Über Film und dieses & jenes

Monat: März 2023

„Tod in Venedig“ und das Leben danach: Doku „The most beautiful boy in the world“

 

the most beautiful boy in the world

Björn Andresen bei den Dreharbeiten zu „Der Tod in Venedig“.     Foto: Mario Tursi / MissingFilms

Für seinen Film „Der Tod in Venedig“ suchte Regisseur Luchino Visconti das Sinnbild unschuldiger Schönheit. Er fand es beim damals 15-jährigen Björn Andresen – doch für ihn war die Erfahrung hässlich. Eine Doku erzählt Andresens Geschichte.

„Und jetzt den Oberkörper!“ Der 15-Jährige zieht den Pulli aus. Später auch die Hose, lässt sich in Badehose ausgiebig mustern. Regisseur Luchino Visconti und sein Team schauen genau hin, denn sie suchen das Abbild lupenreiner Schönheit und androgyner, unschuldiger Makellosigkeit – für die Verfilmung von Thomas Manns „Der Tod in Venedig“. Wir sehen alte Aufnahmen von 1970, aus Stockholm – einer der vielen Städte in Europa, in denen Visconti damals den Darsteller seines Tadzio sucht, jenes Knaben, dessen Schönheit der fiktive Schriftsteller Gustav von Aschenbach verfällt (im Film gespielt von Dirk Bogarde). Visconti findet seinen Tadzio: Es ist Björn Andresen, jener 15-Jährige, dem man in den Dokumentaraufnahmen ansieht, wie unangenehm ihm die Casting-Prozedur ist, nicht zuletzt das Posieren in Badehose. Warum war er überhaupt da? Und inwieweit hat der Film das Leben des Jungen beeinflusst und verfinstert?

Diese Fragen stellt der Dokumentarfilm „The most beautiful boy in the world“ – so betitelt Visconti den Jungen damals, es wird Andresens Beiname in fast jedem Zeitungsartikel, als sich „Der Tod in Venedig“ als großer Kino-Erfolg erweist. Der Film zeigt historische Aufnahmen von der glanzvollen Premiere damals in London in Anwesenheit der Queen – und im Kontrast den Andresen von heute: einen Mann Ende 60 mit weißem Haar und Zottelbart über den eingefallenen Wangen. Fast verliert er seine kleine Wohnung, weil er immer wieder vergisst, seinen Gasherd abzustellen. Was ist zwischen damals und heute geschehen?

„Rote Pillen“, um durchzuhalten

Das blättert der Film langsam auf, mit faszinierenden Archivaufnahmen (darunter Super-8-Bildern von den „Venedig“-Dreharbeiten) und in sehr persönlichen Momenten; erst einmal scheint es, als sähen die Filmemacher Kristina Lindström und Kristian Petri vor allem in der Behandlung Andresens durch Visconti und die Kulturszene den Grund eines schwierigen Lebens. Die Bilder vom Festival in Cannes, wo Andresen bei der Pressekonferenz wie ein Maskottchen mitgeschleppt wird und Visconti über ihn spricht, als sei er gar nicht anwesend, sind beklemmend. Der homosexuelle Visconti nimmt den 16-Jährigen in einen Schwulenclub mit, erzählt Andresen viele Jahre später; die Blicke der Männer hätten ihn eingeschüchtert, er habe sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, um sie auszublenden. Wo sind da Eltern? Familie? Betreuer?

 

Björn Andresen heute.     Foto: Mantaray Film

Andresen hat damals nur noch eine Großmutter, die einen „Star als Enkel haben wollte“, wie er heute sagt. Den bekommt sie. In Japan wird der Junge mit den goldenen Locken zu einem Teenie-Idol, nimmt süßliche Schlager auf, sein Antlitz wird in der Hauptfigur eines Comics verewigt. Viele Termine, Stress. Kreischende Fans – um durchzuhalten, gibt man ihm „rote Pillen“, wobei das „man“ etwas diffus bleibt. Insgesamt bleibt der Film da vage, wo man sich mehr Fakten gewünscht hätte. Was genau hat es bedeutet, dass Andresen bei Visconti einen Drei-Jahres-Vertrag unterzeichnet hatte? Der Film erklärt da wenig, lässt aber gerne bedrohlich klingende Musik über die Bilder fließen. Hatte Visconti da mit seinem Kurzzeit-Schützling überhaupt noch etwas zu tun?

