Film und dieses & jenes

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Interview mit Katharina Kubrick

Katharina Kubrick im Filmhaus Saarbrücken, wo die Retrospektive "Kubrick Komplett" am 26. Juli, dem Geburtstag ihres Vaters, eröffnet wurde. Das Foto über ihr zeigt den in Saarbrücken geborenen Regisseur Wolfgang Staudte (1906-1984); er hat, auf Kubricks Wunsch, die deutschen Synchronfassungen von drei Filmen betreut: "Uhrwerk Orange", "Barry Lyndon" und "Shining". Foto: tok

Katharina Kubrick im Filmhaus Saarbrücken, wo die Retrospektive „Kubrick Komplett“ am 26. Juli, dem Geburtstag ihres Vaters, eröffnet wurde. Das Foto über ihr zeigt den in Saarbrücken geborenen Regisseur Wolfgang Staudte (1906-1984); er hat, auf Kubricks Wunsch, die deutschen Synchronfassungen von drei Filmen betreut: „Uhrwerk Orange“, „Barry Lyndon“ und „Shining“. Foto: tok

Eine ambitionierte Filmreihe: „Kubrick komplett“ im Filmhaus Saarbrücken widmet sich dem US-Filmemacher Stanley Kubrick (1928-1999). Die komplette Retrospektive läuft 13 Wochen, beginnt am 26. Juli mit Kubricks letzter Produktion „Eyes Wide Shut“ von 1999 und bewegt sich dann chronologisch rückwärts. Jede Woche ist ein Film zu sehen, ebenso im Original wie in synchronisierter Fassung. Im Oktober endet die Reihe mit Kubricks Spielfilmdebüt „Fear and Desire“ und selten gezeigten Kurzfilmen. Zur Eröffnung ist Kubricks Tochter Katharina Kubrick (70) aus London angereist – sie hat an Filmen ihres Vaters mitgearbeitet, aber auch in verschiedenen Funktionen an Produktionen wie „Moonraker“, „Der Spion, der mich liebte“ und „Der dunkle Kristall“.

In seinem Film „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ hat Ihr Vater ein Bild der US- und Weltpolitik am Rande des Wahnsinns gezeichnet, beziehungsweise mittendrin. Mit einem US-General namens Jack D. Ripper, der aus Verfolgungswahn Atombomber losschickt, unter anderem, weil er politische Feinde für seine Impotenz verantwortlich macht. Das war 1964. Heute, in der Ära der „alternativen Fakten“, würde man sich über diese Figur vielleicht weniger wundern als damals – was würde Ihr Vater wohl heute denken?​

KUBRICK Ich fürchte, angesichts des aktuellen Zustands der US-Politik wäre er deprimiert und schockiert. Ich bin mir sicher, dass es damals im Militär tatsächliche Jack D. Rippers gab – und dass es sie heute gibt. Die beiden Figuren Jack D. Ripper und General Turgidson aus dem Film basieren auf der realen Person Curtis E. LeMay vom „Kommando für strategische Langstreckeneinsätze“. Ihm wird unter anderem dieses Zitat zugeschrieben: „Wenn man genug Feinde umbringt, dann hören die auch auf zu kämpfen.“​

Das oft überlieferte Bild Ihres Vaters ist das eines kühlen, distanzierten Einsiedlers, der sich auf seine Festung im Grünen nahe London zurückgezogen hatte, hinter elektrischen Zäunen. Wie weit entfernt von der Wahrheit ist das?​

KUBRICK Weiter entfernt könnte es nicht sein. Und das Wort „Festung“ stimmt schon gar nicht. Das Landhaus Childwickbury war ein ideales Zuhause für ihn, mit vielen Zimmern, viel Garten, viel Platz für die ganze Familie, die Katzen, Hunde – und die Esel. Meine Mutter hat dort bis heute ein großes Atelier und Gewächshäuser.​

Hat Ihren Vater dieses oft kolportierte Bild des Sonderlings und Eremiten gestört?​

KUBRICK Klar, das hat meinen Vater natürlich geärgert, und nun kann er sich nicht mehr wehren. Mich ärgert es bis heute, dass jemand schnell für seltsam oder gar verrückt gehalten wird, bloß weil er in Ruhe und mit genug Platz an einem friedlichen Ort arbeiten will.​

Vielleicht hing ihm dieses Image der Kälte und der Distanz auch an, weil seine Sicht auf die Welt und die Menschen in seinen Film so pessimistisch und finster war. Aber ein Menschenfeind war er nicht?​

KUBRICK Überhaupt nicht. Er war einfach ein sehr genauer Beobachter der menschlichen Existenz. Und die Bücher, von denen er sich hat inspirieren lassen, erzählten Geschichten über das Menschsein – und der Mensch selbst ist ja oft der Grund für sein persönliches Elend.​

Sie sind auch an Drehorten aufgewachsen und bei Dreharbeiten – das klingt schon sehr interessant.​

KUBRICK Das war es auch – in jedem Fall war es keine übliche Kindheit. Wir sind sehr viel gereist, ich habe insgesamt 13 Schulen besucht, wir haben sieben Mal den Atlantik überquert, in Schiffen wie der „Queen Mary“. Das war natürlich sehr schön. Anders als andere „Showbiz-Kinder“ wurden wir nie ins Internat geschickt. Meine Eltern wollten die Familie immer beieinander haben.​

Ab dem Film „Barry Lyndon“ 1975 haben Sie an den Filmen Ihres Vaters mitgearbeitet, so wie Ihre Schwestern Vivian und Anya.​

KUBRICK Ganz stimmt das nicht – meine inzwischen verstorbene Schwester Anya hat nie an einem seiner Filme gearbeitet, sie war Musikerin und Opernsängerin, Filmemachen war nicht ihr Ding. Aber mein Vater hat es geliebt, die Familie so viel wie möglich mit einzubeziehen. Mein Onkel Jan Harlan, der Bruder meiner Mutter Christiane, wurde sein Produzent, mein Cousin Manuel Harlan hat als Fotograf bei den Filmen meines Vaters angefangen und ist jetzt ein sehr respektierter Fotograf an Londoner Theatern und Opernhäusern. Dominic Harlan, ein weiterer Cousin, ist Pianist, hat bei der Musik für „Eyes Wide Shut“ mitgearbeitet und dafür ein Motiv von Ligeti eingespielt.​

Wie sah Ihre Arbeit an seinen Filmen aus? Sie haben nebenbei ja auch Kurzauftritte in „Uhrwerk Orange“ und „Eyes Wide Shut“.​

KUBRICK Ich habe für einige seiner Filme Drehorte gesucht und war für Requisiten verantwortlich. Ich habe das zwischen den Arbeiten an anderen Filmen gemacht, es war mir aber wichtig, mich in der Branche unabhängig von ihm zu etablieren.​

Die Filme Ihres Vaters müssen für Sie eine Art Tagebuch oder Lebensbegleiter sein. Ragt da einer besonders heraus?​

KUBRICK Ganz sicher „Barry Lyndon“, denn da war ich von Anfang an beteiligt, am ganzen Prozess des Films. Und als ich da mit Ken Adam (legendärer Film-Architekt und Ausstatter, Anmerkung der Redaktion) im Art Department gearbeitet hat, wurde mir klar, dass ich genau das machen und als Set-Designerin arbeiten will.​

Die Retrospektive in Saarbrücken beginnt mit dem letzten Film Ihres Vaters, „Eyes Wide Shut“. Ein durchaus passender Abschied. Mit Tom Cruise und Nicole Kidman auf der Höhe ihres Ruhms besetzt, aber kein Star-Vehikel, sondern eine sehr melancholische, bittere Geschichte um Ehe, Eifersucht und die Zerbrechlichkeit von Vertrauen. Einen solchen Film hätte damals außer Ihrem Vater wohl niemand finanziert bekommen.​

