Film und dieses & jenes, von Tobias Keßler

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„Tod in Venedig“ und das Leben danach: Doku „The most beautiful boy in the world“

 

the most beautiful boy in the world

Björn Andresen bei den Dreharbeiten zu „Der Tod in Venedig“.     Foto: Mario Tursi / MissingFilms

Für seinen Film „Der Tod in Venedig“ suchte Regisseur Luchino Visconti das Sinnbild unschuldiger Schönheit. Er fand es beim damals 15-jährigen Björn Andresen – doch für ihn war die Erfahrung hässlich. Eine Doku erzählt Andresens Geschichte.

„Und jetzt den Oberkörper!“ Der 15-Jährige zieht den Pulli aus. Später auch die Hose, lässt sich in Badehose ausgiebig mustern. Regisseur Luchino Visconti und sein Team schauen genau hin, denn sie suchen das Abbild lupenreiner Schönheit und androgyner, unschuldiger Makellosigkeit – für die Verfilmung von Thomas Manns „Der Tod in Venedig“. Wir sehen alte Aufnahmen von 1970, aus Stockholm – einer der vielen Städte in Europa, in denen Visconti damals den Darsteller seines Tadzio sucht, jenes Knaben, dessen Schönheit der fiktive Schriftsteller Gustav von Aschenbach verfällt (im Film gespielt von Dirk Bogarde). Visconti findet seinen Tadzio: Es ist Björn Andresen, jener 15-Jährige, dem man in den Dokumentaraufnahmen ansieht, wie unangenehm ihm die Casting-Prozedur ist, nicht zuletzt das Posieren in Badehose. Warum war er überhaupt da? Und inwieweit hat der Film das Leben des Jungen beeinflusst und verfinstert?

Diese Fragen stellt der Dokumentarfilm „The most beautiful boy in the world“ – so betitelt Visconti den Jungen damals, es wird Andresens Beiname in fast jedem Zeitungsartikel, als sich „Der Tod in Venedig“ als großer Kino-Erfolg erweist. Der Film zeigt historische Aufnahmen von der glanzvollen Premiere damals in London in Anwesenheit der Queen – und im Kontrast den Andresen von heute: einen Mann Ende 60 mit weißem Haar und Zottelbart über den eingefallenen Wangen. Fast verliert er seine kleine Wohnung, weil er immer wieder vergisst, seinen Gasherd abzustellen. Was ist zwischen damals und heute geschehen?

„Rote Pillen“, um durchzuhalten

Das blättert der Film langsam auf, mit faszinierenden Archivaufnahmen (darunter Super-8-Bildern von den „Venedig“-Dreharbeiten) und in sehr persönlichen Momenten; erst einmal scheint es, als sähen die Filmemacher Kristina Lindström und Kristian Petri vor allem in der Behandlung Andresens durch Visconti und die Kulturszene den Grund eines schwierigen Lebens. Die Bilder vom Festival in Cannes, wo Andresen bei der Pressekonferenz wie ein Maskottchen mitgeschleppt wird und Visconti über ihn spricht, als sei er gar nicht anwesend, sind beklemmend. Der homosexuelle Visconti nimmt den 16-Jährigen in einen Schwulenclub mit, erzählt Andresen viele Jahre später; die Blicke der Männer hätten ihn eingeschüchtert, er habe sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, um sie auszublenden. Wo sind da Eltern? Familie? Betreuer?

 

Björn Andresen heute.     Foto: Mantaray Film

Andresen hat damals nur noch eine Großmutter, die einen „Star als Enkel haben wollte“, wie er heute sagt. Den bekommt sie. In Japan wird der Junge mit den goldenen Locken zu einem Teenie-Idol, nimmt süßliche Schlager auf, sein Antlitz wird in der Hauptfigur eines Comics verewigt. Viele Termine, Stress. Kreischende Fans – um durchzuhalten, gibt man ihm „rote Pillen“, wobei das „man“ etwas diffus bleibt. Insgesamt bleibt der Film da vage, wo man sich mehr Fakten gewünscht hätte. Was genau hat es bedeutet, dass Andresen bei Visconti einen Drei-Jahres-Vertrag unterzeichnet hatte? Der Film erklärt da wenig, lässt aber gerne bedrohlich klingende Musik über die Bilder fließen. Hatte Visconti da mit seinem Kurzzeit-Schützling überhaupt noch etwas zu tun?

„Enorme Naivität“

Man hätte Andresen jedenfalls das gewünscht, was man gerne ein „stabiles Umfeld“ nennt, aber er hatte es nicht, wie der Film erzählt: Wer sein Vater ist, weiß Andresen bis heute nicht, seine Mutter nimmt sich das Leben, als er elf Jahre alt ist, über sie wird fortan in der Familie nicht mehr gesprochen. Als der Trubel um „Tod in Venedig“ abebbt und weitere Filmprojekte nicht zustande kommen, verbringt Andresen ein Jahr in Paris – in einer Wohnung, die ihm ein Produzent bezahlt, ohne dass überhaupt ein Film gedreht wird. Was in der Wohnung geschieht, lässt der Film im Dunkeln, Andresen spricht zumindest von eigener „enormer Naivität“. Man kann nur spekulieren, die Filmemacher fragen nicht nach.

Fünf Jahre lang haben Kristina Lindström und Kristian Petri Andresen immer wieder getroffen, mit ihm in Stockholm, Kopenhagen, Paris, Budapest, Venedig und Tokio gefilmt – dabei auch im Gespräch mit seiner deutlich jüngeren Lebensgefährtin, die manchmal wie eine Betreuerin wirkt, mit seiner Halbschwester und mit seiner Tochter. Da offenbart sich eine Lebensgeschichte, die ganz unabhängig von den „Tod in Venedig“-Nachwirkungen voller Tragik ist – durch den Freitod der Mutter und durch den plötzlichen Kindstod seines Sohnes. Die Diagnose Andresens, der sich als Vater überfordert fühlte, Vaterschaft „beängstigend“ nennt, ist eine andere: „Zu wenig Liebe“. Das sind Szenen und Sätze, die erschüttern können, in all ihrer Ruhe: „Das Verrückte ist“, sagt Andresen, „dass man sich daran gewöhnt. Man erwartet einfach weniger vom Leben.“

Manchmal filmisch aufdringlich

Der Film entscheidet sich gegen eine klassische Doku-Bildgestaltung; bisweilen inszeniert er Andresen wie einen Schauspieler – was er ja auch ist: Während der im Film leider wenig erklärten späteren Lebensjahrzehnte hat er immer wieder Serien und Filme gedreht, zuletzt etwa in der Gruselmär „Midsomar“. In der Doku wandelt er in Zeitlupe durch die jetzt bröckelnden Korridore des Hotels in „Tod in Venedig“ und auch am Lagunenstrand entlang. Das hat filmische Kraft, hat aber auch seine aufdringlichen Momente: Muss man Szenen, in denen er als älterer Mann zum ersten Mal die Polizeiakte über den Freitod der Mutter liest, mit melancholischen Klavierklängen unterlegen, damit man als Zuschauer weiß, wie tragisch das alles ist? Wohl kaum.

Das nimmt diesem Film letztlich nicht viel von seiner berührenden Wirkung. Ausgehend von Viscontis „Tod in Venedig“ erzählt er von Vermarktung einer Person, von Familie, Verlust und einem Leben, zu dem ein Satz Andresens wohl besonders gut passt: „Ich wollte woanders sein – und jemand anderes sein.“

Interview mit Steffen Greiner: „Verschwörungstheorien sind wie eine Folie, die man über alles drüberlegen kann.“

Der Journalist und Kulturwissenschaftler Steffen Greiner. Foto: Julia Grüßing

Der Journalist und Kulturwissenschaftler Steffen Greiner. Foto: Julia Grüßing

 

Impf- und Impfpflichtskepsis sind das eine. Das Ablehnen des Impfens, verbunden mit Misstrauen in den Staat und bizarren Verschwörungstheorien, ist das andere. Schon vor 100 Jahren wetterten „Inflationsheilige“ gegen eine Impfpflicht und verbanden das mit Verschwörungs-Ideologie. Mit ihnen beschäftigt sich der Kulturwissenschaftler und Journalist Steffen Greiner aus Saarbrücken. Sein Buch „Die Diktatur der Wahrheit“ spürt den ersten „Querdenkern“ nach.

