Über Film und dieses & jenes, von Tobias Keßler

Kategorie: Kino (Seite 1 von 6)

„Reif für die Insel“ mit Laure Calamy und Olivia Cote

 

Szene aus Kinofilm "Reif für die Insel", mit Laure Calamy (links) und Olivia Cote.

Die holprige Reise zweier Jugendfreundinnen, die sich erstmal wenig zu sagen haben – eine Szene mit Laure Calamy (links) und Olivia Cote. Foto: Happy Entertainment

 

Der französische Film „Reif für die Insel“ erzählt von zwei Nicht-mehr-Freundinnen und einer holprigen Reise. Kein Film der großen Überraschungen, aber eine Komödie der bittersüßen Momente – und der guten Darstellerinnen.

Lach-Yoga? Das ist nichts für Blandine. Zum Lachen sucht sie lieber den sprichwörtlichen Keller auf. Mit dem uncharmanten Satz „Ich glaube, ich bin von Schwachköpfen umgegeben“ lässt sie den Yoga-Kurs hinter sich und igelt sich wieder in ihrem Pariser Vorstadthäuschen ein. Aus dem zieht gerade der Sohn aus, des Studiums wegen, und der Gatte ist schon weg: Er lebt mit einer Freundin im Alter des Sohns zusammen, sie ist schwanger, die Hochzeit steht an. Man kann verstehen, dass Blandine argwöhnt, dass das Leben etwas an ihr vorbeizieht – beziehungsweise so farblos ist wie ihre Garderobe.​

Jugenderinnerung „Le grand bleu“​

Ein wenig Farbe will der Sohn hereinbringen: Per Facebook sucht und findet er Blandines einst beste Freundin Magalie. Bis die Freundschaft zerbrach, hörten sie zusammen gerne die CD zu „Le grand bleu“, Luc Bessons 1988er Taucherfilm, und träumten sich in ein anderes Leben – auf die Insel Amorgos, wo das Wasser türkis schimmert und die Freiheit endlos scheint. Der Sohn arrangiert ein Treffen der alten Freundinnen – doch diese endet als ziemliche Enttäuschung (ist filmisch aber eine flott geschriebene, gut gespielte Dialogszene).​

Klassische Lebensfragen​

Was wird aus Jugendfreundschaften, wenn die Jugend längst vergangen ist?  Was wird aus frühen Lebensentwürfen, wenn sich alles doch ganz anders entwickelt hat? Und ab wann ist es zu spät, dem Leben eine andere Richtung zu geben? Mit diesen Fragen jongliert der französische Autor/Regisseur Marc Fitoussi (47) in seiner freundlichen, famos gespielten Komödie, deren deutscher Titel „Reif für die Insel“ ein bisschen flach-flapsig nach Urlaubs-Jux klingt. Im französischen Original heißt der Film „Les cyclades“, nach jener griechischen Inselgruppe, die die beiden ehemaligen Freundinnen bereisen werden – eine Odyssee, die Blandines Sohn organisiert hat, weil ihm nicht klar ist, dass die beiden Frauen sich bei der Wiederbegegnung wenig zu sagen hatten.​

„OSS 117 – Liebesgrüße aus Afrika“ mit Jean Dujardin

Das ist auf der Reise erstmal nicht anders – Blandine hält die chronisch bargeldlose Magalie, die neue Kleider einmal trägt und am nächsten Tag im  Geschäft zurückgibt, für die „größte Schmarotzerin der Welt“. Magalie hingegen hält Blandine für eine verblühte Langeweilerin und Übervorsichtige, die sogar mit Steppjacke ins sommerliche Griechenland reist – für den Fall einer zu aktiven Klimaanlage im Hotel. Aus solchen Kontrasten lassen sich natürlich bewährte filmische Funken schlagen – siehe Vorgänger wie „Das seltsame Paar“ und „Ein Ticket für zwei“. Und so gewinnt der Film seiner holprigen Reise von Insel zu Insel, mit verpassten Fähren und auffliegendem Schwarzfahren, einige Komik ab.​