KUBRICK Darüber, diesen Film zu machen, hat er 30 Jahre lang nachgedacht. Als er abgeschlossen war, sagte er mir, dass er ihn für seine wichtigste Arbeit hält. Er war sehr stolz auf den Film. Ich finde, dass das Warner-Studio, das den Film in die Kinos brachte, „Eyes Wide Shut“ sehr schlecht vermarktet hat – das Publikum musste wegen der Werbekampagne eine anzügliche Bettgeschichte mit Tom und Nicole erwarten – bekam aber einen ernsten, seelenzerreißenden Blick auf Eifersucht und menschliche Schwächen. Es hatte schon seinen Grund, dass mein Vater so lange gewartet hat, bis er sich bereit fühlte, diesen Film über Situationen zu drehen, bei dem jeder und jede im Publikum eigene Erfahrungen hat. Meine Erfahrung ist, dass ältere Menschen den Film viel besser verstehen als jüngere.​

 

 

Der Film basiert auf der „Traumnovelle“, einem Werk von Arthur Schnitzler – von ihm stammt auch die Vorlage zum Film „Der Reigen“ des in Saarbrücken geborenen Regisseurs Max Ophüls. Ihr Vater galt als Bewunderer von Ophüls.​

KUBRICK Ja, er hat oft über seine Filme gesprochen und nannte ihn einen großartigen Regisseur. Ich muss aber zugeben, und es ist mir ein wenig peinlich, dass ich noch nie einen Ophüls-Film gesehen habe.​

Ihr Vater starb im Alter von 70 Jahren überraschend, wenige Tage nach der Fertigstellung von „Eyes Wide Shut“. Wie sehr vermissen Sie ihn?​

KUBRICK Sehr und jeden Tag – sein Wissen, seine Ermutigungen, sein Lösen von Problemen und sein Lachen. Ich bin traurig darüber, dass meine drei Söhne ohne ihn aufgewachsen sind und dass er zwei Urenkelinnen hat, die er nie sehen wird.​

Sie sprechen regelmäßig über das Werk Ihres Vaters, begleiten Ausstellungen und Filmvorführungen. Hilft das auch, eine gewisse Verbindung aufrechtzuerhalten, als eine Art Trauerarbeit?​

KUBRICK Ja, das hilft eine ganz Menge. „Trauerarbeit“ ist ein gutes Wort – aber es ist mehr als das. Es ist eine Art Mission für mich, falsche Vorstellungen, die sich viele von ihm machen, zurecht zu rücken. Eines Tages wird niemand mehr da sein, der ihn erlebt und gekannt hat – und es gibt immer Leute, die ihm etwas andichten. Das kann ich hoffentlich korrigieren.​

Termin: „Eyes Wide Shut“ eröffnet die „Kubrick Komplett“-Retrospektive im Saarbrücker Filmhaus am Freitag, 26. Juli. Ab 18 Uhr gibt es ein ausführliches Gespräch mit Katharina Kubrick, Kubricks Nachlass-Archivar Richard Daniels und Filmhaus-Leiter Nils Daniel Peiler. Danach läuft der Film in der englischen Originalfassung.

Das gesamte Programm der Retrospektive:  https://filmhaus.saarbruecken.de
Die Seite von Katharina Kubrick: https://www.kubrickart.com/

Regisseur Manfred „Manny“ Kirchheimer ist gestorben

Manfred Kirchheimer, der New Yorker Filmemacher aus Saarbrücken, ist mit 93 Jahren gestorben. Foto: Stadt Saarbrücken

Manfred Kirchheimer, der New Yorker Filmemacher aus Saarbrücken, ist mit 93 Jahren gestorben. Foto: Stadt Saarbrücken

 

Filmemacher war er, Dokumentarist, Chronist seiner Wahlheimat New York – und Ehrenbürger seiner alten Heimatstadt Saarbrücken. Deren Flaggen am Rathaus St. Johann wehen auf halbmast, denn Manfred Kirchheimer ist gestorben – am 16. Juli in New York, wie die Stadt Saarbrücken mitteilt. „Manny“ Kirchheimer wurde 93 Jahre alt; die britische Tageszeitung „Guardian“ attestierte ihm eine „endlose Neugier“ und nannte ihn „den großartigsten Dokumentarfilmer, von dem Sie möglicherweise noch nie gehört haben“.​

„Echtes Daarler Knießje“​

1931 im Saarbrücker Stadtteil St. Arnual geboren, war er ein „echtes Daarler Knießje“, wie er in einem Interview sagte. Vater Berthold Kirchheimer ist damals Chef-Dekorateur und Werbeleiter beim Kaufhaus E.Weil Söhne, nebenher zeichnet er Karikaturen für die „Saarbrücker Zeitung“. 1936, ein Jahr nach der „Saarabstimmung“, bei der die Mehrheit des Saarlandes für ein „heim ins Reich“ votiert, emigriert die jüdische Familie Kirchheimer nach New York. Dort wächst Manfred Kirchheimer auf, studiert am City College, interessiert sich für Film und lernt den deutschen Dadaisten und Experimentalfilmer Hans Richter kennen. Der macht ihm die Lage klar: „Möglichkeiten beim Film gibt es viele – aber Jobs gibt es keine.“​ Kirchheimer lässt sich nicht entmutigen, arbeitet für große TV-Sender, mal als Regisseur, mal als Cutter, mal als Kameramann, oft als alles zusammen; zugleich dreht er unabhängig eigene Dokumentarfilme, mit denen er nach eigener Aussage kein Geld verdient – über New York, über das Arbeitsleben der Stadt, Architektur, Kunst, Rassismus, Einwanderung. Als Filmdozent arbeitet er später ebenfalls, dann wird er Professor an der New Yorker „School of Visual Arts“.​

Nach 42 Jahren wieder in Saarbrücken​

Die alte Heimat Saarbrücken ist weit weg. Doch 1978, 42 Jahre nach der Emigration als kleines Kind, nimmt Kirchheimer Kontakt zu ihr auf: Bei der Mannheimer Filmwoche zeigt er seinen Kurzspielfilm „Short circuit“ und legt Michael Beckert, damals Filmredakteur der Saarbrücker Zeitung, eine kleine Notiz in dessen Pressefach: „Ich bin aus Saarbrücken – M. Kirchheimer“. Beckert kann Kirchheimer überreden, auf seinem Weg zum Luxemburger Flughafen in seiner Geburtsstadt Halt zu machen, für immerhin zwei Stunden. „Zeit genug, ihm das einstige Elternhaus in der Schmollerstrasse zu zeigen“, so schildert es Beckert Jahrzehnte später in seiner Ehrenbürger-Laudatio, „ihn auf den Rotenbühl und durch St. Arnual zu führen, wo er im damaligen Heiliggeist-Krankenhaus zur Welt kam“.​

Interview: Regisseur Christian Schwochow Ehrengast des Ophüls-Festivals 

Ehrengast aus Übersee​

1987 stößt Beckert eine achtteilige Kirchheimer-Retrospektive in der Camera an der Berliner Promenade an. Kinoleiter ist damals Ophüls-Festivalkopf Albrecht Stuby, der Kirchheimer 1988 in die Ophüls-Jury und 1989 als Kurator einer eigenen Reihe einlädt: Ab da reist der New Yorker regelmäßig im Januar nach Saarbrücken, um Filme seiner Studentinnen und Studenten zu zeigen, er wird so etwas wie ein Ehrengast aus Übersee. 2003 erhält er den „Filmhaus Ehrenaward“, 2005 die Ehrenplakette der Stadt Saarbrücken. Seine offizielle Rolle bei Ophüls endet aber 2016, als das Festival die New Yorker Reihe einstellt und den Schwerpunkt lieber auf europäische Filmhochschulen legt. International genießt er weiterhin großes Renommee, das „Museum of Modern Art“ zeigt 2017 eine Retrospektive seiner Arbeiten; die Stadt Saarbrücken vergibt 2021 ihre höchste Ehre – sie ernennt Kirchheimer zum Ehrenbürger.​