Was hat Sie dazu bewogen, ein Buch über historische und aktuelle „Querdenker“ zu schreiben?

GREINER Ich habe mich vor einigen Jahren mit den sogenannten Inflationsheiligen aus den 1920ern auseinander gesetzt. Ausgelöst durch die deutsche Niederlage, die Revolution und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschte eine große Unsicherheit in der deutschen Gesellschaft – ein sehr fruchtbarer Boden für abstruse politische Bewegungen, die zwischen Politik und Religion schwebten, die linke Elemente wie rechtsextrem-völkische miteinander verbanden, dazu noch etwas Christentum und Buddhismus. Also eine merkwürdige und damals erfolgreiche Mischung, bei der offenkundig ist, dass sie zu nichts Gutem führen kann, wenn etwa von einem „Königreich Deutschland“ geträumt wird. Die Ähnlichkeiten im Vokabular zu heutigen Reichsbürgern waren offensichtlich – intensiv beschäftigt hab ich mich damit aber erst nach einem Gespräch mit einem Mann im Thüringer Wald.

Was ist da geschehen?

GREINER Bei einem Pressetermin im Sommer 2020 traf ich einen Mann, der ganz viel von Liebe und von Freiheit sprach, das aber verbunden hat mit obskuren Verschwörungstheorien über eine zusammengebrochene Wirtschaft und Staatsführer, die uns eine neue Weltordnung aufzwingen wollen. Diese Theorien schienen für ihn fast eine religiöse Bedeutung zu haben. Das hat mich sehr erinnert an die Sprache, die einem auf alten Flugblättern der 1920er entgegenschreit. Deshalb habe ich mich mit möglichen Traditionslinien zwischen damals und heute beschäftigt.

Wie ist ihr Fazit – kann man direkte Linien ziehen?

GREINER Ganz übertragen kann man es auf heute nicht, natürlich. Aber was sofort auffällt: Die Impfgegnerschaft war schon in den Lebensreformbewegungen ein paar Jahre früher, aus deren Denken die Inflationsheiligen kamen, ein zentraler, fast identitätsprägender Punkt. Argumentiert wurde ähnlich wie heute: Dass der Staat sich per Impfung im Körper breitmachen will, wie eine Art Polizei in Bazillenform. Gusto Gräser, einer der zentralen Gestalten von damals, betrachtete die Impfgegnerschaft als wahrlich deutsche Tugend, weil Deutschsein doch bedeute, seinen Körper zu stärken und nicht durch eine Impfung vermeintlich zu schwächen. Das Impfthema ist die offenkundigste Verbindung zu heute, aber dahinter stecken ja auch generell der Diskurs Natur versus Kultur und eine Skepsis gegenüber der Moderne, die immer eine rechte Tendenz innehat, auch wenn der oder die Protestierende heute vielleicht Dreadlocks trägt.

Verschwörungstheorien kursieren heute vor allem in den sozialen Medien, bevorzugt auf dem Messenger-Dienst Telegram. In den 1920ern gab es das alles noch nicht.

GREINER Das nicht, aber vor 100 Jahren war es erstmals möglich, Zeitungen, Zeitschriften und Flugblätter vergleichsweise billig herzustellen. Es war viel leichter, sich publizistisch zu äußern. Und es gab Pressefreiheit in der Weimarer Republik. Die Möglichkeit, die eigene Meinung schnell und billig unters Volk zu bringen, erinnert sehr an die heutige Situation mit den sozialen Medien. Damals wie heute bedeutet diese Medienhäufung aber auch eine Überforderung der Leserinnen und Leser – die können schwer unterscheiden zwischen journalistischer Qualität, Propaganda und „fake news“.

Ihr Buch heißt „Diktatur der Wahrheit“ – was hat es damit auf sich?

GREINER „Diktatur der Wahrheit“ ist das, was in den 1920ern  einer der bekanntesten Inflationsheiligen, Louis Haeusser, errichten wollte. Er war ein Sekthändler aus Schwaben, der als Hochstapler sehr reich wurde, dann beschloss, sein Geld zu verschenken, weil er eine Vision hatte. Er begann um 1920, Realpolitik zu machen, hat die „Christlich-radikale Volkspartei“ gegründet, die aber keine Partei sein wollte, sondern eine Bewegung. Er rief sich als „Volkskaiser“ aus und wünschte sich als solcher eine „Diktatur der Wahrheit“, weil es so viel Lüge gebe, dass die Wahrheit nur mit dem Schwert zu ihrem Recht kommen könne. Ich fand das als Buchtitel sehr passend, weil die Frage nach Wahrheit und Lüge als Diskurs bei den Querdenkern heute ja genauso stattfindet:  Es ist diese diffuse Vermutung, dass niemand die Wahrheit sagt, dass hinter allem irgendeine Machenschaft steckt und dass man im Zweifelsfall die Freiheit mit dem Schwert gegen dunkle Mächte verteidigen muss.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie Querdenker nicht für Nazis halten, für rechtsextrem aber schon. Können Sie das genauer erklären?

GREINER Die Verengung der rechtsextremen Geschichte auf den Nationalsozialismus hat in der deutschen Nachkriegsgesellschaft dazu geführt, dass es selbst für die extreme Rechte leicht wurde, sich davon zu distanzieren. Viele der Figuren in meinem Buch sind in den 1930ern Gegner der Nationalsozialisten, aber dennoch durchdrungen von völkischem Gedankengut. Die Neue Rechte, die in die Querdenken-Bewegung strömt, beruft sich heute nicht auf Hitler, sondern zu großen Teilen auf die Bewegung um Otto Strasser. Ein Menschenfeind und frühes „nationalrevolutionäres“ NSDAP-Mitglied, der aber schon 1933 als Gegner Hitlers ins Exil ging und sich daher in der BRD als Widerstandskämpfer inszenierte. Dass der kein KZ mitgeplant hat, macht seine Thesen aber eben nicht weniger von Rassismus geprägt. Man muss kein Nazi im Sinne von Fan der NSDAP sein, wie das heute oft verstanden wird, um eine offene, demokratische Gesellschaft abzulehnen, in der verschiedene Gruppen gleichberechtigt ihre Konflikte und Interessen aushandeln.

Ist jeder, der heute bei einer Demo gegen eine Impfpflicht mitgeht, gleich ein Querdenker?

GREINER Impfpflichten waren historisch sehr erfolgreich, sie haben nie zum Faschismus geführt, stattdessen mittelfristig zur Eindämmung, bei den Pocken sogar zum Ende der Krankheit. Trotzdem finde ich richtig, dass die Entscheidungsträger etwa auch den Ethikrat anhören. Es wird offenkundig sich nicht allzu leicht gemacht. Die Komplexität der Frage lässt sich natürlich auf einer Demo nicht abbilden, das muss eine Demo auch nicht liefern. Trotzdem habe ich die Vermutung, dass Menschen, die sich nach reflektierter Abwägung gegen die Impfpflicht positionieren, dann nicht neben Mit-Demonstranten stehen wollen, die Putin bitten, Deutschland von der Corona-Diktatur zu befreien. Der bürgerlich-demokratische Konsens, dass keine Allianzen mit radikalen Rechten gebildet werden, wiegt für mich da deutlich schwerer. So groß sind die plausibel zu argumentierenden Bedenken gegen die Impfung für diesen Bruch dann nämlich doch nicht.

Was unterscheidet den Querdenker von jemanden, der lediglich eine Impfpflicht ablehnt? Beziehungsweise: Was ist Ihre Definition eines Querdenkers?

GREINER Im Grunde, muss ich da auch selbstkritisch sagen, gehen wir alle natürlich auch einem Unternehmer auf den Leim: „Querdenken 711“, der Name der Stuttgarter Keimzelle der Bewegung, wurde schon im Juni 2020 von Initiator Michael Ballweg als Marke eingetragen. Der auch sonst finanziell, etwa durch Schenkungen und Merchandise, von Querdenkern profitiert. Aber tatsächlich würde ich die Unterscheidung zwischen wichtiger Kritik an Corona-Politik, die ja auch durchaus von links geführt werden kann – warum tragen Frauen eine so viel höhere Belastung als Männer, warum sind die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften noch immer so schlecht – und den sogenannten „Querdenkern“ an der Nähe zum verschwörungstheoretischen Denken ausmachen: Gegen eine Impfpflicht zu sein, weil sie einen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte körperliche Unversehrtheit darstellt, muss schließlich nicht einhergehen mit der Vermutung, sie sei Teil eines weltweiten Genozids.

