fuhr und Vergil auf Latein zitierte“.​

Auch Familiäres erfährt man – etwa, bei Pflügers Text zum Film „Shine“, dass seine Eltern nach seinem abgebrochenen Theologie-Studium und dem Wunsch, Autor zu werden, Schlimmstes befürchten, was den Lebensunterhalt angeht. Sie fragen aber lieber nicht mehr nach. Doch als er mal wieder zu Besuch aus Berlin da ist, klingelt beim Sonntagsbraten das Telefon. Die Mutter erbleicht rasant, denn es meldet sich Götz George; er will Pflüger sprechen, wohl wegen eines Drehbuchs. Fortan sorgen sich die Eltern nicht mehr, und der Vater fragt zum ersten Mal: „Erzähl mal, was Du so machst.“​

„Wehwehchen von Autoren mit vierstelligen Auflagen“​

Um Pflügers Arbeit als Autor geht es in den Filmbetrachtungen, ums Handwerk an sich, „das gerne gering geschätzt wird – aber nur von denen, die es nicht beherrschen“. Ein Autor etwa wie John Grisham, dessen Roman „Die Firma“ mit Tom Cruise verfilmt wurde, halte literarischen Stil und Rhythmus offensichtlich für „Wehwehchen von Autoren mit vierstelligen Auflagen“. Aber von seinen Plots könne man viel lernen, da sei Grisham so versiert wie ein „Waschbär beim Eierklauen“. Ebenso bewundert Pflüger an der dunklen Hollywood-Satire „Barton Fink“ der Coen-Brüder, dass in deren Drehbuch „nichts zu viel ist“. Gerade das sei eine besonders schwierige Kunst.​

Ab jetzt keine Drehbücher mehr​

Eine Schreibblockade, wie sie ein Autor in „Wonder Boys“ durchleidet (gespielt von Michael Douglas), erlebte er bisher fünf Mal, man „tut sich selbst leid und hasst die ganze Welt“. Zumindest eine Hürde im Arbeitsleben hat Pflüger aus dem Weg geräumt – die Diskussionen mit Produzentinnen und Produzenten bei Film und Fernsehen. Ein Produzent, unzufrieden mit einer ersten Drehbuchfassung, bat ihn, ihm doch einfach dieses „Pflüger-Feeling“ zu geben. „Das war fünf Minuten bevor ich beschloss, nur noch Romane zu schreiben.“​

Clint der Große​

Clint Eastwood hat es Pflüger bei den 77 Filmen am meisten angetan – sei es als Darsteller, Regisseur oder, meist, beides. Vier Mal taucht er auf, noch vor den Regisseuren Ridley Scott und Stanley Kubrick, dessen „Uhrwerk Orange“ er einst im Saarbrücker „Scala“ sah, der heutigen „Camera Zwo“. Keinen anderen Eastwood-Film hat er öfter gesehen als dessen Regie-Arbeit „Mystic River“, 30 oder 40 Mal – er ist sogar enttäuscht, wenn er ihn im Fernsehen verpasst. Bei Eastwood liebt er den Minimalismus, das ökonomische Erzählen, dieses „Nichts ist zu viel“ wie bei „Barton Fink“ der Coens.​