Spitzname „Tinnitus“​

Jenseits dessen aber erzählt der Film eine anrührende Freundschaftsgeschichte – zwar nicht ohne Klischees und durchaus im Rahmen des Erwartbaren, aber mit Schwung und einer exzellenten Besetzung: Laure Calamy hat mit Regisseur Fitoussi in einigen Folgen der Serie „Call my Agent!“ zusammengearbeitet; hier nun spielt sie mit viel Energie die aufgedrehte Magalie (ihr Spitzname ist treffenderweise „Tinnitus“), die den Widrigkeiten des Lebens manchmal etwas zu demonstrativ entgegengrinst; ihre Tanzszene in einer Gruppe deutscher Archäologen ist hinreißend, ebenso ihre Ukulele-Darbietung der 80er-Jahre-Schnulze „Words“. Wenn die Fassade des ewigen Optimismus manchmal bröckelt, wenn Magalie etwa Arbeitslosigkeit nicht mehr als selbst gewählte Freiheit verkaufen kann, wenn für Augenblicke so etwas wie leichte Verzweiflung durchscheint, bleibt Calamys Darstellung glaubwürdig.​

„Stars at Noon“ von Claire Denis

Die Rolle der Blandine bietet weniger große Auftritte, umso mehr leistet Olivia Cote als Unterkühlte, die unter südlicher Sonne langsam auftaut und lange verschüttete und/oder verdrängte Gefühle offenbart. Letzteres auch in den Begegnungen mit einem Brüsseler Surfer und mit einer hippiesken Diva (Kristin Scott Thomas), die anfangs ziemlich herrisch wirkt und gut abgehangene Bohème-Kalendersprüche deklamiert, aber auch ihre Schattierungen und Tiefen hat. In tiefste psychologische Abgründe mag der Film dabei nicht blicken, flach ist er aber auch nicht. Und, bei diesem Wetter höchst willkommen, sonnendurchflutet.​

Der Film läuft bundesweit in den Kinos, in Saarbrücken ist er in der Camera Zwo zu sehen.

Doku „Heimat Saarland – Unsere Kinogeschichten“ am Wochenende zu sehen

Preziosen aus der saarländischen Kinogeschichte - Autogrammkarten von Stars, die hier mal vorbei schauten. Foto: WP Films

Preziosen aus der saarländischen Kinogeschichte – Autogrammkarten von Stars, die hier mal vorbei schauten. Foto: WP Films

 

Wie klingen 100 Kinoklappstühle, die zugleich hochknallen – verbunden mit ein paar Schreckensschreien? Es muss ziemlich laut gewesen sein. Joseph Feilen kann sich noch bestens erinnern. Vor fast 50 Jahren war das, als der „Weiße Hai“ sich durch die deutschen Kinos fraß und das Publikum kollektiv aus den Sitzen springen ließ. „Das gibt es nur im Kino“, sagt der Filmfan in der Doku „Heimat Saarland – Unsere Kinogeschichten“.

Magie des Kinos beschwören

Der Homburger Regisseur Thomas Scherer („Unter Tannen“) und Klaus Ebert wollen mit ihrem halbstündigen Film zweierlei: einmal die Magie des Kinos beschwören und zugleich einen Blick werfen auf die Kinogeschichte des Saarlandes. 2022 hatten sie eine Doku über die Historie der Lichtspiele Wadern gedreht („Heimat Kino“) und da sozusagen die cineastische Spur aufgenommen. Scherer startete vor einem Jahr einen saarlandweiten Aufruf nach Erinnerungen an Kino-Erlebnisse. Groß war die Resonanz, die Saarland-Medien sagte Förderung zu, an acht Drehtagen führte er Interviews mit Experten, Kinofans und -betreibern, filmte in Kinos des Saarlandes.

So war es beim Günter Rohrbach Filmpreis in Neunkirchen

Eingebettet sind die Erinnerungen in eine Rahmenhandlung: Ein Klempner (Klaus Ebert) stolpert beim Saubermachen im Hinterzimmer eines Kinos über eine Filmrolle. Die ist unbeschriftet und so mysteriös wie eine aus dem Nichts auftauchende Dame (Katrin Larissa Kasper), die ihn auf die Suche schickt nach einem Projektor für die 35-Millimeter-Rolle. Erste Stationen sind das Union-Theater in Illingen und das Saarbrücker Kino Achteinhalb, in dem man einigen Zeitzeugen lauschen kann – nicht zuletzt einer Veteranin, um nicht zu sagen der großen alten Dame des saarländischen Kinos: Inge Theis, die mit ihrem Mann Günter Theis Filmtheater in Völklingen und in Saarbrücken betrieb, darunter die selige Camera an der Berliner Promenade. Im Film erinnert sie sich unter anderem an „das Geschäft ihres Lebens“, weder mit „Star Wars“ noch James Bond, sondern mit Ingmar Bergmans Drama „Das Schweigen“ von 1963. Dessen Erfolg führt Kinofan Feilen – da müssen Anhänger des schwedischen Meisterregisseurs stark sein – vor allem darauf zurück, „dass da jemand nackig zu sehen war“.