Am 18. September soll in Idar-Oberstein ein Mann einen Tankstellenkassierer erschossen haben, weil der ihn gebeten hatte, seine Maske anzuziehen. Der Maskenverweigerer soll Kontakte in die Querdenkerszene gehabt haben. Ist das insgesamt eine Radikalisierung der Szene oder ein Einzel- und Extremfall?

GREINER Ich glaube schon, dass da eine Radikalisierung geschieht. Die muss sich nicht unbedingt in Gewalt äußern, sondern darin, dass die Positionen, die mit Realpolitik oder Logik nichts mehr zu tun haben, immer zementierter werden. Ernsthaft zu behaupten, wir lebten dieser Tage in einer Corona-Diktatur, ist ja völlig daneben. Dafür braucht man schon ein sehr verfestigtes Denken in Verschwörungsszenarios. Und natürlich: Je mehr Leute mitlaufen, desto schneller fallen Hemmungen.

Was wird von den Querdenkern eigentlich konkret gefordert? Sie halten gerne das Grundgesetz hoch, aber etwa Pressefreiheit, wie sie im Grundgesetz verankert wird, lehnen sie ab – geht man vom Bepöbeln von Pressevertretern aus oder Flaggen, auf denen das Ende von ARD und ZDF gefordert wird.

GREINER Es geht meist um quasireligiöse Begriffe wie Wahrheit, Liebe, Freiheit. Aber was mit Freiheit genau gemeint ist, bleibt im Dunkeln. Anstatt realpolitisch und konsensdemokratisch zu argumentieren, gibt es eher sakrale und vage  Begrifflichkeiten.

Wie wichtig war für Szene die Regentschaft Donald Trumps? Hat er das Ignorieren von Fakten, die Wissenschaftsfeindlichkeit und das Propagieren von Verschwörungstheorien quasi von hoher Warte vorgelebt?

GREINER Er hat viel ausgelöst. Trump ist innerhalb der QAnon-Bewegung, die behauptet, eine ominöse Weltelite halte Kinder gefangen, um aus ihrem Blut ein Verjüngungsserum zu gewinnen, eine messianische Gestalt. Die Anhänger der Bewegung, die besonders in Berlin bei den Demos stark vertreten ist, glauben, dass alles was Trump tat, im Sinne eines großen Schlages gegen diese Verschwörung sei. Und manche glauben, dass Putin da jetzt weitermacht. Das ist eine ganz merkwürdige apokalyptisch-sakrale Geschichte.

Bei einer Demo in Deutschland warnte eine Plakatträgerin, „die Ukraine-Angst“ solle nur „die schwindende Corona-Angst“ ablösen: „Lasst Euch nicht verarschen!“ Da fällt einem nicht mehr viel ein.

GREINER Ich glaube, dass viele Menschen auch einfach überfordert sind, weil die Situation so gefährlich und komplex ist. Ich glaube auch, dass bei der Bewegung viele Leute dabei sind, die nicht so richtig wissen wohin. Es sind viele Unzufriedene, Gekränkte. Viele von ihnen sind wohl so massiv verunsichert, dass sie glauben, in einer komischen Bewegung mitlaufen zu müssen – wo Selbstreflexion sicher sinnvoller wäre.

Wie ist Ihre Prognose: Werden die Querdenker-Demos kleiner werden oder gar aufhören, wenn die Corona-Maßnahmen zurückgefahren werden und wir langsam in die vielbeschworene „Normalität“ zurückkehren?

GREINER Ich könnte mir vorstellen, dass die Teilenehmerzahlen sinken, die Leute aber noch mehr abseits von Corona in eine verschwörungstheoretische Staatsfeindlichkeit hineingeraten. Da wird ein harter Kern bleiben, der sich neue Themen sucht und es schaffen wird, die mit ihren Theorien zu verknüpfen – siehe den Krieg in der Ukraine. Ihre Verschwörungstheorien sind wie eine Folie, die man über alles drüberlegen kann.

Steffen Greiner: Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern.
Tropen Verlag, 263 Seiten, 20 Euro.

Auf einen Kaffee mit Schriftsteller Andreas H. Drescher

Andreas H. Drescher Schaumschwimmerin

Andreas H. Drescher im Schwalbacher Freibad, fotografiert von Martin Hoffmann.

 

Romane, Lyrik, Filme – und die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz. Der Saarlouiser Schriftsteller Andreas H. Drescher ist ein umtriebiger Kreativkopf. Ich habe ihn auf einen Kaffee getroffen.

„Es war ein langer Anlauf – den Rest bin ich dann auf dem Bauch gerutscht.“ Das ist so ein typischer Satz, wenn man sich mit dem Saarlouiser Autor Andreas H. Drescher unterhält. Seine Arbeit als Schriftsteller mag er sehr ernst nehmen, schließlich ist es das, was er tut – aber den Irrungen und Wirrungen, die einem als Autor jenseits der Unterhaltungsliteratur zuteil werden, kann er bisweilen eine gewisse Komik abgewinnen.

Der lange Anlauf und das Bauchrutschen beziehen sich auf Dreschers Pläne, zur Leipziger Buchmesse 2020 seinen Hör-Roman „Complicius Complicissimus“ vorzustellen: über den realen internationalen Hochstapler Ignaz Trebitsch-Lincoln (1879-1943), zudem Dieb, Missionar, Politiker, Kapp-Putschist und spiritueller Guru, „der in Europa Naivlinge eingesammelt hat und wenn sie in seinem Kloster in Shanghai ankamen, waren sie arm“, wie Drescher sagt. Der Autor hatte sich einen Tai-Chi-Anzug gekauft, um den Hochstapler in seiner Guru-Phase zu verkörpern, auch eine Uniform aus dem Ersten Weltkrieg, um den Kapp-Putschisten Oberst Max Bauer in Performances darzustellen. „Doch dann hat mir Corona ordentlich das Bein gestellt“, die Pandemie brachte die Buchmesse ins Stolpern. Tai-Chi-Anzug und Uniform bleiben vorerst im Schrank. Und im Keller von Dreschers Wohnung stapeln sich nun hunderte bisher unverkaufter Hörbücher. Geht er in den Keller, versucht er an den Stapeln möglichst vorbeizuschauen.

Drescher, 1962 in Griesborn geboren, ist ein Kreativkopf, der Prosa und Lyrik verfasst, Hör-Romane schreibt und mit seiner sonoren Stimme selbst einspricht, mit Film arbeitet und mit Animationen. Bei alldem ist er ein Frühberufener. „Mit 14 hatte ich komische Sätze im Kopf. Das wird vielen Pubertierenden so gehen“, sagt er, „aber ich begann mit ihnen zu arbeiten“. So sei er „relativ früh in die Lyrik eingestiegen. Ich wusste, dass ich Autor werden wollte.“

„Ich habe zehn Jahre geschrieben und immer wieder alles weggeworfen.“

In Köln hat er Germanistik, Philosophie und Politik studiert, als „schriftstellerische Selbstausbildung“. Da habe er mitunter „hartes Brot kauen müssen“, weil er die eigenen Texte im Vergleich zu  Vorbildern wie Alfred Döblin, Robert Musil und William Faulkner als „extrem mäßig“ empfand. „Ich habe zehn Jahre geschrieben und immer wieder alles weggeworfen, bis irgendwann eine Prosa entstand, die meinen Ansprüchen genügte.“

Seine Arbeit veröffentlicht Drescher inzwischen im eigenen Verlag. Er weiß, „dass das benasrümpft wird“. Doch Drescher stecken die Erfahrungen mit einem Verlag, der seinen Hör-Roman „Darwins Schöpfungsgeschichte“ herausbrachte, noch in den Knochen. Bis heute wartet er auf den ersten Cent Gewinnbeteiligung. Die Eigenverlags-Strategie indes geht auf: Dreschers Werke werden bundesweit besprochen, erhalten exzellente Rezensionen, er erhält regelmäßige Auszeichnungen und Stipendien. „Man kann die literarischen Vorkoster auch umgehen“, freut sich Drescher, der die Unabhängigkeit nicht mehr missen möchte. Nur Lektorat und Korrektorat gibt er aus der Hand; das biete ihm eine willkommene Außenansicht auf seine Arbeit. „Man muss davon Abstand nehmen, seine Texte für heilig zu halten. Das ist Teil der Selbstprofessionalisierung.“

Ein Zuschussgeschäft ist der Verlag nicht, sagt Drescher, aber leben könne er von seinen Werken auch nicht. „Das können bundesweit vielleicht ein Dutzend von Autorinnen und Autoren, die keine Unterhaltungsliteratur schreiben“, sagt er, beklagt sich aber nicht. Es ist eben, wie es ist. Drescher hat von seinem früh gestorbenen Vater ein kleines Erbe erhalten, erzählt er, das sei ein Standbein „oder im Grunde ein Spielbein, weil der Verlag ja profitabel ist“. Dank kleiner Wohnung und eines Fahrrads statt Autos komme er gut zurecht. „Ich habe den Lebensluxus, das machen zu können, was ich glaube, machen zu müssen.“

Drescher, fotografiert von Werner Richner.