Kinos in Saarbrücken, Brüssel, Moskau​

Auch in verschiedene Kinos führt uns Pflüger, nicht nur in Saarbrücken, auch nach Paris: Dort lebt er Ende der 1970er für einige Zeit, schaut „Dr. Seltsam“ in einem Programmkino, „in dem es immer nach nassem Hund mit einem Quäntchen Knofi“ riecht und in das man am besten ein Kissen mitbringt, da die Bestuhlung schon kraftvoll durchgesessen ist. „Apocalypse Now“ sieht er auf Interrail-Reise in einem „abgerockten Brüsseler Bahnhofskino“; verstanden habe er den Film erst Jahre später.​ Den Westernklassiker „Die glorreichen Sieben“ schaut er sich 1993 im überheizten Rossija-Kino am Puschkinplatz in Moskau an; der US-Ton läuft im Hintergrund  – und im Vordergrund „ein russisches Voiceover, jede Rolle von derselben Frau gesprochen. Eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.“ Am Film mag Pflüger alles, auch Darsteller Horst Buchholz. Den lernt er später bei der Berlinale kennen; Buchholz habe einen „spektakulär versifften Flokati-Mantel“ getragen und viel geraucht, „ich glaube, er hat seine Kippen samt Filter gegessen. Ein Lachen wie ein Betonmischer.“ Aber die Buchholzschen Hollywood-Geschichten an diesem Abend klingen für Pflüger ehrlich, „er tat nicht, als hätte sein Stern in der Stadt der Engel hell gestrahlt“. Als Buchholz geht, hinterlässt er einen Geruch nach Mottenkugeln. Das ist schon große Kunst, wie Pflüger hier in einem kleinen Textabsatz einen melancholischen, zugleich unsentimentalen Abgesang auf eine schwierige Karriere anstimmt.​

„Da lernt man beten“​

Insgesamt kann man sich bei der Lektüre auch auf Pflügers Händchen für kernige Sätze und Pointen verlassen: Angesichts der damaligen Verrisse für den Science-Fiction-Film-Noir „Blade Runner“ bemerkt er lakonisch: „Die Ewigkeit schert sich nicht um Rezensionen.“ Bei „Silverado“ versucht er Western-Hasser zu bekehren, denn diese Filme seien ja auch bloß „Dramen, in denen Pferde mitspielen“. Angesichts des deutschen Films „Fanfaren der Liebe“, einer Art Pendant zu Billy Wilders „Manche mögen’s heiß“ warnt er lakonisch: „Da lernt man beten.“​ Aber auch sich selbst schont er nicht und gibt zu, angesichts von Brad Pitts Auftritt in „Thelma & Louise“ prophezeit zu haben, dass „der Kerl in der Versenkung verschwindet“. Man kann ja mal daneben liegen – was uns zu „Manche mögen’s heiß“ zurückführt und zu dessen letztem Dialogsatz. Es ist eben niemand vollkommen.  ​

Andreas Pflüger: Herzschlagkino. 77 Filme fürs Leben.
Arche, 165 Seiten, 17 Euro.
Info: www.andreaspflueger.de

Buchpreisträger Tonio Schachinger: „Überrascht war ich trotzdem“

Buchpreisträger Tonio Schachinger bei seiner Lesung im Theater am Ring in Saarlouis am 6. November. Foto: Tobias Keßler

„Man kann über alles schreiben – man muss es nur gut machen.“ Tonio Schachinger bei seiner Lesung im Theater am Ring in Saarlouis am 6. November.      Foto: tok

 

 

Der Wiener Schriftsteller Tonio Schachinger hat im Oktober den Deutschen Buchpreis erhalten, für seinen zweiten Roman „Echtzeitalter“. Der erzählt vom jungen Till, der sich mit seinem Leben in einem elitären Wiener Internat nicht anfreunden kann. Eine Leidenschaft und eine Flucht: das Computer-Strategiespiel „Age of Empire 2“. Till wird zu einer Szeneberühmtheit, ohne dass es im Internat auffällt.  

Herr Schachinger, 2019, als Ihr Debütroman „Nicht wie ihr“ auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, sagten Sie, dass die Nominierung Sie „schon gewundert“ habe. Ihr zweiter Roman hat nun den Deutschen Buchpreis gewonnen – wie sehr haben Sie sich da gewundert?​

SCHACHINGER Ein bisschen weniger als ich es 2019 getan hätte, aber überrascht war ich trotzdem.​

Was bedeuten der Preis und die Dotierung von 25 000 Euro für Sie praktisch? Wird viel ökonomischer Druck genommen – beziehungsweise direkt gefragt: Wissen Sie schon, was Sie mit dem Geld tun werden?​

