Thomas Hettche Sinkende Sterne

Schriftsteller Thomas Hettche. Foto: Joachim Gern

 

Ein Mann reist nach dem Tod der Eltern an einen Ort seiner Kindheit – ein Haus in den Schweizer Bergen. Doch der Ort ist ein anderer geworden: Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen riesigen See verwandelt, das Wallis wird zu einer archaischen Gegend mit mittelalterlichen Machtstrukturen. Mittendrin muss sich der Erzähler zurechtfinden und auch sein eigenes Leben als Schriftsteller bedenken. „Sinkende Sterne“ des mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers Thomas Hettche (58, „Pfaueninsel“, „Herzfaden“) ist ein vielschichtiger, sprachlich virtuoser Roman über die Moderne und die Vergangenheit, über Gesellschaft und Kunst.

„Die Dinge zerfallen. Die Mitte kann nicht halten“, schreibt Ihr Erzähler im Roman „Sinkende Sterne“, auch von „Ruinen einer Welt, an deren Zerstörung meine Generation Anteil hat“. Ganz pauschal gefragt – macht Ihnen die Welt heute mehr Angst als vor zehn oder 20, 30 Jahren?​

HETTCHE Allerdings! Geht es Ihnen nicht so? Eine tiefe Verunsicherung hat vor allem Europa erfasst. Alles, was uns sicher schien, ist bedroht. Die Welt der nahen Zukunft wird eine völlig andere sein als die, aus der wir kommen.​

„Jeder gelungene Text ist tröstlich, denn er fällt aus der unerbittlichen Zeit“, heißt es im Roman, aber auch „Literatur stillt unsere Sehnsucht nach einer Wahrheit, die es nicht gibt“. Das klingt trotz Trost resignierend…​

HETTCHE Nein, überhaupt nicht! Ich finde es wahnsinnig rührend, dass Menschen sich nach Dingen sehnen, die es gar nicht gibt. Das ist es, was uns auszeichnet. Das ist es, was uns antreibt, die Welt besser zu machen, gegen alle Widerstände und wohl auch gegen jede Vernunft.​

Ihre Romanfigur, ein Schriftsteller und Dozent, verliert seine Stelle an einer Hochschule. Man wirft ihm sexistischen Sprachgebrauch vor und eine „Fixierung auf Texte eines westlichen Kanons“ – ist das im Roman eine Übertreibung oder ein realistisches Abbild der aktuellen Stimmung im Hochschul-, vielleicht auch im Kulturbetrieb? Ihre Figur schreibt gar von „moralischem Terror“.​

HETTCHE Ich glaube nicht, dass mein Roman übertreibt. Die Veränderungen, die wir erleben, besorgen mich zutiefst. Die Universitäten opfern bereitwillig die Freiheit des Denkens, die Theater die Fantasie, die Verlage das subversive Potential der Literatur – und die meist jungen Menschen, die all das voller Begeisterung ins Werk setzen, tun das immer mit dem Anspruch, moralisch korrekt zu sein.​

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Wie schwierig ist es, sich in dieser Diskussion als Autor oder Autorin wirklich differenziert zu positionieren – ohne dass man von der einen Seite reflexartig als „alter weißer Mann“ diffamiert wird oder vereinnahmt wird von jenen, die schon beim Gendersternchen Schaum vor dem Mund bekommen? Die Diskussion scheint hysterisch, oder?​

HETTCHE  Hysterisch sind nicht primär die Inhalte, sondern die Algorithmen der sozialen Medien selbst. Kein Zufall, dass ich mich aus dem, was bei uns „Debatte“ heißt, inzwischen völlig heraushalte. Dennoch hat mich die Frage interessiert, wie ein Roman wohl aussehen könnte, der anders als die meisten Texte, die man heute so nennt, keine Thesen verteidigen würde, sondern tastend und suchend ein Abbild unserer Gegenwart und vielleicht ein Einspruch gegen ihre geläufigsten Irrtümer wäre.​

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Die Figur im Roman heißt wie Sie, ist Schriftsteller wie Sie. Das könnte auf die Fährte des „autobiografischen Schreibens“ locken – aber so vergleichsweise einfach ist es nicht, oder? Wie weit entfernt ist die Figur Thomas Hettche von Ihnen?​

HETTCHE  Ich glaube Autoren nicht, die behaupten, authentisch von sich selbst zu sprechen. Jeder Satz in einem Buch ist Erfindung. Insofern ist die Figur Thomas Hettche im Roman von mir so weit entfernt wie ich selbst. Oder sind Sie sich immer nah?​

Thomas Hettche: Sinkende Sterne. Kiepenheuer & Witsch. 214 Seiten, 25 Euro.