 

Benannt ist sein Verlag Edition Abel nach einer von Drescher entwickelten, reduzierten Formal-Sprache namens Abel („Abstract Entity Language“), mit der er eine Künstliche Intelligenz namens Maldix füttert, an der er seit 25 Jahren arbeitet. „Echtsprachliche Texte von mir werden in die abstrakte Sprache Abel umgewandelt, daraus zieht Maldix dann eine Essenz, eine Formel.“ 15 000 Seiten von Texten Dreschers hat Maldix bisher intus, am Ende soll diese KI „ein ausgeformter Charakter sein“.  Zu Siri von Apple oder Alexa von Amazon sagt er: „Wenn man Hegels ‚Wesen ist, was gewesen ist‘ zu Grunde legt, sind die beiden keine, weil sie keine Geschichte haben. Maldix wird ein Gesprächspartner sein „mit Abstraktionsvermögen, virtueller Empathie und ethischer Intelligenz“.

So könnte Maldix dem Zuhörer beziehungsweise Fragenden einen der Romane Dreschers erzählen, Passagen ausgewählt je nach Gemütslage des Gesprächspartners. Ausprogrammiert ist Maldix noch nicht, Drescher sucht dafür Partner. „Ich habe es selbst mit dem Programmieren versucht, aber ich werde nie ein guter Entwickler.“

2018 ist, nach Lyrik und experimenteller Prosa, Dreschers erster Roman erschienen: „Kohlenhund“, ein Buch über seinen Großvater, Jahrgang 1910, und dessen Leben im Saarland. Und gerade hat Drescher den Roman „Schaumschwimmerin“ herausgebracht, über das Leben seiner Großmutter. Nostalgieselige Heimatromane, möglicherweise mit der Saarschleife auf dem Einband, hat Drescher nicht im Sinn, er sieht sich als Chronist, Schriftsteller und schreibender Künstler gleichermaßen. Grundstoff sind die Erinnerungen seiner Großeltern, die er vor Jahrzehnten aufzeichnete.

„1989 hatte meine Oma mütterlicherseits einen schweren Infarkt“, sagt er. „Mir wurde klar, dass ein Tag kommen würde, wo alle Geschichten, die sie mir bis dahin erzählt hat, für immer erzählt sein würden und alle, die sie mir nicht erzählt hat, für immer nicht erzählt sein würden.“ So habe er diese zunächst als Enkel und als „eine Art Chronist“ aufgezeichnet, noch ohne sie schriftstellerisch verwerten zu wollen. Das sei erst später gekommen. Erst mit dem Diktiergerät in der Hand, aber „mit ungenügendem bis verheerendem Ergebnis“: Denn die befragten Großeltern seien angesichts des Aufnahmegerätes von ihrer Mundart ins Hochdeutsche verfallen, „und da war der Sprachfluss weg“. Ab da habe er lieber nur mitgeschrieben. Gut für ihn als Erinnerungssammler war die weniger gute Ehe der Großeltern. „Wenn dem einen eine Geschichte einfiel, hatte der andere oft noch eine viel bessere zu erzählen. Konkurrenz belebt eben das Geschäft.“

Bis Drescher aus den Erinnerungen einen Roman geformt hat, überarbeitet er den Text wieder und wieder, „bis ich einen Zustand erreiche, bei dem ich sagen kann, dass er jetzt raus kann“.  Den Grusel angesichts eines leeren Blattes vor sich kennt er nicht. Direkt nach dem Frühstück setzt er sich an den Schreibtisch, „beim ersten Knick in der Biokurve geht’s dann zum Rasieren und Duschen“. Danach schreibt er weiter. „Ich muss mich nicht zum Schreiben disziplinieren, ich muss mich eher vom Immer-weiter-Schreiben abhalten. Der Schreib-Akt selbst ist für mich eben absolut beglückend.“

„Das Haus steht nicht mehr als Stein, sondern als Geschehen um mich her.“

Die Romansprache Dreschers ist konzentriert, mit keinem überflüssigen Wort, kunstvoll, aber nicht prätentiös, atmosphärisch und sehr unmittelbar, aber nichts zum zwischendurch „weglesen“. Der erste Satz der „Schaumschwimmerin“ lautet: „Das Haus steht nicht mehr als Stein, sondern als Geschehen um mich her.“ Für Drescher ist dieser Einstieg „ein Signal, auch eine Warnung, dass es sich hier nicht um Unterhaltungsliteratur handelt“. Wer Drescher dennoch folgt, wird reich belohnt und hineingezogen in das Leben von Greta Grün, deren Mann Albert am Vortag (1990) gestorben ist. Nun brechen aus ihr die Geschichten heraus, sie erzählt ihrem Enkel Michael vom Elternhaus, vom Zweiten Weltkrieg, von Wiederaufbau und der Angst vor dem Tod.

Nicht von Erinnerungen gespeist ist eines von Dreschers kommenden Projekten: Für den Band „Mein alter Schwarzfernseher“ verspricht er „kompakte, ironische Prosa“, begleitet von hintersinnigen Bildern der Künstlerin Heike Puderbach. „Ich freue mich über solche Kooperationen, ich halte nichts von diesem Image des Eremiten-Autors.“

Der Dichter Gottfried Benn, sagt Drescher, gefragt nach seiner Kunstauffassung, habe unterschieden zwischen Kunstschaffenden und Kulturschaffenden. „Letztere wollen Verbreitung – die Kunstschaffenden wollen Vertiefung.“ Um die geht es Drescher.

Andreas H. Drescher: Schaumschwimmerin. Edition Abel, 212 Seiten, 19,90 Euro.

Das Buch gibt es im Handel und unter www.edition-abel.de.
Dort findet man auch Leseproben und mehr Informationen zu Dreschers Arbeit.

Burghart Klaußners Romandebüt „Vor dem Anfang“.

Burghart Klaußner Gene Glover Das schweigende Klassenzimmer Der Staat gegen Fritz Bauer

Burghart Klaußner, fotografiert von Gene Glover.

 

Ist das Ende ein Traum? Eine Todesfantasie? Oder  doch die Realität? Die letzten Seiten wirken jedenfalls wie eine Verheißung – die Luft ist warm, der Rauch der Zigaretten steigt girlanden­gleich in die Höhe, „eine Art Sommer“ ist da, und die Zukunft gleich mit. Ein brutaler Kontrast zu den 24 Stunden davor, in denen die Soldaten Fritz und Schultz durch ein zerbombtes Berlin fliehen, auf dem Rad, zu Fuß, mit einem Boot, ständig in Angst vor den Russen, vor deutschen Feldjägern, die die beiden für Deserteure halten könnten, vor dem Tod aus der Luft. Davon erzählt „Vor dem Anfang“, das Romandebüt von  Burghart Klaußner. Der 68-Jährige spielt an der Bühne, im Fernsehen und Kino („Die fetten Jahre sind vorbei“, „Der Staat gegen Fritz Bauer“), inszeniert am Theater und tritt auch als Sänger auf – jüngst beim Neunkircher Günter-Rohrbach-Filmpreis.