„Enorme Naivität“

Man hätte Andresen jedenfalls das gewünscht, was man gerne ein „stabiles Umfeld“ nennt, aber er hatte es nicht, wie der Film erzählt: Wer sein Vater ist, weiß Andresen bis heute nicht, seine Mutter nimmt sich das Leben, als er elf Jahre alt ist, über sie wird fortan in der Familie nicht mehr gesprochen. Als der Trubel um „Tod in Venedig“ abebbt und weitere Filmprojekte nicht zustande kommen, verbringt Andresen ein Jahr in Paris – in einer Wohnung, die ihm ein Produzent bezahlt, ohne dass überhaupt ein Film gedreht wird. Was in der Wohnung geschieht, lässt der Film im Dunkeln, Andresen spricht zumindest von eigener „enormer Naivität“. Man kann nur spekulieren, die Filmemacher fragen nicht nach.

Fünf Jahre lang haben Kristina Lindström und Kristian Petri Andresen immer wieder getroffen, mit ihm in Stockholm, Kopenhagen, Paris, Budapest, Venedig und Tokio gefilmt – dabei auch im Gespräch mit seiner deutlich jüngeren Lebensgefährtin, die manchmal wie eine Betreuerin wirkt, mit seiner Halbschwester und mit seiner Tochter. Da offenbart sich eine Lebensgeschichte, die ganz unabhängig von den „Tod in Venedig“-Nachwirkungen voller Tragik ist – durch den Freitod der Mutter und durch den plötzlichen Kindstod seines Sohnes. Die Diagnose Andresens, der sich als Vater überfordert fühlte, Vaterschaft „beängstigend“ nennt, ist eine andere: „Zu wenig Liebe“. Das sind Szenen und Sätze, die erschüttern können, in all ihrer Ruhe: „Das Verrückte ist“, sagt Andresen, „dass man sich daran gewöhnt. Man erwartet einfach weniger vom Leben.“

Manchmal filmisch aufdringlich

Der Film entscheidet sich gegen eine klassische Doku-Bildgestaltung; bisweilen inszeniert er Andresen wie einen Schauspieler – was er ja auch ist: Während der im Film leider wenig erklärten späteren Lebensjahrzehnte hat er immer wieder Serien und Filme gedreht, zuletzt etwa in der Gruselmär „Midsomar“. In der Doku wandelt er in Zeitlupe durch die jetzt bröckelnden Korridore des Hotels in „Tod in Venedig“ und auch am Lagunenstrand entlang. Das hat filmische Kraft, hat aber auch seine aufdringlichen Momente: Muss man Szenen, in denen er als älterer Mann zum ersten Mal die Polizeiakte über den Freitod der Mutter liest, mit melancholischen Klavierklängen unterlegen, damit man als Zuschauer weiß, wie tragisch das alles ist? Wohl kaum.

Das nimmt diesem Film letztlich nicht viel von seiner berührenden Wirkung. Ausgehend von Viscontis „Tod in Venedig“ erzählt er von Vermarktung einer Person, von Familie, Verlust und einem Leben, zu dem ein Satz Andresens wohl besonders gut passt: „Ich wollte woanders sein – und jemand anderes sein.“

Mutterschaft und Mord: „Saint Omer“ von Alice Diop

Saint Omer

Famose Darstellung: Guslagie Malanda als angeklagte Mutter. Foto: Grandfilm

 