„Fuck it! Ich werde freier und freier“​

Kirchheimer bleibt auch mit um die 90 sehr produktiv, stellt während des Lockdowns drei weitere Dokumentarfilme fertig. Besondere Aufmerksamkeit erregt das New-York-Porträt „Free Time“, das er aus filmischen Momenten zusammenstellt, die er zwischen 1958 und 1960 aufgenommen hat. Der Film eröffnet ein Londoner Filmfestival, und in einem begleitenden Interview mit dem „Guardian“ bringt Kirchheimer seine Arbeitsweise und seine Unabhängigkeit schön auf den Punkt: „Ich bin 90 Jahre alt. Ich habe eine Filmschnitt-Anlage in meinem Apartment. Und ich habe ein großes Apartment. Filmische Trends sind mir egal. Fuck it! Ich werde freier und freier.“​

„Saarbrücken eine zweite Chance gegeben“​

Zu seinem Tod teilt nun die Stadt Saarbrücken mit: „Obwohl er als Kind vor dem Terror des Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen musste, hat er seiner Heimatstadt Saarbrücken eine zweite Chance gegeben“, schreibt Saarbrückens Oberbürgermeister Uwe Conradt (CDU), „er hat wieder eine starke Verbindung zu ihr aufgebaut und durch sein wichtiges Mitwirken die Landeshauptstadt als Filmstadt gestärkt“. An diese Verdienste „werden wir uns auch zukünftig in Dankbarkeit erinnern“.​

„Die Gleichung ihres Lebens“: die Pantoffeln und die Primzahlen

Szene aus "Die Gleichung ihres Lebens". Erst Konkurrenz, dann eine vorsichtige Zusammenarbeit: Marguerite (Ella Rumpf) und Lucas (Julien Frison) nehmen es mit „Goldbachs Vermutung“ auf. ⇥Foto: Weltkino
Erst Konkurrenz, dann eine vorsichtige Zusammenarbeit: Marguerite (Ella Rumpf) und Lucas (Julien Frison) nehmen es mit „Goldbachs Vermutung“ auf.    Foto: Weltkino

Mathematikerinnen und Mathematiker mögen kurz weghören beziehungsweise -lesen: Was um Himmels Willen ist die „Goldbachsche Vermutung“? Was wie ein Buchtitel im „Literarischen Quartett“ klingt, ist ein mathematisches Problem – eine bisher unbewiesene Vermutung des Mathematikers Christian Goldbach aus dem 18. Jahrhundert. Um Zahlentheorie geht es, um Primzahlen, und Goldbachs Theorie steht im Zentrum des Films „Die Gleichung ihres Lebens“.

In Pantoffeln in der Hochschule

Was gut ist: Mehr muss man im Kino zu Goldbach gar nicht wissen. Die Mathematikerin Marguerite jedenfalls beißt sich daran sozusagen die Zähne aus. Die Mittzwanzigerin ist Doktorandin an der Elitehochschule „École normale supérieure“ in Paris, durch das sie in Hausschuhen stapft – so sehr fühlt sie sich in der Mathematik zu Hause und so wenig interessiert sie sich dafür, ob ihre Pantoffeln jemand belächeln könnte. Sollte jemand darüber einen Scherz machen, würde sie ihn wohl wenig würdigen, denn Humor ist nicht ihre stärkste Seite.

Jahre der Forschung für die Katz

Doch dieses gewollt monothematische Leben kommt aus dem Tritt, als Marguerite den Stand ihrer Forschungen in einem Kolloquium vorstellt. Ein anderer Schützling ihres Doktorvaters weist ihr, mit einer gewissen Süffisanz, einen grundlegenden Theoriefehler nach – Jahre der Forschung waren also für die Katz. Marguerite reagiert mit komplettem Rückzug: Sie verlässt Hörsaal und Institut, mit Mathematik und dem konkurrenzharten Wissenschaftsbetrieb will sie nichts mehr zu tun haben. Aber – was nun?

Szene aus "Die Gleichung ihres Lebens": Marguerite (Ella Rumpf) und ihre Doktorvater Laurent Werner (Jean-Pierre Darroussin).

Marguerite (Ella Rumpf) und ihre Doktorvater Laurent Werner (Jean-Pierre Darroussin). Foto: Weltkino

„Zwischen uns das Leben“ mit Alba Rohrwacher und Guillaume Canet

„Die Gleichung ihres Lebens“ (der Originaltitel „Le théorème de Marguerite“ klingt etwas weniger melodramatisch) ist eine Kino-Perle; auch dadurch, was die Regisseurin und Co-Autorin Anna Novion unterlässt, welchen Klischees und filmischen Formeln sie aus dem Weg geht, wenn sie die etwas ungelenke Mathematikerin in das nicht-akademische Leben schickt. Wir begleiten sie in Clubs und auch ins Bett einer Zufallsbekanntschaft – was zu einer witzigen Szene führt, die einiges über Marguerite aussagt. Das hätte nun eine dramatische Selbstfindungsgeschichte werden können, mit großer Krise, dem Wiederaufrappeln und einem späten Triumph. Doch Novion geht es, auch wenn die Eckpunkte des Plots jetzt nicht allzu sehr überraschen, um Zwischentöne, um Schattierungen. Marguerite ist nicht der komplette Mathe-Nerd, keine komödienhafte Karikatur, die nun „das wahre Leben“ entdeckt, ihren Körper – und am Film-Ende, man kennt es aus manchen pseudo-feministischen Hollywood-Filmen, als Zeichen der Frauwerdung die Brille abnimmt. Sie bleibt fest auf Marguerites Nase.

Freundschaft mit Tücken

Die Ex-Doktorandin zieht mit einer Tänzerin zusammen und entdeckt per Zufall bei ihrem chinesischen Vermieter eine dringend benötigte Geldquelle: das Spielen von Mah-Jongg, bei dem ihr dank Gedächtnis und mathematischer Expertise die Euro-Scheine der Besiegten büschelweise entgegenfliegen. Nur: Mathematik und Goldbach lassen sie doch nicht los, und so nimmt sie Kontakt zum neuen Liebling ihres Ex-Doktorvaters auf, jenem Kollegen, der ihre Forschung einst im Kolloquium verbal zerlegte. Sie vereinbaren eine Zusammenarbeit, bei der eine Freundschaft mit Tücken beginnt, basierend auf der gemeinsamen Liebe zu Mathematik und Problemlösungen.

Filmbuch „Herzschlagkino“ von Andreas Pflüger

Ein gefühlvoller und famos, mit einigen Zwischentönen gespielter Film ist diese französisch-schweizerische Produktion. Jean-Pierre Darroussins Doktorvater ist ein Mentor, der es bis zu einer gewissen Grenze gut meint, bis eben auch Eitelkeit, Empfindlichkeiten und Karrieredenken ins Spiel kommen; Julien Frisons Konkurrent und dann Vertrauter nimmt man seine spätere Zuneigung ebenso ab wie seine kühle, ambitionsgefütterte Arroganz. Ganz im Zentrum steht die exzellente Ella Rumpf, die für diesen Film den französischen Filmpreis „César“ erhalten hat (und 2022 im Ophüls-Wettbewerbsfilm „Soul of a beast“ dabei war); sie gibt der Figur Marguerite eine etwas kantige Körpersprache mit, eine Entschlossenheit und eine gewisse anrührende Humorlosigkeit – für Pointen hat sie wenig Zeit, die Primzahlen warten.