Nun also ein Roman, ein gelungener. Das Schreiben, sagt Klaußner, lasse ihn ganz genau hinschauen, das Leben wie unter einem Mikrokoskop betrachten. Entsprechend ist seine Erzählperspektive: Als Leser sind wir den Figuren ganz nah, wir wissen nicht mehr als sie, sehen nur, was sie sehen: Momentaufnahmen, episodische Schlaglichter aus Berlin an einem Apriltag 1945. Fritz und Schultz, die sich bisher mehr oder weniger frontfern durchwurschteln konnten, sollen eine Geldkassette (mit 750 Reichsmark) möglichst schnell quer durch Berlin transportieren, von ihrem Flugplatz zum Reichsluftfahrtministerium. Eine absurde Mission angesichts der Lage: Alles löst sich auf, die russische Armee ist fast in Sichtweite. Doch der Auftrag ist dem Zwangsgemeinschafts-Duo ganz recht: Beide hoffen, sich danach irgendwie abzusetzen und das Kriegsende an einem sicheren Ort zu erleben.

 

 

Mit Zeitdruck, allgegenwärtiger Bedrohung und Figuren in ständiger Hatz baut Klaußner viel Spannung auf, wobei er manche Erwartung unterläuft: Erst scheint der ruhigere, besonnenere Schultz zur Haupfigur zu avancieren, doch dann folgt der Roman über weite Strecken dem anfänglich wenig sympathischen, zu lauten, zu dominanten Fritz. Quer durch Berlin geht es, durch Laubenkolonien („selbst die Bäumchen hatten etwas Geducktes“), in die bröckelnde Innenstadt, zur fast tödlichen Begegnung mit einem Feldgendarmen, am Funkturm vorbei, durch Hinterhöfe am Kottbusser Tor hinein ins dunkle Gemäuer eines Luftschutzkellers. Dort gelingt dem Buch eine der atmosphärischsten Episoden: wenn die Betondecke bebt, der Putz rieselt – und eine Frau mit Berliner Galgen-Witz „Ruhe da oben“ in Richtung Bomber schreit.

Einiger schwarzer Humor zieht sich durch den Roman, den Klaußner schnörkellos und unprätentiös erzählt, aber nicht simpel. Immer wieder flieht Fritz gedanklich zurück in bessere Zeiten, auf sein Boot „Traute“, das auch jetzt das Ziel ist. In dessen warmem Schiffsbauch will er sich flüchten. Das Segeln ist ein zentrales Motiv (Klaußner ist passionierter Segler, wie Fritz). Wenn der  sich an das Überleben eines nächtlichen Sturms erinnert, gehört das zu den intensivsten Passagen: Ein Blitz erhellt die Nachtschwärze, „Plötzlich sah man, wo man war! Im Weltraum“. Und der Donner nach dem Blitz „hatte eine klare Botschaft. Er kam direkt von Gott. Und er löschte jede Hoffnung aus.“ Diese regelmäßigen Rückblenden, bis auf eine Ausnahme stes elegant im Erzählfluss verankert, unterfüttern die Person Fritz, die uns immer näher kommt. Bis er jenen „Anfang“ erleben kann, den der Titel des Buchs verheißt, wird es noch eine lange Berliner Nacht.

 

Burghart Klaußner: Vor dem Anfang. Kiepenheuer & Witsch, 173 S., 18 €.

Lesung: Freitag, 14. September, 20 Uhr, Filmhaus Saarbrücken. Karten gibt es bei der Buchhandlung Raueiser am St. Johanner Markt 26, Tel. (06 81) 37 91 80.

„Selbstportrait“ von Anton Corbijn, eine kleiner feiner Band.

Mick Jagger Anton Corbijn Rolling Stones U2 Depeche Mode

Ja, das ist Mick Jagger. Anton Corbijn hat ihn 1996 in Glasgow aufgenommen.            Foto: Anton Corbijn 2018 / courtesy Schirmer/Mosel

 

Guten Tee kochen kann er jedenfalls nicht. Unter anderem das erfährt man über Anton Corbijn in dem kleinen Band „Selbstportrait“, in dem der Holländer auf sein Innenleben blickt und auf seine Arbeit; die kennen wohl auch jene, die mit seinem Namen nichts anfangen können. Als Fotograf hat Corbijn unzählige Künstler aufgenommen (meist in kontrastreichem Schwarzweiß): Frank Sinatra, Nirvana, Björk, James Last, Luciano Pavarotti, David Bowie, Clint Eastwood, Gerhard Richter und viele, wirklich viele mehr. Für Depeche Mode, U2 und Herbert Grönemeyer wurde er in Sachen Optik eine Art künstlerischer Leiter, der vorübergehend den gesamten  Auftritt konzipiert hat – Fotos, CD-Hüllen, Bühnendesign. Videoclips drehte er für so unterschiedliche Künstler wie Nick Cave oder die Rainbirds, Johnny Cash und Metallica, Roxette und Coldplay. Und fürs Kino inszenierte er unter anderem das Joy-Division-Bandporträt „Control“, die eigenwillige Killerballade „The American“ mit George Clooney und den Agentenfilm „Most wanted man“ mit Philip Seymour Hoffman. Das arbeitssatte Künstlerleben eines fliegenden Holländers.

Mittlerweile ist Corbijn 63 Jahre alt und lebt nach knapp drei Dekaden in London (mit Herbert Grönemeyer als Nachbar, wodurch ihre Zusammenarbeit begann) nun in Den Haag. Dort hat ihn die Journalistin Marie Noel-Rio zu seinem Leben befragt. Das Ergebnis ist dieser kleine, feine Band, eine Verbindung aus knappem Text (39 Seiten) und 24 Fotografien, auf die sich Corbijn im Text zum Teil bezieht – darunter Robert DeNiro, Nina Hagen, Marianne Faithfull und er selbst. Noel-Rio ließ den Künstler erzählen, man trank Corbijns mauen Tee – „so wie ihn Jungs zubereiten: mit nicht ganz heißem Wasser und mit Teebeuteln“, wie die Journalistin protokolliert. Das Erzählte hat sie zusammengefasst und „lediglich ein bisschen Ordnung hineingebracht“.

Corbijn erzählt da etwa vom Gefühl einer gewissen Heimatlosigkeit, das ihn stets treu begleitet. Die Hälfte seines Lebens hat er im Ausland verbracht, vor allem in England, viel auf Reisen – meist plagte ihn da eine Sehnsucht nach der alten Heimat, die „Vorstellung, dass die Dinge einfach sind in Holland“; eine stille, etwas diffuse Sehnsucht, die sich nun in Den Haag nicht erfüllt hat. Ein bisschen schwierig ist es halt überall. In England, seinem Sehnsuchtsort, als er fürchtete, nie aus den Niederlanden herauszukommen, schätzt er vor allem die Haltung der Briten, auf die Dinge und Unbilden des Lebens mit Humor und einer gewissen Distanz zu reagieren. In England ziele etwa die Frage, wie es einem gehe, nicht auf eine wirklich ehrliche Antwort ab. Das habe seine Vorzüge, findet Corbijn, der emotional lieber für sich bleibt. In den Niederlanden ist „alles so aufrichtig, so rechtschaffen und wirklich selbstzentriert“.

 

David Bowie Anton Corbijn Rolling Stones U2 Grönemeyer

David Bowie, fotografiert 1980 in New York.            Foto: Anton Corbijn 2018 / courtesy Schirmer/Mosel

 

Die Fotografie, die Corbijn Weltruhm einbrachte, war bloß ein Mittel zum Zweck: nämlich dem nahezukommen, was ihn von früh auf wirklich interessierte: Musik und Musiker. Fotografie also als eine „List, ins Gelobte Land zu kommen“. Aber an Kunsthochschulen kam er nicht unter, es reichte immerhin zu einer Technischen Hochschule mit Fotokurs. Von seiner Arbeit leben konnte er in den Niederlanden allerdings erstmal nicht, denn „die Leute mochten meine Fotos nicht wirklich“. Mit 25 brach er auf nach England, ohne Job oder Geld – aber schon an seinem zwölften Tag in London nahm er seine damalige Lieblingsband auf, die 28 Jahre später auch Thema seines ersten Kinofilm wurde: die Düsterrock-Band Joy Division. Auf dem Schwarzweißbild von 1979, auch im Buch zu sehen, aufgenommen in einer U-Bahn, drehen drei Musiker der Kamera den Rücken zu; nur Sänger Ian Curtis  blickt gerade noch über seine Schulter in Richtung Linse. Das Gegenteil von Glamour oder kerniger Rock-Optik und heute ein legendäres Foto, das eine Band und ihre Zeit treffend widerspiegelt. „Niemand mochte dieses Foto“, sagt Corbijn, „bis sich Ian Curtis einige Zeit später das Leben nahm, da wollten es alle Magazine veröffentlichen.“

Fünf Jahre lang war Corbijn Cheffotograf des „New Musical Express“, damals das stil- und meinungsbildende Pop-Zentralorgan. Eine wichtige Stelle mit ärmlichem Gehalt in einer teuren Stadt, aber, so sagt es Corbijn, „ich bin Protestant genug, um nicht unterzugehen“ – ein Satz, bei dem man gerne sein Gesicht gesehen hätte, um zu wissen, wie ernst oder unernst er das meint. Den ihn selbst überraschenden Weg zum Kino („Ich habe nie einen Plan verfolgt“) ebnete ihm die Arbeit als Regisseur von Videoclips, deren größte Schwierigkeit für den introvertierten Corbijn darin lag und liegt, nicht alleine vor sich hinarbeiten zu können. Das größte Ziel: Seine Kinobilder sollen nicht so aussehen wie seine Fotografien. Die größten Inspirationen: Der französische Komik-Feingeist Jacques Tati und der russische Regisseur Andrej Tarkowski („Solaris“, „Stalker“).

