Über Film und dieses & jenes

Monat: November 2022

„Die Goldenen Jahre“ von Barbara Kulcsar

Windstille herrscht in der Ehe von Peter (Stefan Kurt) und Alice (Esther Gemsch).  Foto: Alamode

 

Das ist wohl der Härtest für nicht wenige Ehen: die gemeinsame Rente. Man hat wieder mehr Zeit füreinander – aber ist das etwas zwingend Gutes? Und kann man nach Jahrzehnten im Arbeitsrhythmus mit so viel ungewohnter Freiheit überhaupt umgehen? Bei Alice (Esther Gemsch) und Peter (Stefan Kurt) lässt es sich erstmal gut an, auch wenn es kleine Irritationen gibt.​

Peter, der sich nach dem Abschied aus seinem Büro vor allem auf das Ausschlafen freut, kann dem liebevoll gehauchten „Guten Morgen“ seiner Frau wenig abgewinnen, wenn es erst sieben Uhr morgens ist. Und Alice, die den Göttergatten nun, da er mehr Zeit hat, in die Haushaltsarbeit integrieren will, sieht sich mit passivem Widerstand konfrontiert: Er versucht, erstmal, im Sitzen Staub zu saugen. Und einig ist man sich nicht auch bei der nächsten Lebensphase: Sie will raus aus dem großen Haus und in eine neue Wohnung. Er lieber nicht. Es gibt also einiges zu besprechen – kann eine gemeinsame Kreuzfahrt, das Geschenk der Kinder zur Rente, die Wogen glätten und die beiden wieder einander näherbringen?​

Die schweizerisch-deutsche Produktion „Die goldenen Jahre“ ist ein charmanter, flotter Film in bunten Farben. Eben das, was gerne als „Wohlfühlkomödie“ bezeichnet wird, von denen es ja gute und viele schlechte gibt – dieser Film ist eine der guten. Drehbuchautorin Petra Volpe stellt manche Sinnfragen und macht es sich bei den Antworten nicht allzu leicht, auch wenn man es hier nicht mit Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ zu tun hat. Doch bei der Kreuzfahrt offenbart diese Lebensgemeinschaft ihre Schlagseite. Dass Peter Veganismus und Alkoholfreiheit für sich entdeckt, im Gegensatz zur Gattin, ist nur eine Petitesse. Doch im Ehebett des Luxusdampfers herrscht Windstille seitens Peter. Er flüchtet sich nach einer Nackenmassage vor seiner Frau auf die Toilette, spricht von akutem Sodbrennen – eine Szene, die auch klamottig hätte ausfallen können, hier aber sehr berührend ist. Er habe einfach keine Lust mehr, sagt Peter zur Alices Erschütterung und vielleicht zu seinem eigenen Erstaunen. „Ganz allgemein. Es ist mir nicht mehr so wichtig.“

Nicht mehr so wichtig scheint ihm überhaupt eine Nähe zu Alice, in welcher Form auch immer. Lieber sitzt er auf dem Schiff in der Sonne mit dem gemeinsamen, frisch verwitweten Freund Heinz (Ueli Jäggi), den er gebeten hat, mit auf See zu gehen – vielleicht um ihn zu trösten, vielleicht um nicht alleine mit seiner Frau zu sein, auch wenn da immer noch eine große Zuneigung zu spüren ist. Aber in vielen Fragen, die man sich jetzt erst in der Ruhe der Rente stellt, liegen die beiden weit auseinander. Sollte man etwa eine Affäre verschweigen, um den Partner nicht zu verletzen (Peters Auffassung) – oder alles offenlegen, weil Ehrlichkeit wichtiger ist als Schonung (Alices Auffassung)?​

Das Thema Affäre taucht überhaupt erst auf, weil sie beide wissen, dass Heinz‘ verstorbene Frau in den vergangenen Jahren regelmäßig alleine nach Toulouse gefahren ist und vor ihrem Mann glühende Liebesbriefe versteckt hat. Absender: „Claude“. Als es Alice zu viel wird mit der Männerfreundschaft Peter/Heinz (sie lesen an Bord sogar das gleiche Buch, „Ein Mann und sein Rad“), setzt sie sich bei einem Landurlaub in Marseille ab und macht sich auf in Richtung Claude (mit anderem Ausgang als erwartet). Zwischendurch trifft sie ein Hippiepärchen in mittleren Jahren und kaut ihren ersten Drogenpilz. Dem Gatten schreibt sie lapidar von einer „Auszeit“ – war es das mit dieser Ehe?​