Zurzeit bundesweit im Kino,
in Saarbrücken in der Camera Zwo.

„Abbé Pierre – Ein Leben für die Menschlichkeit“


Humanist und nebenbei auch Medienstar: Abbé Pierre (Benjamin Lavernhe). Foto: Splendid

Der Franzose Abbé Pierre (1912-2007) hat unermüdlich gegen Armut und Ungerechtigkeit gekämpft. Ein Film zeichnet nun das Leben des „Emmaüs“-Gründers nach.

Die Szene spielt in den 1980ern, wirkt aber ziemlich aktuell: „Immer mehr Menschen sagen: Frankreich den Franzosen“, sagt ein TV-Moderator zu einem weißbärtigen älteren Herrn im Fernsehstudio. „Was wollen die“, fragt der zurück, „Maschinengewehre für unsere Grenzer? Um die Hungernden abzuwehren?“. Und fügt hinzu: „Zu Le Pen habe ich schon zehn Mal gesagt: Halt’s Maul!“. Mit Le Pen ist nicht Marine gemeint, rechtspopulistische Politikerin des „Rassemblement National“, sondern ihr Vater Jean-Marie – damals Vorsitzender des „Front National“, der sich 2018 eben in „Rassemblement National“ umbenannte, auf der Suche nach einem breitenwirksameren und weniger radikal anmutenden Erscheinungsbild.​

Französisches Nationalheiligtum​

Das TV-Interview hat es gegeben, den Mann mit dem weißen Bart und der großväterlichen Aura auch: Abbé Pierre (1912-2007). Katholischer Priester war er, gründete die Wohltätigkeitsorganisation „Emmaüs“, war lebenslanger Aktivist für die Armen, ein französisches Nationalheiligtum. Drei Jahrzehnte lang führte er die Umfrage nach dem beliebtesten Franzosen an (auch wenn Jean-Marie Le Pen wohl nicht für ihn stimmte) – schließlich bat er sich aus, in dieser Liste nicht mehr aufzutauchen.​

„Arroganz ist Alain Delons zweiter Vorname“

Das Leben und die Lebensmission dieses Mannes aus Lyon, der bürgerlich Henri Grouès hieß, hat der Regisseur und Co-Autor Frédéric Tellier nun unter dem Titel „Abbé Pierre – Ein Leben für die Menschlichkeit“ als ganz klassisches „Biopic“ verfilmt: mit hohem Aufwand, mit ausgesuchten Bildern im breiten Cinemascope-Format für die Leinwand und nicht das Fernsehen, mit großen Momenten und viel Gefühl. Die Gefahr dabei: Abbé Pierre ist durch die Arbeit seines Lebens, ob er das nun wollte oder nicht, zu einem Denkmal geworden – wie entgeht man da dem filmischen Pinseln eines Heiligenbildes, das bunt, aber langweilig zu werden droht? Tellier umgeht das Risiko (meistens), indem er zwar nicht Genre oder Hauptfigur gegen den Strich bürstet; aber er zeigt Abbé Pierre immer wieder als Zweifler, als Haderer, oft als Sturkopf, der er sein muss, um etwas zu bewegen – angesichts der Natur des Menschen, der lieber besitzt als teilt, der sich selbst stärker im Blick hat als andere.​

 

Abbé Pierre (Benjamin Lavernhe) und Lucie Coutaz (Emmanuelle Bercot) weihen ihr erstes Armenhaus ein.

Abbé Pierre (Benjamin Lavernhe) und Lucie Coutaz (Emmanuelle Bercot) weihen ihr erstes Armenhaus ein. Foto: Splendid

„Hinterlasse ich eine bessere Welt?“, fragt sich der altgewordene Abbé zu Beginn, beschienen von den ersten Strahlen einer aufgehenden Sonne. Von dort springt der Film zurück ins Jahr 1937, um ab da chronologisch zu erzählen. Der Abbé ist noch kein Abbé, sondern Kapuziner in einem Kloster, so nasskalt, dass die karge Suppe dampft wie ein Kraftwerkschornstein. Kein Raumklima für den Zerbrechlichen, der regelmäßig kollabiert. „Du bist nicht gemacht für die Kapuziner“, sagt man ihm und rät, er solle am besten „ein kleiner Priester in einem ruhigen Viertel“ werden. Doch dazu kommt es nicht, er wird eingezogen, und später gibt es keine ruhigen Viertel mehr, auch nicht im Frankreich des Vichy-Regimes. In Grenoble lauscht er, scheinbar zustimmend, Kirchenreden über die „deutschen Brüder“ und führt nach Dienstschluss Jüdinnen, Juden und andere Verfolgte über die Grenze in die Schweiz; für von Deutschen fast zu Tode Gefolterte kann er nichts weiter tun, als Zyankali-Kapseln mitzubringen.​

Findige Nonne aus der Résistance​

Diese Machtlosigkeit zehrt an ihm und ist auch der Antrieb zu seiner Arbeit nach 1945, bei der ihm die findige Nonne Lucie Coutaz aus der gemeinsamen Resistance-Zeit hilft. Sie wird zur platonischen Lebensbegleiterin und im Film so etwas wie ein gutes Gewissen; der Film schildert, wie die beiden das erste Armenhaus einrichten, zur Finanzierung die „Emmaüs“-Läden gründen und wie der Abbé im brutalen Pariser Winter 1953/54 eine flammende Rede im Radio hält, um auf die erfrierenden Obdachlosen aufmerksam zu machen; das ist der dramatische Höhepunkt von „Abbé Pierre“ – Regisseur Tellier teilt für seine Montage die Leinwand, die ansonsten zurückhaltende Musik von Bryce Dessner verströmt einiges Pathos und erinnert ein wenig an Hans Zimmers „Inception“. Zu viel des Guten? Oder genau richtig? Geschmackssache.​

Der Humanist mit der Baskenmütze​

Ab da nimmt das Erzähltempo zu, es geht zügig durch das Leben der beiden, die einige Reibereien mit den Unterstützern überstehen müssen, denen die Politik des Abbés bisweilen zu links klingt, nicht zuletzt, wenn er Verständnis aufbringt für französische Kolonien, die keine Kolonien sein wollen. Da wird einiges angerissen, aber nicht ausführlich erklärt – es schadet nicht, sich vor dem Film kurz über diesen prallen Lebenslauf zu informieren. Hat dieser Humanist mit der Baskenmütze die Welt nun ein wenig besser gemacht? „Ich bin gescheitert“, sagt er im Film am Ende seines Lebens im geisterhaften Dialog mit seinem vor Jahrzehnten umgekommenen Bruder. Ihm zustimmen will man da natürlich nicht – aber es ist gut und naheliegend, dass der Film mit realen Bildern aus dem heutigen Paris endet, mit Armut, Not und Obdachlosen, an denen man ja gerne vorbeischaut.​

Der Film läuft aktuell bundesweit, in Saarbrücken ist er in der Camera Zwo zu sehen.

„Jenseits der blauen Grenze“ – Interview mit Regisseurin Sarah Neumann

Szene aus "Jenseits der blauen Grenze": Lena Urzendowsky als DDR-Schwimmerin Hanna - Sportlerin für ein Land, aus dem sie fliehen will. Foto: Wood Water Films

Lena Urzendowsky als DDR-Schwimmerin Hanna – Sportlerin für ein Land, aus dem sie fliehen will. Foto: Wood Water Films

Sommer 1989 in der DDR. Die junge Schwimmerin Hanna (Lena Urzendowsky) zeigt Talent und wird zur Olympia-Hoffnung der DDR. Ihr bester Freund Andreas (Willi Geitmann) wird von der Staatsmacht drangsaliert und will fliehen – durch die Ostsee. Dazu braucht er Hannas Hilfe. „Jenseits der blauen Grenze“ über Enge, Hoffnung und Freundschaft war einer der stärksten Produktionen des Spielfilmwettbewerbs beim Ophüls-Festival 2024, schnörkellos erzählt und sehr berührend – er gewann den Publikumspreis Spielfilm und den Preis der Ökumenischen Jury. Regie führte Sarah Neumann, die auch das Drehbuch nach dem Roman von Dorit Linke geschrieben hat. Wir haben mit Neumann gesprochen, die an der Filmakademie in Ludwigsburg Regie studiert.