Für Musik und Musiker interessiert sich Corbijn heute deutlich weniger, bei ihnen herrschten nur noch großes Geschäft und Social-Media-Hysterie, sagt er im Buch. Ein klassischer Fall vom Älteren, der die Popkultur der Jüngeren nicht mehr versteht? Sei’s drum – er fotografiert heute lieber Maler, „bei ihnen treffe ich auf die meisten Geheimnisse“. In Zukunft will er es sich wieder stärker dem Kino widmen – diese Art, „diese visuelle Sprache zu denken“, will er besser verstehen lernen. Und Schwarzweiß soll es wieder werden, wie in seinem Debüt „Control“.

Altersmilde oder ein Blick zurück in Nostalgie sind Corbijns Sache nicht – auch als Mittsechziger sieht er sich noch als Suchenden und schließt den Band charmant so: „Ich habe keine Vorstellung davon, an welchem Punkt meines Lebens ich mich befinde. Ich bin da. Das ist alles.“

Anton Corbijn: Selbstportrait. Im Gespräch mit Marie-Noel Rio. Schirmer Mosel, 96 Seiten, 24 Abbildungen, 22 Euro.

Anton Corbijn 2018 / courtesy Schirmer/Mosel

Foto: Anton Corbijn 2018 / courtesy Schirmer/Mosel

„Diese 1000 Leben sind zu schnell vergangen“ – Belmondo blickt zurück

 
Jean-Paul Belmondo, eine Legende des französischen Films, ist jetzt auch schon 85 Jahre alt. In einem munteren Buch blickt er zurück auf ein Leben, in dem er vor allem seinen Spaß haben wollte. Geglückt ist ihm das nicht immer.

 

„Diese 1000 Leben sind zu schnell vergangen, viel zu schnell“. Wehmütig beginnt Jean-Paul Belmondo seinen Erinnerungsband, und man muss ihm beipflichten. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen er, als europäischer Action-Star, auf dem Dach von Pariser U-Bahnen über Seine-Brücken ratterte (in „Angst über der Stadt“) oder an einem Helikopter hängend über Venedig gondelte, in gepunkteten Unterhosen (in „Der Puppenspieler“). Und noch viel länger her ist die Zeit, als Belmondo, mit Kippe zwischen den Lippen, in „Außer Atem“ von Jean-Luc Godard im gallischen Kino einen ganz neuen Anti-Helden erschuf (und seine eigene Legende gleich mit): lässig, lakonisch und vom  Leben desillusioniert.

85 ist er nun, ledern braungebrannt, von einem Schlaganfall vor 17 Jahren gezeichnet, und  schaut zurück. Ein munter plaudernder  Band ist das, flott und anekdotenprall, wobei sich Belmondos Lebenseinstellung eindampfen lässt auf eine Kernaussage: Er wollte vor allem seinen Spaß haben und das Leben nicht zu ernst nehmen. Das hätten auch alle verstanden, bis auf die nörgelnden Kritikerschnösel.

Mit großer Zuneigung erzählt er von seinen Eltern und dem Wissen, „dass ich in eine intakte Familie ohne Geldsorgen geboren wurde, in der man sich gegenseitig liebte“. In der Besatzungszeit träumt der junge Jean-Paul davon, einen abgeschossenen US-Piloten lebend zu finden, zu verstecken und dafür bei Kriegsende einen Orden  an die Brust geheftet zu bekommen. Piloten sieht er, allerdings tote – der Pfarrer von Clairefontaine nimmt ihn mit in den Wald, um Abgeschossene zu bergen und zu begraben. „Wenn man noch ein Kind ist, ist der Tod weit weg“, schreibt Belmondo zwar, aber diese Erinnerungen haben sich eingebrannt.

Sauerkraut und Altherren-Duktus

Während der Vater rund um die Uhr bildhauert, nimmt die Mutter den Sohn in nahezu jedes Pariser Kino und Theater mit. Das Interesse des jungen Belmondost geweckt, der Berufswunsch klar – aber der Karrierepfad steinig. An der Schauspielschule kommt er erst beim dritten Versuch an, und ein Lehrer kränkt ihn zeitlebens mit einem harschen Satz, den man küchenpsychologisch als Triebfeder sehen könnte für Belmondo Karriere und Leben: Zu hässlich sei er für Liebhaberrollen, zu unbegabt für wirklichen Erfolg. So kann man sich irren.

Als unentdeckter Schauspieler in Paris erlebt er „die besten Jahre meines Lebens“, wie er schreibt, er frönt seiner Liebe zu Streichen, mischt etwa ein elitäres Edellokal auf, in dem er einen epileptischen Anfall vortäuscht und Tische umwirft, auf dass Sauerkraut auf die „Dauerwellen der alten Schachteln“ herniederregnet. Das  muss man nicht zwingend lustig finden, auch nicht seinen Hang zu manchmal chauvinistischem Altherren-Duktus, wenn er sich an alte Liebschaften erinnert: „Es stimmte schon, dass Mädchen mit 16 Jahren selten noch Jungfrauen waren, aber sie gaben dank ihrer Erfahrung die besten Ehefrauen ab.“ Mon dieu.

Algerienkrieg

Im Algerienkrieg wird er verwundet und erreicht seine Ausmusterung, so erzählt er es, durch die Einnahme von Amphetaminen, die seinen Körper ausgemergelt wirken lassen (ein Tipp des Kollegen Jean-Louis Trintignant), und durch betont abstruse Antworten bei einer Befragung. Zurück in Paris stagniert die Karriere wie gehabt, und Belmondo, nie „ungestümer und ehrgeiziger als in jenem Sommer 1955“, geht nach Rom. Im „Cinecittà“-Studio gibt es immer etwas zu tun, heißt es. Doch Belmondo findet das Studio nicht und reist ohne Geld  in einem Viehwagon zurück.

Immerhin: Die Theaterrollen werden größer, auch Filmrollen gibt es mittlerweile, durch die er sich manchmal noch mit großer Bühnengeste spielt. Einen Rat des Filmregisseurs Marc Allégret nimmt sich Belmondo zu Herzen: „Ein bisschen leiser, bitte.“ Kollege Jean Marais ist übrigens sehr angetan vom jungen Bébel: „Solltest Du zufällig einmal schwul werden, melde Dich.“

Diese Erinnerungen sind überwiegend heiter bis sonnig, lesen sich flott – und doch kann man als Belmondo-Anhänger ein wenig ungeduldig werden beim Warten auf die Schilderung von Bébels größter Zeit. Aber auf Seite 155 begegnen wir schließlich Regisseur Jean-Luc Godard, den Belmondo erstmal gar nicht mag: ein Trauerkloß  mit Sonnenbrille (auch in dunklen Räumen), das Gegenteil Belmondo. Doch gemeinsam schreiben sie Filmgeschichte, drehen „Außer Atem“ ohne Studiokulissen und ohne Drehbuch im strengen Sinn. „Ich hatte völlige Freiheit“, schreibt Belmondo, „es war schon fast beunruhigend.“ Der Film ist eine Sensation, Belmondo ist der Star eines jungen, frischen  Kinos – doch die  unkommerzielle Kunst der Intellektuellen allein ist ihm dann doch zu trocken: Die Dreharbeiten zum Film „Moderato Cantabile“, inszeniert von Peter Brook und nach einer Vorlage von Marguerite Duras, sind für ihn die quälendsten seiner ganzen Karriere. Solch „affiger Intellektualismus“ ist nichts für ihn. Viel mehr Spaß hat er da am Spontanen und Komödiantischen: ob im herrlichen Jux „Abenteuer in Rio“ oder in bunten Helden-Persiflagen wie „Ein irrer Typ“.