Regisseurin Barbara Kulcsar inszeniert das flott, kann sich dabei auf ihre Darsteller verlassen (Gemsch und Kurt sind famos), während Kameramann Tobias Dengler das Ganze in wonnig-bunte Bilder im Cinemascope kleidet:  Das Meer strahlt ebenso Türkis wie das berufsjugendliche Radfahr-Trikot von Peter, die Sonne scheint überall – eine Komödien-Wohlfühl-Optik. Hier werden gekonnt mit leichter Hand die schwereren Fragen behandelt: Kann man sich trennen wollen, obwohl man sich noch liebt? Kann platonische Freundschaft, in welcher Geschlechterkonstellation auch immer, so erfüllend sein wie die Liebe in einer Beziehung – und stabiler sowieso? Peter und Alice finden jedenfalls einen Weg, der einer ist von vielen möglichen.

„Kunst und Kino müssen provozieren“ – ein Interview mit Wojciech Smarzowski

Wojciech Smarzowski vor dem Saarbrücker Kino Achteinhalb, als er seinen Film  „Rosza“ vorstellte. Foto: Iris Maurer / SZ

 

Der polnische Regisseur Wojciech Smarzowski (59) legt den Finger in die Wunden seiner Heimat – mit großem Erfolg. Sein Film „Klerus“ über sexuellen Missbrauch, Vertuschung und die Macht der katholischen Kirche ist einer der größten Kino-Erfolge Polens. Sein jüngster Film  „The Wedding Day“ schlägt einen großen Bogen, erzählt in der Gegenwart von einem korrupten Geschäftsmann, der vor nichts zurückschreckt, um seinen angeschlagenen Schlachtbetrieb zu retten; parallel dazu wird die Geschichte seines Vaters im Zweiten Weltkrieg erzählt.

Die Website „Screenanarchy“ nennt Sie den wichtigsten Provokateur des polnischen Kinos. Ist Provokateur das richtige Wort?​

SMARZOWSKI Es geht mir nicht um Provokation um der Provokation willen. Aber Kunst und das Kino müssen provozieren, intellektuell und emotional, sonst braucht man die Kamera gar nicht erst aus dem Auto zu holen.​

Was sollen Ihre Filme gesellschaftlich bewirken?​

SMARZOWSKI Die historischen Themen, die mich umtreiben, werden in der Geschichtswissenschaft und in der Literatur behandelt – aber es lesen nicht alle Menschen diese Publikationen und Bücher, das Publikum ist begrenzt. Deshalb will ich diese Themen über den Weg des Kinos in die Populärkultur transportieren. Film hat da eine andere Kraft. Viele Menschen lesen keine Sachbücher, gehen aber ins Kino. Und wenn sie dort einem historischen Thema begegnen, wollen sie danach vielleicht mehr wissen.​

Wie ist das bei „The Wedding Day“? Ihr Film zeigt, wie in Polen im Zweiten Weltkrieg jüdische Mitbürger von Polen diskriminiert und ermordet wurden.​

SMARZOWSKI Es ist klar, dass nicht die Polen verantwortlich sind für den Holocaust, sondern die Deutschen. Aber in den Ostgebieten kam es 1941, als Deutschland der Sowjetunion den Krieg erklärt hat, schneller zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung, unter deutscher Führung, aber doch mit Beteiligung von Polen. Der Film soll die Zuschauer dazu bringen, darüber nachzudenken und auch darüber, warum wir Polen die mörderischen Taten und die jüdische Kultur und Geschichte aus unserem kollektiven Gedächtnis verdrängen wollen.​

2018 wurde in Polen ein umstrittenes Gesetz erlassen, das verbietet, Polen eine kollektive Mitschuld am Holocaust zu geben. Gab es politischen Widerstand gegen Ihren Film?​

SMARZOWSKI Das Gesetz war einer der Gründe, warum ich den Film überhaupt gedreht habe. Wenn man zum Beispiel Kindern etwas verbietet, kann man sicher sein, dass sie das Verbotene auch gerade deshalb tun. Für diesen Film gab es keinerlei Unterstützung des polnischen Filminstituts, die Produzenten mussten ihn komplett alleine finanzieren. Jede Nation hat Momente in ihrer Geschichte, für die sie sich schämen muss und die sie lieber verdrängen will. Aber wir müssen offen über sie reden und uns zu ihnen bekennen, damit die Welt in Zukunft besser wird. Kierkegaard sagte, dass man das Leben verstehen könne, wenn man rückwirkend darauf schaut – aber leben müsse man nach vorne.​