Der Film ist am Dienstag, 2. Juli, ab 19 Uhr im Kino Achteinhalb zu sehen.

 

Was hat sie an der Romanvorlage besonders angesprochen?

NEUMANN Ich habe den Roman 2015 zum ersten Mal gelesen. Mich hat auf Anhieb angesprochen, dass er so filmisch geschrieben ist. Besonders die Fluchtszenen sind so eindrucksvoll beschrieben, dass ich mir dachte: „Das habe ich im deutschen Kino noch nicht gesehen – das würde ich gern einmal auf der Kinoleinwand sehen“.

Wie sind Sie mit der Buchvorlage umgegangen, was haben Sie verändert?

NEUMANN Ich habe immer versucht, möglichst nahe am Roman zu bleiben. Doch ein paar Figuren und Situationen mussten leider gestrichen werden, weil es sonst mindestens drei Filme geworden wären. Die Grundaussage des Romans ist aber unverändert geblieben.

Wie schnell war klar, dass Lena Urzendowsky Hanna spielen würde?

NEUMANN Nachdem wir ihr Casting-Video gesehen haben, war für uns alle klar, dass sie die Hanna spielen muss. Im Konstellations-Casting mit Willi Geitmann und Jannis Veihelmann hat sich das nochmal hundertprozentig bestätigt, weil die drei sofort wunderbar miteinander harmoniert haben.

Musste Urzendowsky für die Schwimmszenen ein besonderes Training absolvieren?

NEUMANN Lena hat ein Jahr lang trainiert, um möglichst nahe an die Statur einer Schwimmerin zu kommen. Sie hatte einen Schwimmtrainer, mit dem sie regelmäßig trainiert hat, damit ihre Schwimmbewegungen möglichst authentisch und professionell aussehen.

 

Fototermin beim Ophüls-Festival im Januar, von links: Darsteller Jannis Veihelmann, Regisseurin/Autorin Sarah Neumann. Darstellerin Lena Urzendowsky und Schauspieler Willi geitmann. Foto: Max Kullmann / Filmfestival Max Ophüls Preis

Fototermin beim Ophüls-Festival im Januar, von links: Darsteller Jannis Veihelmann, Regisseurin/Autorin Sarah Neumann. Darstellerin Lena Urzendowsky und Schauspieler Willi Geitmann.   Foto: Max Kullmann / Filmfestival Max Ophüls Preis

Wie war es, im Meer zu drehen? Schwierig – und vor allem kalt?

NEUMANN Wir haben alle Fluchtszenen in der Ostsee gedreht, was ziemlich hart war, weil das Wetter dort unberechenbar ist. Wir sind jeden Tag mit einem Boot ungefähr 20 Minuten weit aufs Meer hinausgefahren. Von da mussten Lena und Willi dann ins Wasser. Und es war, trotz Sommer, wirklich ziemlich kalt.

Wie viele Drehtage hatten Sie?

NEUMANN Wir hatten 28 Drehtage und das Budget eines Abschlussfilms, was für einen historischen Film eigentlich viel zu wenig ist. Aber wir haben unserer tollen Szenenbildnerin Lorena Hahn und Team sowie unserer tollen Maskenbildnerin Mara Laibacher mit Team zu verdanken, dass der Film so authentisch wie möglich ist. Sie haben mit unseren wenigen finanziellen Mitteln die DDR auf der Leinwand zum Leben erweckt.

Interview mit Dominik Graf

Sie sind ein Jahr vor dem Mauerfall in Görlitz geboren. War Film auch die Möglichkeit, sozusagen die DDR-Historie noch einmal mehr für sich selbst zu erforschen?

NEUMANN Ich gehöre zu einer Generation, die sich nun, 35 Jahre nach Mauerfall, noch einmal neu mit der DDR-Geschichte auseinandersetzt. Nachdem es eine Filmwelle gegeben hatte, die alles sehr auf die Stasi-Thematik reduziert hat, und es eine „Ostalgie“-Welle gab, die alles sehr verharmlost und ins Lächerliche gezogen hat, ist es an der Zeit, von der DDR und allen Menschen, die dort gelebt haben, ambivalenter zu erzählen. Und es gibt ganz viele Geschichten, die noch nie erzählt wurden.

Haben Sie Favoriten, was das Behandeln der DDR im Kino angeht?

NEUMANN Ich finde „Gundermann“ einen wirklich guten Film, der eben auch diese Ambivalenz hat, die so wichtig ist, wenn es um die DDR geht. Ansonsten hat mich der Defa-Film „Das Mädchen aus dem Fahrstuhl“ unheimlich inspiriert.

Der wunderbar lapidare Dialog über die DDR in Ihrem Film: „Ist es wirklich so schlimm?“ – „Ja“ – ist der auch so im Buch?

NEUMANN Ja, ein zentraler Dialog, der auch im Roman ist.

Der Film hatte beim Festival gleich zwei Schauspiel-Nominierungen – wie lange haben Sie gecastet?

NEUMANN Dass beide nominiert sind, hat uns unendlich gefreut. Für die Rolle von Andreas haben wir in Hamburg und Berlin insgesamt etwa um die 15 tolle junge Schauspieler eingeladen. Aber als wir Willi Geitmann in Berlin gesehen haben, waren wir alle uns auf Anhieb einig, dass er den Andreas spielen muss. Bei der Rolle des Jensi war es nicht einfach, Schauspieler zu finden, die Charme haben und einen natürlichen sächsischen Akzent. Dass wir Jannis Veihelmann gefunden haben, ist ein großes Geschenk.

Dienstag, 2. Juli, 19 Uhr im Kino Achteinhalb in Saarbrücken,
im Rahmen der Filmtage der Arbeitskammer.

„Der regelmäßige Gang ins Kino muss wieder gelernt werden.“ Interview mit Nils Daniel Peiler, dem neuen Leiter des Filmhaus Saarbrücken

Nils Daniel Peiler an seinem neuen Arbeitsplatz, dem Saarbrücker Filmhaus. 1988 in Saarbrücken geboren, hat Peiler Germanistik und Bildwissenschaften der Künste in Saarbrücken sowie Film- und Medienwissenschaften in Frankfurt, Paris und Amsterdam studiert. Promoviert hat er über die Rezeptionsgeschichte von Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“. Foto: Oliver Dietze

Nils Daniel Peiler an seinem neuen Arbeitsplatz, dem Saarbrücker Filmhaus. 1988 in Saarbrücken geboren, hat Peiler Germanistik und Bildwissenschaften der Künste in Saarbrücken sowie Film- und Medienwissenschaften in Frankfurt, Paris und Amsterdam studiert. Promoviert hat er über die Rezeptionsgeschichte von Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“.     Foto: Oliver Dietze

 

Nils Daniel Peiler ist neuer Leiter des Saarbrücker Filmhauses. Der Filmwissenschaftler aus Saarbrücken, der zuletzt einige Jahre Kurator für die Kinemathek Hamburg und deren Metropolis Kino war, ist in der hiesigen Szene gut bekannt – im Kino Achteinhalb war er für einige denkwürdige Reihen und Veranstaltungen verantwortlich. Was hat er im Filmhaus vor?