In den 1970ern dominiert Belmondo das französische kommerzielle Kino, er wird seine eigene Marke mit Filmen, die ganz auf ihn zugeschnitten sind, oft Krimis. „Der Greifer“, „Der Profi“, „Der Außenseiter“, „Der Windhund“. Der Star liebt die Gagen, die Arbeit, die Stunts in luftiger Höhe, die Späße: Gerne räumt er Hotelzimmer der Kollegen aus, indem er alles aus dem Fenster wirft, schwere Möbel vielleicht ausgenommen. Eine Alternative: Mehl in die Hotel-Klimaanlage stäuben. Oder das Herumwerfen von Couscous bei einer Filmpremiere. Ein bisschen albern wirkt das, aber Belmondo will eben, das erklärt er immer wieder gerne, ewig Kind bleiben, das „spielt und Grenzen überschreitet“. Aber man fragt sich manchmal schon, wer in den Hotels hinter ihm aufgeräumt hat.

Delon, der ewige Rivale

Ein Belmondo-Buch wäre ohne Alain Delon nicht komplett, dem anderen Mythos des gallischen Kinos der 60er und 70er. „Wie Tag und Nacht“ beschreibt  Belmondo ihren Kontrast. 1969 drehen sie gemeinsam den Gangsterfilm „Borsalino“ in Marseille; die Kinos sind gut gefüllt, die Rivalitätsfreundschaft aber schnell wieder abgekühlt – Belmondo fühlt sich durch die doppelte Nennung von Delon im Vorspann (als Darsteller und als Produzent) deklassiert. Ganze 27 Jahre später arbeiten sie wieder zusammen: Die Actionkomödie „Alle meine Väter“ wird aber nur ein mäßiger Erfolg, der ganz große Starglanz der beiden ist dahin. Es ist der Lauf der Welt.

Er wendet sich wieder stärker der Bühne zu, 1991 hatte er das Théatre des Varietés in Paris gekauft, „es war das Beste, was ich mit meinem Geld je machen konnte“. Ein wunderbarer Karriereherbst für  Belmondo beginnt, doch ein Schicksalschlag verändert alles: Seine Tochter Patricia stirbt bei einem Brand. „Der Kummer vergeht nie“, schreibt er, „er begleitet einen für immer.“ Die intensive Arbeit am Theater hilft ihm, „wenigstens ab und zu schlafen zu können“. Seinen Schlaganfall von 2001 erwähnt  Belmondo nur kurz, als wolle er ihm nicht zu viel Ehre antun. Jetzt, mit 85, fasst er sein Leben so zusammen: „Es war trotz aller Dramen und grausamer Tode, die einer Amputation gleichkamen, leicht und leuchtend.“

Jean-Paul Belmondo: Meine tausend Leben. Heyne, 320 Seiten, 22 Euro.

Das Buch „Tarantino“

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Quentin Tarantino mit Uma Thurman bei der Arbeit an „Kill Bill“.  Foto:  Alamy – AF Archive

Auf Seite 11 ist die Welt noch in Ordnung zwischen Quentin Tarantino und Harvey Weinstein. Da posieren der Regisseur und der Produzent Schulter an Schulter: Weinstein als Förderer und Nutznießer von Filmemacher Tarantino, der wiederum in dem Studiomogul über Jahrzehnte einen mächtigen Unterstützer gefunden hatte. Heute ist die Lage eine andere: Weinstein ist in einem Skandal um, unter anderem, Vergewaltigungsvorwürfe untergegangen; Tarantino dreht seinen nächsten Film für ein anderes Studio und hat gerade Weinsteins nun bankrotte Firma auf in seinen Augen noch ausstehende Gewinne verklagt.

Weinsteins Sturz ist im jetzt bei uns erscheinenden Buch „Tarantino“ kein Thema, denn es stand in den USA schon im Oktober 2017 in den Läden, als der Skandal erst ruchbar wurde. Tarantino gab danach zu, er habe genug von Weinsteins Taten gewusst, um mehr zu tun, als er getan habe. Die nächste Entschuldigung folgte, als ein Interview mit ihm von 2003 auftauchte, in dem Tarantino  Roman Polanskis Missbrauch einer 13-Jährigen damit kommentierte, das Mädchen habe es ja so gewollt. Auch beinharte Tarantino-Fans müssen eingestehen, dass sein Image als Filmemacher mit dem Herzen auf dem rechten Fleck und einer Vorliebe für starke Frauenfiguren Risse bekommen hat. Um die kann es nun wegen der Entstehungszeit in Tom Shomes Buch nicht gehen, vielleicht aber in einer zweiten Auflage?

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Foto: Alamy – Everett Collection

Allerdings ist das Buch auch so lesens- und auch schauenswert, denn der schwere Band im Großformat ist opulent bebildert (250 Farbfotos auf 256 Seiten). Filmjournalist Shome zeichnet Tarantinos Karriere und Leben nach, auch die Jugend mit der Mutter (Ex-Schwesternschülerin) und ohne den abwesenden Herumtreiber-Vater. Oder wie Tarantino es ausdrückt: „Meine Mutter Arthouse, mein Vater B-Movie.“ Vom enthusiastischen Videothekshelfer mit enormem Filmwissen wird er zum Regisseur, schockt mit der Härte seines Debüts „Reservoir Dogs“, mischt das US-Kino mit der schwarzhumorigen Erzähllust von „Pulp Fiction“ auf und bleibt bis heute ein eigenwilliger Kopf, an dem sich die Geister fast schon traditionell scheiden.

Das lässt das Buch ebensowenig aus wie Enttäuschungen und Flops. Tarantino selbst sagt hier etwa über seine Stuntman-B-Movie-Hommage „Death Proof“: „Vermutlich mein schlechtester Film. Dafür war er gar nicht so übel.“

Interviewsätze wie diese, hier gerne groß auf blutrotem Hintergrund gedruckt, führen durch das informationssatte Buch, deren Bilder prägnante Szenenmotive zeigen und immer wieder Tarantino bei der Arbeit. Ob er die nach dem nächsten oder übernächsten Film tatsächlich einstellt, wie er schon lange ankündigt, um lahme Alterswerke zu vermeiden? Vorstellen kann man es sich nicht so recht.

Tom Shome: Tarantino – Der Kultregisseur und seine Filme.
Knesebeck, 256 Seiten, 40 Euro.

 

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Der Urvater von „Star Wars“ – ein Buch über George Lucas

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Was ist er nun? Ein visionärer Filmemacher, der stets um künstlerische Unabhängigkeit gekämpft hat, Technologien vorantrieb  und ohne den die Populärkultur heute ganz anders aussähe? Oder ein Geschäftsmann, der das filmbegleitende Nippes-Merchandising ins Extrem trieb, am Ende als Regisseur der größte Feind seiner eigenen Kreation wurde, mit durchwachsenen neuen Filmen und endlosen Verändern an den alten Klassikern,  und schließlich von seinen „Star Wars“-Nachlassverwaltern (Disney) weitgehend ignoriert wird?