SCHACHINGER Der Preis bedeutet zusätzliche Aufmerksamkeit, die kurzfristig zusätzliche Arbeit mit sich bringt, mir aber längerfristig ein ungestörtes Arbeiten ermöglichen wird. Das Geld wird also nicht in eine konkrete Sache fließen, sondern darin, mir weiterhin ein Leben als freier Schriftsteller zu ermöglichen.​

Gespräch mit Autor Thomas Hettche

Glauben Sie, dass der Preis Ihnen vor allem künstlerische Freiheit geben wird? Oder könnte er auch Druck mit sich bringen, dass man sich verkrampft beim Schreiben eines Werks, das einem Buchpreis-Roman folgt?

SCHACHINGER Wenn man den Buchpreis gewonnen hat, muss beziehungsweise kann man ihn ja nicht noch mal gewinnen – insofern nimmt es mehr Druck als es erzeugt. Meine künstlerische Freiheit hat schon bisher nie jemand eingeschränkt. Dass es jetzt irgendwer versuchen wird, kann ich mir schwer vorstellen.​

Sie schreiben in „Echtzeitalter“ vom Leben des Schülers Till an einem elitären und repressiven Internat in Wien – Sie selbst haben dort das Theresianum besucht. Ist die Hauptfigur eine Art Version von Ihnen? Oder ist der Ort nur die Kulisse einer Geschichte, die wenig mit Ihnen zu tun hat?​

SCHACHINGER Till, eine fiktive Figur, besucht eine fiktive Schule namens Marianum, die nur in diesem Roman existiert. Dass es zwischen dieser fiktiven Schule und der realen Schule, die ich selbst besucht habe, Überschneidungen gibt, bedeutet nicht, dass man sie gleichsetzen kann, so wie auch die sehr spärlichen Parallelen zwischen Till und mir nicht zu einer Gleichsetzung führen sollten.​

Auf einen Kaffee mit Schriftsteller Andreas Drescher

Hatten Sie große Angst, am Ende Ihrer Schulzeit zu einem jener elitären Jungschnösel zu werden, über die sich das Buch lustig macht?​

SCHACHINGER Am Ende der Schulzeit nicht mehr, aber mit 12 oder 13 wäre diese Sorge nicht völlig unberechtigt gewesen.​

Der Roman führt auch in die Welt der Computerspiele. Hatten Sie beim Schreiben die Furcht, mit diesen Passagen könnten Sie Gaming-unkundige Leserinnen und Leser verlieren? Wie herausfordernd war da das Schreiben?​

SCHACHINGER Meine allerersten Leserinnen, meine Frau, meine Lektorin und meine Agentin, sind alle nicht Gaming-affin, also hatte ich von Anfang an ein ganz gutes Gefühl dafür, wie solche Menschen den Roman lesen. Ich finde es auch nicht verwerflich, wenn sich manche Menschen bei manchen Stellen kurz langweilen, schließlich setzt jeder beim Lesen eigene Prioritäten, und so wie es Nicht-Gamerinnen geben wird, denen die Stellen zu „Age of Empires 2“ etwas zu lang sind, wird es Gamerinnen geben, die sich bei den Ausführungen zu Adalbert Stifter langweilen.​

Ihre Ehefrau Margit Mössmer ist Schriftstellerin – was sind die Vor- und Nachteile für ein Paar, demselben Beruf nachzugehen?​

SCHACHINGER Der Vorteil ist, dass man viel teilen, sich gegenseitig helfen und einander in dem, was man macht, verstehen kann. Der Nachteil ist, dass man sich in der gleichen Blase bewegt und aktiv daran arbeiten muss, nicht ständig über berufliche Dinge zu sprechen.​

Tonio Schachinger: Echtzeitalter.
Rowohlt, 368 Seiten, 24 Euro.

Schachingers Debüt „Nicht wie ihr“ (2019) ist bei Kremayr und Scheriau erschienen, 305 Seiten, 14 Euro.​

© 2024 KINOBLOG

Theme von Anders NorénHoch ↑