Im Filmhaus haben Sie sich als Kind und Jugendlicher viele Filme angeschaut, jetzt sind Sie der Leiter des Kinos – ein merkwürdiges Gefühl?​

PEILER Ein sehr schönes. Wenn ich durch die Räume gehe oder in den Kinosaal, fallen mir die vielen Filme ein, die ich hier gesehen habe.​

Was war der erste im Filmhaus?​

PEILER Disneys „Alice im Wunderland“, da war ich sechs oder sieben Jahre alt. Meine Mutter nahm mich mit ins Kino, wofür ich ihr auf ewig dankbar bin. Eigentlich sollte „Bambi“ laufen, dann wurde das Programm geändert, „Alice im Wunderland“ lief – und bescherte mir nachhaltige Albträume. Das hat mich aber nicht davon abgehalten, weiter ins Kino zu gehen. Als Jugendlicher und junger Erwachsener bin ich weiter viel ins Filmhaus, habe jede Menge gesehen. Unvergessen ist zum Beispiel „Wie im Himmel“, der größte Erfolg im Filmhaus, der hier über zwei Jahre lang ununterbrochen lief. Das ist auch der Film, über den ich meinen ersten Kinotext geschrieben habe. „Wie im Himmel“ wird hier bald nochmal laufen, viele Kinogängerinnen und Kinogänger haben den Titel in das Filmwunschbuch geschrieben, das jetzt an der Kasse ausliegt.​

Wie es dem Kino Achteinhalb geht

Wie kamen Sie auf die Idee des Wunschbuchs?​

PEILER Die habe ich mir vom „Prince Charles Cinema“ in London abgeschaut. Dort gibt es im Kinofoyer eine große Tafel, auf die das Publikum mit Kreide seine Wünsche schreibt. Jetzt haben wir im Filmhaus auch eine Tafel und ein Buch im Foyer, die bieten eine schöne Interaktion mit dem Publikum – es wird eine neue Sektion mit Publikumswünschen geben.​

Zuletzt waren Sie Kurator bei der Kinemathek Hamburg – haben Sie lange überlegt, sich auf die Stelle in Saarbrücken zu bewerben?​

PEILER Überhaupt nicht. Und nach dem Vorstellungsgespräch ging alles sehr schnell. Meine Vorgängerin Christel Drawer hat mich eingearbeitet und noch einige Renovierungsarbeiten angestoßen, unter anderem die der Schaukästen, da bin ich ihr sehr dankbar. Im Vorstellungsgespräch war schnell klargeworden, dass es eine große Schnittmenge gibt zwischen dem, was die Stadt sich vorstellt, wie das Haus noch mal neu aufgestellt werden kann, und dem, was ich an Ideen mitbringe.​

Welche sind das – was wird sich ändern im Filmhaus?​

PEILER Es wird mehr Veranstaltungen mit Gästen geben, mehr Diskussionen, Einführungen, Podiumsgespräche. Wenn eine Regisseurin, ein Regisseur kommt, gibt es immer viel Zuspruch. Ich wünsche mir eine filmische Vielfalt für ein breites Publikum, das sich im Filmhaus einbringen soll. Ich begrüße das Publikum ja gerne persönlich, um den Leuten zu sagen, dass ich mich freue, dass sie da sind – das ist aufrichtig gemeint und keine hohle Phrase. Ich bin froh, wenn ich angesprochen werde, wenn Anrufe oder Mails kommen mit Wünschen und mit Rückmeldungen. Externe Ideen sind wichtig, nur dann kann das Programm bunt und vielfältig werden. Ich will es ja nicht alleine bestimmen.​

Das Saarbrücker Kinomagazin „35 Millimeter“

Aber Etabliertes wird bleiben?​

PEILER Natürlich, unsere Reihe „Filmreif“ zum Beispiel: Alle zwei Wochen gibt es am Montagnachmittag ab 15 Uhr einen Film, dazu Kaffee und Kuchen, für insgesamt fünf Euro. Zwischen 80 und 120 Personen kommen da regelmäßig zu uns, sie verabreden sich Wochen vorher, sitzen zusammen, reden und reservieren schon mal fürs nächste Mal. Das wird auf jeden Fall weitergehen.​

Wird es thematische Reihen geben, auch Retrospektiven?​

PEILER Ja – Stanley Kubricks Tod jährt sich 2024 zum 25. Mal, an seinem Geburtstag am 26. Juli beginnen wir eine vollständige Retrospektive mit allen Kubrick-Filmen. Wir starten mit seinem letzten Film „Eyes Wide Shut“ von 1999, dann geht es Woche für Woche mit 13 Produktionen zurück bis hin zu seinen frühen Kurzfilmen. Wir werden die Werke sowohl im Original, mit und ohne Untertitel, als auch synchronisiert zeigen. Und zur Eröffnung beehrt uns Tochter Katharina Kubrick aus London persönlich.​

Nils Daniel Peiler im Kino des Filmhauses. Über die Schulter schauen ihm die in Saarbrücken geborenen Regisseure Max Ophüls (1902-1957, links) und Wolfgang Staudte (1906-1984). ⇥Foto: Oliver Dietze

Über die Schulter schauen ihm die in Saarbrücken geborenen Regisseure Max Ophüls (1902-1957, links) und Wolfgang Staudte (1906-1984).    Foto: Oliver Dietze

Sie haben über Kubricks „2001“ promoviert und im Kino Achteinhalb mal eine Vorführung mit durchgehendem Live-Kommentar gemacht. Wird es im Filmhaus Ähnliches geben?​

PEILER Ich gebe zu jedem Film der Kubrick-Retro eine kurze Einführung. So eine ausladende Retrospektive im Filmhaus ist für uns natürlich ein Experiment, von dem ich hoffe, dass das Publikum es annimmt. Vielleicht interessieren sich auch Menschen in der Großregion dafür und kommen mal nach Saarbrücken. Abgesehen von Kubrick wird es eine Reihe zum 40. Todestag des in Saarbrücken geborenen Regisseurs Wolfgang Staudte geben, in Zusammenarbeit mit der Saarbrücker Staudte-Gesellschaft. Auch mit dem Filmfestival Max Ophüls Preis wird es mehr Zusammenarbeit geben.​

Hoffen Sie auch auf mehr junges Publikum?​

PEILER Ja, da gibt es noch Luft nach oben. Ich würde das Filmhaus gerne öffnen für alternative Formate, etwa für mehr Kurz- oder Hochschul-Abschlussfilme. Vor drei Wochen habe ich ganz zufällig den Filmemacher Axel Ranisch vor dem Filmhaus getroffen, der gerade Gastdozent ist an der Hochschule der Bildenden Künste Saar (HBK). Im Sommer, wenn er das nächste Mal wieder mit seiner Filmklasse hier in Saarbrücken beschäftigt ist, machen wir zusammen eine Werkschau und zeigen in seiner Anwesenheit seinen persönlichen Lieblingsfilm. Wir wollen auch verschiedene Gewerke und Berufswege filmisch vorstellen – Regie, Schnitt, Produktion und so weiter. Generell versuche ich, ein neues Publikum zu gewinnen – aber auch Menschen zurück zu gewinnen, die möglicherweise lange nicht mehr im Kino waren.​

Der Plakatflohmarkt am Filmhaus

Vielleicht auch durch Repertoire-Pflege und verdiente Klassiker?​

PEILER Die haben im Haus ja eine gute Tradition, auch wenn das in letzter Zeit zurückgegangen ist. Ich werde sie noch mal zurückbringen – darin haben mich auch viele Rückmeldungen im Wunschbuch und auf der Wunschtafel bestärkt. Stummfilme mit Live-Begleitung sind möglich, wir haben ja auch ein Klavier hier.​