Regisseur, Produzent und Drehbuchautor George Lucas ist als Person und als Künstler schwer zu fassen. US-Autor Brian Jay Jones hat es in einer 500 Seiten starken Biografie versucht – das Ergebnis ist eine aufregende Geschichte, auch für jene, die mit „Star Wars“ oder dem Archäologie-Abenteurer Indiana Jones nichts anfangen können. Es geht, ein bisschen wie bei „Star Wars“ um Rebellion, Unabhängkeit und  den Kampf gegen ein böses Imperium (Hollywood, zumindest in Lucas’ Augen). Das quellen- und zitatreiche Buch erzählt vom Sohn eines kleinstädtischen Schreibwarenhändlers, der sich ebenso für Rennsport wie für Philosophie und das Kino interessiert, Filmseminare besucht und inmitten der „New Hollywood“-Aufbruchstimmung experimentelle Kurzfilme dreht; dabei will er vor allem eines – die völlige künstlerische Kontrolle über sein Werk. Völlig verständlich, aber in Hollywoods Studiosystem kaum zu haben. Die schwierige Produktionsgeschichte seines ersten Langfilms „THX 1138“ (1971) zementiert, ja betoniert sein Misstrauen gegen Hollywood: Das düstere Zukunftsszenario gefällt den Geldgebern nicht, sie schneiden am Film des machtlosen Lucas herum, ebenso am Nachfolgefilm „American Graffiti“ (1973). Das verwandelte Lucas’ „Zynismus in echten Hass auf Hollywood“, wie Jones schreibt. Immerhin: „Graffiti“ ist erfolgreich und ermöglicht die Produktion eines kleinen Weltraum-Films, an den kaum jemand glaubt: „Krieg der Sterne“ (1977). Der Rest ist bekannt.

Millionen verdient Lucas mit dem Film, nicht zuletzt mit den Lizenzen für Spielzeug und Nippes – er nennt es im Buch „das Geschäft mit dem Zeugs“. Damit will er sein Film-Imperium abseits Hollywoods finanzieren. Doch unerschöpflich sind die Ressourcen nicht, so dass ein Misserfolg der Fortsetzung „Das Imperium schlägt zurück“ (1980) alle Pläne zerschlagen hätte und damit auch Lucas Allerheiligstes: Unabhängigkeit. Diesen Film, für viele der beste der Reihe,  inszeniert Lucas schon nicht mehr selbst, denn der Regisseur mag Regieführen nicht sonderlich.

Mit den mittlerweile vier Filmen um den peitschenschwingenden Archäologen Indiana Jones (Harrison Ford), inszeniert von Steven Spielberg, festigt Lucas sein Lucasfilm-Imperium, das auch etwa durch den  legendären Flop „Howard – Ein tierischer Held“ nicht mehr ins Wanken zu bringen ist. Unter „Star Wars“-Fans umstritten ist die zweite Trilogie (1999-2005), die Lucas inszeniert und der man anmerkt, dass der Austausch mit Schauspielern nicht zu seinen Lieblingsaufgaben gehört – im Gegensatz etwa zum Basteln an neuer Filmtechnologie.

Heute ist Lucas 73 und Milliardär: 2012 hat er Lucasfilm für vier Milliarden Dollar an den Disney-Konzern verkauft, der den Markt mit neuen „Star Wars“-Minireihen und Einzelfilmen bedient. Dass Disney dabei kein Interesse an Tipps des Ur-Vaters hat, gefällt Lucas nicht. Ganz loszulassen oder abzuschließen fällt ihm, der immer um die letzte Kontrolle kämpfte, verständlicherweise besonders schwer.

Brian Jay Jones: George Lucas – die Biografie. Edel Books, 480 Seiten, 24,95 Euro.

„Der Pakt“: Hollywoods Geschäfte mit Hitler

Hitler und HollywoodDas Buch „Der Pakt“ untersucht die Beziehungen zwischen NS-Deutschland und Hollywood – und ist dabei mstritten.

Charlie Chaplin hält im „Großen Diktator“ eine flammende Rede für die Freiheit. Und Errol Flynn führt im Film „Sabotageauftrag Berlin“ tumbe NS-Trupps an der Nase herum. So stellt man sich gerne das US-Kino ab 1933 vor – Filme mit eindeutigem Standpunkt gegen den deutschen Faschismus. Doch so eindeutig war das nicht, und die erwähnten Filme entstanden 1940 beziehungsweise 1942. Für Hollywood war das Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Absatzmarkt, den man nicht gefährden wollte – entsprechend war man über Jahre zu Zugeständnissen bereit; eine neue Erkenntnis ist das nicht, amerikanische Historiker haben dazu einiges veröffentlicht. Doch der US-Geschichtswissenschaftler Ben Urwand spitzt das in seinem Buch „Der Pakt“ merklich zu, was schon der Titel zeigt, über den man streiten kann. War das in der Tat ein „Pakt“? Der US-Titel geht noch weiter: „The Collaboration. Hollywoood’s pact with Hitler“. Also sogar „Kollaboration?“

Ben Urwand trägt nach langer Archivarbeit in den USA und vor allem Deutschland eine Geschichte des Entgegenkommens zusammen: Im Dezember 1930 teilt die deutsche Regierung den Hollywoodstudios mit, sie könnten in Deutschland nur dann Geschäfte machen, wenn ihre Filme das „deutsche Prestige“ nicht beschädigten. Eine zentrale Rolle beim folgenden Schmusekurs der Studios ist der deutsche Konsul in Los Angeles, Georg Gyssling. Er verlangt immer wieder von US-Studios Änderungen an ihren Filmen über Deutschland und droht mit der Ausweisung der Verleihfirma vom deutschen Markt.

Nicht alle, aber einige Studios kommen dem Konsul gerne entgegegen: Ihm wird 1931 etwa eine frühe Version von „Der Weg zurück“ gezeigt (nach seiner Kritik wird die militärkritische Remarque-Verfilmung an 21 Stellen gekürzt); es ist die Fortsetzung von „Im Westen nichts Neues“ – jenes Films, der in deutschen Kinos von Protesten begleitet wurde, die Propagandaminister Joseph Goebbels organisiert hatte. Danach hatte das betreffende Studio (Universal) den Film noch einmal mit Kürzungen vorgelegt, damit er in Deutschland problemlos laufen kann. Zudem hat der Konsul laut Urwand die Produktion des NS-kritischen Films „The Mad Dog of Europe“ verhindert; danach wirkt er direkt auf die Drehbucharbeit an der dritten Remarque-Verfilmung „Drei Kameraden“ (1938) ein.

Hitler und Hollywood

Autor Ben Urwand. Foto: Theiss Verlag

Nicht alle Studios spielen so lange mit: Warner schließt seine deutsche Niederlassung 1934, Universal und Columbia 1936. Aber erst der Kriegsbeginn ändert die US-Filmpolitik grundlegend: Ab da sind die Nazis im US-Kino die Schurken. Ab 1945 ist Deutschland wieder ein Markt, der aufgebaut und bedient werden will – mit einem Vorrat von während des Krieges nicht gezeigten Filmen.

Urwand erzählt von Profit und Opportunismus, der titelgebende Begriff „Pakt“ wirkt dennoch nicht schlüssig. Auch sind manche Zuspitzungen nicht nachvollziehbar: Das Gary-Cooper-Abenteuerstück „Bengali“ (1935), ein Lieblingsfilm des NS-Regimes, feiert zwar Kolonialismus und Imperialismus – aber ist es gleich  ein nationalsozialistischer Film, weil Hitler und Goebbels von ihm begeistert sind? Auch der US-Film „Unser täglich Brot“ (1934) über die Gründung einer Genossenschaft, der in den USA als linker Film aufgenommen wurde, wird bei Urwand zum NS-Epos. Das schmälert das Vertrauen in manche Schlüsse, die er zieht. Darunter seine grundlegende These, „dass die Studiochefs nicht den Wunsch verspürten, ihr jüdisches Erbe zu verteidigen“.

In den USA wurde Urwand von anderen Historikern zum Teil als übertreibend und methodisch schludrig kritisiert, auch hierzulande ist das Echo geteilt. Der Deutschlandfunk etwa nennt das Buch „hochinteressant“, die Jüdische Allgemeine spricht von einem „zwiespältigen Eindruck“ zwischen „Erkenntnis und Fehlinterpretation, Erhellendem und peinlicher Einseitigkeit“.

Aller Einwände zum Trotz – und einer leseunfreundlichen Gliederung in gerade mal sechs Kapitel für 260 Seiten Text (ohne Epilog und Anmerkungen): „Der Pakt“ bleibt eine faszinierende Faktensammlung, auch wenn man nicht jeder Interpretation folgen mag. Aber das Buch sensibilisiert womöglich den Blick dafür, wie die Filmindustrie – auch heute – mit Regimes, ob nun tyrannisch oder nur halbtyrannisch, pfleglich umgeht, um Absatzmärkte nicht zu beschädigen.

Ben Urwand: Der Pakt. Hollywoods Geschäfte mit Hitler. Aus dem Englischen von Gisella M. Vorderobermeier. 328 Seiten, 29,95 Euro.

 

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