 

 

Eine Szene aus "The Wedding Day". Foto: Cinema Management Group

Eine Szene aus „The Wedding Day“.  Foto: Cinema Management Group

Wie ist die Reaktion auf den Film in Polen?​

SMARZOWSKI Er lief während der Pandemie, deswegen hatte er weniger Zuschauer als ursprünglich erwartet. Der Film erhielt gute Kritiken und Preise, die aber nur im Ausland. Der polnische Kulturminister Piotr Glinski allerdings hat den Film als „degeneriertes Projekt“ bezeichnet – eine Wortwahl, die er sich von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels geliehen hat.​

Sie ziehen viele Parallelen zwischen dem Antisemitismus und Nationalismus in Polen in der Vergangenheit und in der Gegenwart – wie ist Ihre Meinung vom heutigen Polen, was Antisemitismus und Nationalismus betrifft?​

SMARZOWSKI Die Welt driftet gefährlich nach rechts, auch Polen. Mein Film zeigt, dass Geschichte sich zu wiederholen droht. Der Film richtet sich nicht an die Antisemiten, an die Nationalisten, nicht an die Philosemiten und die Linken, denn deren Meinung würde ich nicht ändern. Mir geht es um die Menschen, die in der Mitte stehen. Der polnische Holocaust-Überlebende Marian Turski hat geschrieben, dass es so etwas wie das elfte Gebot gebe: Man dürfe nicht gleichgültig sein. Meine Filme sollen daran hindern, gleichgültig zu sein.​

Bei „The Wedding Day“ treten in der Handlung der Gegenwart zwei deutsche blonde Geschäftsmänner aus Nordrhein-Westfalen auf, einer ist dann in einer Vision in Nazi-Uniform zu sehen – wie ist Ihr Blick auf das aktuelle Deutschland und die deutsche Kultur der Erinnerung?​

SMARZOWSKI Ich lebe in Polen und weiß zu wenig, um mich da präzise zu äußern. Aber ich schätze und bewundere die Stolpersteine in Deutschland und eine Einrichtung wie das NS-Dokumentationszentrum in München. Andererseits erinnere ich mich an eine Kneipe im Schwarzwald in den 1990er Jahren, die von Veteranen des Zweiten Weltkriegs geführt wurde – die beiden Besitzer trugen Uniformen aus dem Krieg, an den Wänden habe ich Hakenkreuze gesehen, und es wurden Lieder aus der NS-Zeit gesungen.​

Ihr Film „Klerus“ über die Kirche in Polen und den sexuellen Missbrauch hat in Ihrer Heimat über fünf Millionen Kinozuschauer gezählt – ein riesiger Erfolg. Hat der Sie überrascht?​

SMARZOWSKI Enorm – aber das hat mir auch gezeigt, wie wichtig dieses Thema für viele in Polen ist. Die Kirche steht immer noch über dem Gesetz, sie ist immer noch präsent in Schulen und Ämtern, weil sie den Parteien die Wählerstimmen ihrer Gläubigen verspricht – und dadurch bekommt sie staatliche Zuwendung. Aber ihre Position wird Jahr für Jahr schwächer. Gerade die jüngere Generation geht auf Distanz. Für sie hat auch der frühere polnische Papst Johannes Paul II. keine Bedeutung. Für sie ist er ein Kirchenmann, der vom Missbrauch gewusst hat und schwieg.​

Sie waren schon mehrmals zu Besuch im Kino Achteinhalb in Saarbrücken – was schätzen Sie an dem Kino?​

SMARZOWSKI Die Gastgeber, die Zuschauer, die Atmosphäre und die Nähe von vielen Kneipen, in denen man weiterdiskutieren kann.​

„Shiva Baby“ von Emma Seligman

Shiva Baby Rachel Sennott

Rachel Sennott, eine Entdeckung, als Danielle. Foto: Mubi

Was für ein Tag – und was für ein hinreißender Film. „Shiva Baby“ erzählt von einem Tag aus dem Leben der jungen Danielle: vom mittäglichen Sex auf der Couch bis zum Ende einer Beerdigung in der Nachbarschaft. Die Tote kennt sie zwar nicht, aber das hindert sie nicht daran, den Trauergästen vorzuschwärmen, wie viel Lebensfreude die Verstorbene zu Lebzeiten hatte – sie hat Übung darin, anderen etwas vorzumachen; eigentlich ist sie nur auf Bitten ihrer Eltern zugegen, da die mal wieder nach ihrer Tochter schauen wollen, die nicht so richtig den Platz im Leben gefunden zu haben scheint.​