Wie groß ist das Team des Filmhauses?​

PEILER Klein. Wir sind aktuell nur zu dritt, aber sehr engagiert. Die beiden Festangestellten Herr Chelly und Herr Seidel sind seit über 20 Jahren am Haus, haben eine Passion fürs Kino und kennen auch das Saarbrücker Publikum, was für unsere Arbeit sehr wichtig ist.​

Wie ist Ihr Verhältnis zu den anderen Kinos in Saarbrücken, vor allem zur Camera Zwo und dem Kino Achteinhalb, mit denen es die meisten filmischen Berührungspunkte geben dürfte – und auch mögliche Überschneidungen?​

PEILER Mir ist ganz wichtig: Das Filmhaus soll keine Konkurrenz sein, ich will eine gute Zusammenarbeit, Austausch und Kooperation. Wir haben uns auch schon getroffen und miteinander geredet. Wir haben ein mögliches Publikum, dass wir teilen. Aber jedes Haus besitzt sein eigenes Profil. Das des Filmhauses will ich jetzt aktualisieren. Wir werden zwar Klassiker und Reihen bieten, wollen aber in jedem Fall ein Startkino bleiben, in dem Filme zu ihrem Bundesstart anlaufen. Natürlich gehe ich davon aus, dass die Camera Zwo weiterhin die großen Arthouse-Kinostarts macht. Aber es gibt auch mittlere bis kleinere Verleihe, die mit ihren Filmen bislang gar keinen Start in Saarbrücken bekommen haben. Da sehe ich für uns im Filmhaus einiges Potenzial. Verleiher haben natürlich ein großes Interesse, ihre Titel auch in Saarbrücken zu starten. Mehr Vielfalt also! Wir haben mit 125 Plätzen einen relativ großen Saal – wenn wir auch leider nicht mehr regelmäßig den früheren zweiten Saal bespielen, den „Schauplatz“, wo wir den Film dann weiter zeigen könnten, während im großen Saal ein neuer Film startet.​

Was wünscht sich die Stadt von Ihnen kommerziell? Gibt es Vorgaben und Zahlen?​

PEILER Ich habe keine konkrete Vorgabe bekommen, was die Auslastung betrifft oder welche Marge ich erwirtschaften soll. Ich bin sehr froh, dass die Stadt mich erstmal ankommen und ausprobieren lässt. Es ist natürlich eine komfortable Situation, dass Saarbrücken sich so ein tolles Haus leistet, ein kommunales Kino in städtischer Trägerschaft. Ich habe in den ersten Wochen hier schon sehr viel Aufbruchsstimmung gespürt – auch hier direkt in der Nachbarschaft in der Mainzer Straße.​

Aber auf die Zuschauerzahlen müssen Sie schon schauen, oder?​

PEILER Natürlich – ich will ja auch kein Kino in einem fast leeren Saal zeigen. Aber grundsätzlich freue ich mich, dass ich hier eine Grundfinanzierung habe, mit der ich arbeiten kann. Das sind andere Voraussetzungen, als wenn wir ein kommerzieller Spielbetrieb wären. Mein Ansatz als freier Kurator war über die Jahre eine Art Mischkalkulation: Kleinere, vielleicht weniger populäre, aber wichtige Programme sollen von populäreren refinanziert werden.​

Nostalgie: Kino-Anzeigen von 1977

Wird sich an den Eintrittspreisen etwas ändern?​

PEILER Nein. Die Eintrittspreise sind mit 7,50 Euro, plus Aufschlag bei Überlänge, moderat und werden das auch bleiben. Montags und dienstags kostet es für alle sechs Euro. „Filmreif“ kostet wie gesagt fünf Euro mit Kaffee und Kuchen, durch die Unterstützung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Die niedrigen Preise sind wichtig, denn wir sind ja kein kommerzielles Kino, sondern ein öffentlicher Ort, an dem Menschen zusammenkommen und miteinander in Kontakt kommen sollen. Das ist unsere Aufgabe als städtische Einrichtung. Da müssen wir sozialverträglich und finanziell niederschwellig sein. Wir werden immer auch Veranstaltungen bei freiem Eintritt anbieten, wie Anfang April etwa den Abend mit den Kurzfilmen des in Saarbrücken geborenen und oscarprämierten Animationsfilmers Frédéric Back. In der aktuellen wirtschaftlichen Situation denken viele Menschen schon zwei- oder dreimal darüber nach, ob sie ins Kino gehen. Vielleicht zeigt da auch die Pandemie ihre Wirkung. Früher war der regelmäßige Gang ins Kino eine Selbstverständlichkeit. Das muss wieder gelernt werden – auch das ist Teil unserer Aufgabe.​

„Only the river flows“ von Wei Shujun – Mord, Melancholie und mehr Regen als in „Sieben“

Szene aus "Only the river flows" mit Zhu Yilong als Ermittler.

Ermittler Ma Zhe (Zhu Yilong) kommt an seine Grenzen. Foto: Lian Ray Pictures / Rapid Eye Movies

 

Vorsicht – die nächste Tür führt ins Nichts. Oder zumindest im freien Fall vom vierten Stock auf den Asphalt einer Baustelle. Denn das Haus, in dem zu Beginn von „Only the river flows“ Kinder eine Art „Räuber und Gendarm“ spielen, ist nur noch zur Hälfte vorhanden; ein Bagger frisst an der Fassade, auf die es unablässig herabregnet. Mit diesem Bild beginnt der chinesische Regisseur Wei Shujun seinen düsteren, melancholisch getönten Film, dessen Welt des Jahres 1995 im Umbruch ist: Das „alte“ China ist noch da, doch es wandelt sich, wird langsam verdrängt von einer boomenden Moderne – und diese Verwandlung hat ihre Risiken.​

Mehr als ein Krimi

Vordergründig ist der Film, beim Festival in Cannes uraufgeführt, ein klassischer Krimi: Ein Mensch wird ermordet, die Polizei ermittelt. Doch Indiziensammeln und Verhöre sind nur das grobe Handlungsgerüst; zugleich erzählt „Only the river flows“ von einem Ermittler, dessen persönliche Welt in die Finsternis abzugleiten droht, und von einem China, wo der Einzelne durch den ausgerufenen Kollektivgedanken unter Druck steht.​ Zu Beginn ist Inspektor Ma Zhe ein lässiger Chef-Ermittler, Liebling seines Vorgesetzten, ein ruhiger Profi; als eine alte Dame an einem Fluss erschlagen wird, macht er sich an die Arbeit. Ein Hauptverdächtiger ist schnell gefunden: ein geistig zurückgebliebener, offensichtlich stummer Mann, den die verwitwete Frau einst adoptierte.​

Die „von ganz oben“ wollen schnellen Erfolg​

Ma Zhes Vorgesetzter hält den Fall für gelöst und ist begeistert, scheint ihm doch nichts wichtiger zu sein als Prestige für seine Dienststelle von ganz oben, die sich einen schnellen Fahndungserfolg wünscht. Doch der Inspektor ist nicht gänzlich überzeugt, ermittelt weiter und findet weitere Menschen, die die Tat beobachtet haben, sich aber nicht der Polizei offenbaren wollen, weil sie Repressalien befürchten – wobei dieses China der Vergangenheit das der Gegenwart spiegelt. Als plötzlich einige dieser Zeugen ermordet werden, scheint das die These vom gewalttätigen „Irren“, wie es im Film heißt, der noch auf freiem Fuß ist, zu stützen – doch Ma Zhe zweifelt, zudem belastet ihn der Fall weit mehr als gedacht. Die Fassade des kühlen Profis scheint eben genau das zu sein – eine Fassade.​