Wie erklärt man das Unerklärbare? Man kann es nicht. „Saint Omer“ gibt auch nicht vor, es zu können, aber er umkreist es, beobachtet es aus vielen Perspektiven. Der Film basiert auf einem wahren Verbrechen: 2013 legt Fabienne Kabou ihre kleine Tochter in Berck-sur-Mer bei steigender Flut am Strand ab und lässt sie allein. Das Kind ertrinkt. Beim Prozess spricht sie von Hexerei durch ihre Verwandten aus dem Senegal. Psychologische Gutachter vermuten Paranoia, attestieren postnatale Depressionen, halten Kabou aber für schuldfähig. Sie wird zu 20 Jahren Haft verurteilt, verbunden mit psychologischer Behandlung.

Autobiografische Rahmenhandlung

Die französische Filmemacherin Alice Diop hat den Prozess 2016 in Saint Omer als Zuschauerin begleitet und auf dessen Basis ihren ersten Spielfilm gedreht. Die Dialoge der Prozess-Szenen stammen aus der realen Verhandlung. Aber Diop hat, zusammen mit den Ko-Autorinnen Amrita David und Marie Ndiaye, eine stark autobiografische Nebenhandlung verfasst. Rama, eine schwarze Literatur-Professorin aus Paris, reist nach Saint Omer, um über den Prozess eine Reportage zu schreiben, weil sie persönliche Parallelen sieht: Sie ist schwanger von ihrem weißen Lebenspartner – auch die ermordete Tochter der schwarzen Angeklagten hat einen weißen Vater. Das Verhältnis Ramas zu ihrer Mutter ist nahezu zerrüttet, so wie es auch zwischen der Angeklagten und ihrer Mutter war.

„In der Nacht des 12“ von Dominik Moll

Ramas Leben und Arbeit, darunter eine Vorlesung über Marguerite Duras‘ Drehbuch zu „Hiroshima mon amour“, werden in knappen, prägnanten Szenen dargelegt, bevor sich die Handlung erstmals in den Gerichtssaal verlagert – zu einer intensiven halbstündigen Sequenz. Die Angeklagte, hier heißt sie Laurence Coly, wird zu ihrem Leben befragt, schildert ihre Jugend im Senegal, die dominante Mutter, die ihr Kind dazu drillt, nichts anderes als Französisch zu sprechen; den Umzug nach Paris, um „den Eltern zu entkommen“ und um eine akademische Karriere zu beginnen; die Beziehung zu einem deutlich älteren Mann, der noch verheiratet ist, Laurence für den Geburtstag der Gattin kochen, sie aber nicht mitessen lässt. Der befragte Mann zeichnet das in seiner Aussage ganz anders, erzählt von Colys Aggression, Wutausbrüchen. Den Tod der Tochter beschreibt die Angeklagte anfangs wie eine Unbeteiligte: Sie hoffe nun durch das Verfahren, das Ganze zu verstehen, sie sei nicht „die wirklich Verantwortliche“.

Filmische Zurückhaltung

Die erschütternden Aussagen zeigt „Saint Omer“ mit Klarheit und Zurückhaltung. Die Kamera ist nahezu statisch, konzentriert sich auf die Gesichter. Hier wird kein Klischee des Gerichtsfilms bemüht, geht es doch nicht um eine Erklärung. Diop stellt, ausgehend von der Täterinnen-Biografie,  Fragen nach Weiblichkeit, kultureller Identität, Alltagsrassismus, Spätfolgen des Kolonialismus und vor allem der Mutterschaft.

„Pacifiction“ mit Benoit Magimel

In einigen wenigen Momenten droht das Prätentiöse: Die Verweise auf Marguerite Duras, auf den Medea-Mythos, dessen Pasolini-Adaption mit Maria Callas, auf französische Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Kollaborateure kahl geschoren wurden, wirken etwas bemüht. Und doch ist dies ein vielschichtiger, enorm kraftvoller Film, der zur Diskussion danach zwingt.

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