​Junge Menschen auf Sinnsuche sieht man ja immer wieder im Kino – aber selten in so kompakter und wunderbar tragikomischer Form wie in diesem Langfilmdebüt von Emma Seligman. In 77 straffen Minuten führt sie ihre Figur durch extreme Gefühlslagen, mal ist Danielle Herrin der Lage, mal verunsichert, mal knapp vor einem Nervenzusammenbruch.​

Zu Anfang verabschiedet sich Danielle von ihrem Liebhaber Max, der eher ein Kunde ist, den sie beim Vollzug „Daddy“ nennt und der ihr bei den Treffen regelmäßig Geld zusteckt; dass er damit ihr Jura-Studium unterstützt, ist eine fromme Lüge, auf die sich beide wohl dankbar geeinigt haben. So muss sie sich nicht als Nebenher-Prostituierte fühlen, er nicht als Freier, und man mag sich ja auch.​

Bei der Beerdigung ahnt davon niemand, aber Danielles permanent miteinander streitenden Eltern wissen zumindest, dass es beruflich nicht läuft – mit halbherzigen „gender studies“ lässt sich kein Leben finanzieren, die Hinweise auf ein Jura-Studium sind kleine Notlügen. Und so lassen die Eltern nichts unversucht, bei der Beerdigung im Haus der Hinterbliebenen die Trauergäste nach einem Job für ihre Tochter zu fragen – nicht subtil genug, um damit nicht ein bisschen peinlich aufzufallen. Regisseurin und Autorin Seligman schafft da eine wunderbar dichte Atmosphäre und hat ein Händchen für witzige Dialoge, bei denen viele verbale Giftpfeile verschossen werden.​

In dem kleinen Haus stehen die Trauerenden am Buffet herum, sie tratschen, halten Smalltalk („soooooooo nice to see you“), lästern entweder offen oder zwischen den Zeilen. Wenn es heißt, Danielle habe „so schön abgenommen“, folgt gleich der Verdacht auf eine Essstörung.​

Ohnehin nervlich etwas angeschlagen, trifft Danielle eine alte Freundin wieder: Maya, mit der sie einst eine mehr als platonische Beziehung verbunden hat, die Danielle abrupt beendet hat. Die Dialoge zwischen den beiden sind anfangs ziemlich feindselig, man spürt, dass hier noch nicht alles gesagt ist und dass da noch ein altes Feuer glimmt. Den nächsten Schubser in Richtung Nervenzusammenbruch ist die Ankunft des Kunden/Freundes/„Sugar Daddys“ vom Filmbeginn namens Max. Dass der ebenfalls Verbindungen zu ihrer Nachbarschaft hat, wusste Danielle ebenso wenig wie die Tatsache, dass er verheiratet ist, Vater ist und seine ebenso attraktive wie beruflich höchst erfolgreiche Ehefrau dabei hat. Die Beerdigung droht für Danielle zum großem Kollaps zu werden.​

Die kanadische Regisseurin Emma Seligman (27), die in New York Film studiert hat, erzählt das mit viel Witz, Tempo und exzellenten Mimen; die Kamera von Guy Sahaf dreht ihre dynamische Runden in dem Haus voller Menschen; die Musik von und mit Ariel Marx, mit nervösem Schlagwerk und manchmal schrägen Streicherklängen, unterstreicht die Atmosphäre des Absurden und Unerwarteten. Allem zugrunde liegt eine gewisse Melancholie, es geht auch um Enttäuschungen, gescheiterte Pläne, unterschiedliche Lebensentwürfe und unterschiedliche Generationen. Da kann die Riege der Eltern und älteren Bekannten schon mal ziemlich gruselig wirken, wenn die Kamera ganz nahe herangeht und die Szenerie in ein diabolisches Orangerot getaucht ist – in einer witzigen Szene, die wohl eine Hommage an „Rosemary‘s Baby“ ist.​ Ein bemerkenswertes Spielfilmdebüt.

Der Film ist bei Mubi zu sehen.

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