„Die 55 Tage von Peking“ 

„Only the river flows“ ist Film-Noir-Krimi und Psychogramm gleichermaßen, wir folgen dem Ermittler beim Abgleiten in Zweifel, Schwermut, auch Wahn. Sein Privatleben spielt mit hinein – seine Frau ist schwanger, die Wahrscheinlichkeit eines Gendefekts ist höher als üblich. Er denkt an Abtreibung, seine Frau nicht, und in seinem Kopf verbinden sich Bilder von Ultraschalluntersuchungen mit denen der Mordopfer. Zhu Yilong spielt diese Seelenkrise nicht in großen Auftritten, sondern in kleinen Gesten – seine Darstellung ist ein gekonntes „weniger ist mehr“. Regisseur Wei Shujun und Kameramann Chengma platzieren den Film optisch und atmosphärisch in den 1990ern und begehen dabei nicht den beliebten Fehler, eine historische Ausstattung wie frisch gewienert oder entstaubt wirken zu lassen. In den Amtsstuben meint man den Mief der nikotinvergilbten Akten und der regennassen Mäntel zu riechen, ein antik scheinender Diaprojektor braucht einen zarten Klaps, um zu funktionieren. Gefilmt ist das auf heute selten genutztem 16-Millimeter-Material, das eine nostalgische Anmutung mit sich bringt, ein leicht körniges Bild, als sei es Jahrzehnte alt.​

Kritik zu „Evil does not exist“

Zu Beginn des Films ziehen die Ermittler von ihrem alten Gebäude in ein Kino, „weil da sowieso niemand mehr hingeht“, wie es heißt. Von nun an spielen sich die Ermittlungen auf einer Bühne vor einer alten Leinwand ab; vielleicht eine etwas gespreizte Ironisierung, zumal einer von Ma Zhes traumartigen Visionen dann zu einer Art Film-im-Film wird? Mag sein; der Regisseur entgeht nicht immer einer gewissen Gefahr des Prätentiösen, bisweilen wird Beethoven „Mondscheinsonate“ auf der Tonspur etwas überstrapaziert. Aber gegen Ende ist das Filmtheater doch ein schönes Symbol für den Wandel – das Kinoparkett von einst ist nun voller Uniformträger mitsamt Parteipathos, und der Film wird unterschwellig ziemlich politisch. Ma Zhe scheint mit der Geburt seines Kindes wieder eine Art Frieden zu finden – doch der letzte Moment des Films lässt zweifeln.

Only the river flows läuft im Kino Achteinhalb im Original mit Untertiteln:
am Sonntag, 26. Mai; Freitag, 31. Mai; Samstag, 1. Juni.

Die Pantoffeln von Lino Ventura

Die cinephilen Nachbarn: In Frankreich ist der Film „Les Tontons flingueurs“ (bei uns „Mein Onkel, der Gangster“) von 1963 so etwas wie ein Kulturerbe. Und deshalb kann man im Supermarkt an der Grenze jetzt Pantoffeln kaufen, die mit den Gesichtern von Lino Ventura und Bernard Blier geschmückt sind. Formidable.

„Der Kolibri“ von Francesca Archibugi

Szene aus "Der Kolibri". Unerfüllte Liebe: Marco (Pierfrancesco Favino) und Luisa (Bérénice Bejo) bei einem ihrer regelmäßigen Treffen.

Unerfüllte Liebe: Marco (Pierfrancesco Favino) und Luisa (Bérénice Bejo) bei einem ihrer regelmäßigen Treffen. Foto: Enrico de Luigi / MFA

Fast möchte man sich Notizen machen in den ersten Minuten. Wer sind all diese Leute, die durch eine toskanische Villa wuseln, mit ziemlich dünnen Nerven? „Der Kolibri“ mag etwas unübersichtlich beginnen, uns mitten hinein werfen in das Leben einer Familie – doch nach und nach dröselt der Film die Beziehungsfäden auf, bringt uns die Figuren näher und breitet ein großes Lebenstableau auf.​

Dessen Mittelpunkt ist Marco, Spitzname „Kolibri“, war er einst doch so schmächtig („er ist 14 und sieht aus wie zehn“), dass seine dauerstreitenden Eltern ihm eine Hormontherapie aufzwangen. Von dieser Jugend ab begleitet der Film Marco zu seinen letzten Augenblicken (bei dem der Film etwas mit den Altersmasken der Mimen zu kämpfen hat). In den Jahrzehnten dazwischen durchlebt er Momente des höchsten Glücks und die schlimmsten Augenblicke, die man gerade noch überstehen kann.​

Muntere Mischung der Zeitebenen​

Diese Lebenschronik erzählt die Regisseurin Francesca Archibugi dankenswerterweise nicht so, wie es ein schlechterer Film wohl getan hätte. So gibt es keine brave Chronologie oder eingeblendete Orientierungshilfen wie „Rom 1982“ oder „Paris 1995“. Hier werden die Zeitebenen mitunter so munter gemischt wie die Karten eines Pokerspiels (eine Leidenschaft von Marco); kurze Erinnerungen, längere Sequenzen, winzige Momente und Zeitsprünge innerhalb eines Schauplatzes geben den Rhythmus vor, der nicht aus dem Tritt kommt.​

Die Autobiografie von Michael Caine

Marco ist eher der passive Typ, der manchmal aber eine enorme Initiative entwickelt – etwa wenn er glaubt, eine Geistesverwandte, eine Schicksalsgefährtin entdeckt zu haben; – eine Flugbegleiterin, die ebenso wie er im letzten Augenblick nicht in eine Maschine gestiegen ist, die dann abstürzte. Schicksal? Bestimmung? Oder banaler Zufall? Marco jedenfalls lädt sie zum Essen ein – und sie heiraten. Wirklich glücklich wird diese Ehe aber nicht; Marinas bipolare Störung macht das gemeinsame Leben nicht einfacher. Und dann ist da auch eine Gefühlshypothek aus der Jugend: Einst in der Toskana lernte Marco die Französin Luisa kennen. Die große Liebe möglicherweise – aber das Leben kam dazwischen Nach Jahren nehmen sie wieder Kontakt auf und treffen sich regelmäßig, aber platonisch.​

Viel hineingepackt​

Grundlage des Films ist der preisgekrönte Bestseller von Sandro Veronesi; man spürt dass die Drehbuchautoren viel in den Film hineinpacken mussten (oder möglichst wenig aus der Vorlage weglassen wollten). Da gibt es Handlungsstränge, aus denen man jeweils einen eigenen Film hätte zwirbeln können; manches wirkt dann zu knapp abgehandelt – der Erzählstrang etwa über Marinas psychische Krankheit etwa, so dass sie vor allem wie ein dauerüberspanntes Ehemonster wirkt und wenig Mitgefühl erweckt. Im letzten Drittel öffnet sich bei einer Pokerpartie noch ein Handlungskistchen, das man als reizvollen Exkurs empfinden kann oder als überflüssig.​

Porträt „Ennio Morricone – der Maestro“

Jedenfalls tut sich sehr viel in diesen zwei Kinostunden. Fels in der Handlungs-Brandung ist der grandiose italienische Darsteller Pierfrancesco Favino als Marco. Ihm nimmt man die gutmütige Passivität ab, die manchmal in zupackende Initiative eruptiert, wenn es seine Lebenssituation erzwingt; Favino unterlegt seinem Spiel stets eine leichte Melancholie, mit Blick auf einige biografische Katastrophen und auf ein mögliches anderes Leben, wäre die einstige Teenagerliebe haltbarer gewesen. Hätten Marco und Luisa zusammen ein glücklicheres Leben gehabt? Wer kann das schon sagen? Das Leben, auch das gibt uns der Film mit, ist eben unberechenbar, im Schönen wie im Schrecklichen.​

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