Erste Vorführungen ab 1896

Paul Burgard vom Saarländischen Landesarchiv und Kulturhistoriker Clemens Zimmermann erklären, wie schnell die Kinolandschaft im Saarland wuchs, schon ab Oktober 1896 flimmerten hier Filme, wenn auch nicht in Kinos, sondern in Gastwirtschaften, mit mobilen „Kinematografen“. In den Jahrzehnten danach folgten viele Kinobauten, die vor allem 1943/44 zerstört wurden. Nach dem Krieg hat sich die Filmtheaterlandschaft schnell wieder erholt, für Burgard „fast ein Husarenstück“; Kulturwissenschaftlerin Aline Maldener erwähnt die Praxis der französischen Nachkriegsverwaltung, viel gallische Filmware in den Kinos unterzubringen.

Eine Filmrolle ist „25 Kilo Glück“

In die Vorführpraxis geht es mit Kameramann und Regisseur Klaus Peter Weber, der in seinem gemütlichen Saarbrücker Eigenbau-Kellerkino im Keller von der Zeit erzählt, als er im Saarbrücker UT-Kino als junger Vorführer mit den komplexen Projektoren hantierte. Eine Filmrolle bedeute zwar „25 Kilo Glück“, sagt Weber, damals sei das Material aber noch buchstäblich brandgefährlich gewesen.

Der spätere Kameramann Klaus Peter Weber, damals 17 Jahre alt, vor seinem Streichholzmodell der „Brücke am Kwai“, das zum Filmstart im Saarbrücker Union-Theater ausgestellt wurde.

Auch eine Kinogeschichte: Der spätere Kameramann Klaus Peter Weber, damals 17 Jahre alt, vor seinem Streichholzmodell der „Brücke am Kwai“, das zum Filmstart im Saarbrücker Union-Theater ausgestellt wurde.​ Das Foto findet sich auch im famosen Buch „Filmrausch – Das Kinowunder im Saarland“. Foto: Klaus Peter Weber

 

Auch Kinobetreiber erzählen – Claudia Ziegler und Robert Haas von den Haas Filmtheater-Betrieben, Ingrid Kraus und Waldemar Spallek vom Kino Achteinhalb, das einst als Nebenraum in der Alten Feuerwache begann, Michael Krane und Anne Reitze von der Camera Zwo; sie alle machen deutlich, wie schön der Beruf sein kann – und wie schwierig. Zwei Kinos auf dem Land, die sich kommerziell nicht mehr trugen, wurden von rührigen Filmfans gerettet, die sie in Vereinsform weiterführen: die Lichtspiele Wadern und die Lichtspiele Losheim.

Hans Albers war zu Besuch

Das Saarbrücker Filmfestival Max Ophüls Festival wird thematisch angeschnitten, auch der Neunkircher Günter Rohrbach Filmpreis; in der Kürze der Laufzeit kann es da nicht in die Tiefe gehen, aber man erfährt viel über das Kino im Saarland – auch durch das illustrierende Fotomaterial, das teilweise aus dem Buch „Filmrausch – Das Kinowunder im Saarland“ stammt, herausgegeben von Gabi Hartmann, Burgard und Weber, die im Film dabei sein. Die betagten Bilder beschwören eine Zeit herauf, in dem die Filmtheaterdichte hier deutlich höher war, wo Stars wie Hans Albers, Marianne Koch oder Gustav Knuth zu Premierenbesuch kamen, und wo ein erotisch unterfütterter Klamauk wie „Frau Wirtin hat auch einen Grafen“ 1968 seine Welturaufführung in Saarbrücken erlebte.

Diese halbe Stunde Film ist sehr schnell vorbei, am Ende wird auch das Rätsel der Filmrolle gelöst; man kann sich problemlos eine doppelte Laufzeit ohne Längen vorstellen – vielleicht kann man auf eine erweiterte Version hoffen, genug Material ist bei den Interviews sicherlich angefallen. Regisseur Scherer hofft derweil, dass „Heimat Saarland – Unsere Kinogeschichten“ der Auftakt sein könnte zu Dokus über weitere Themenschwerpunkte – der Filmemacher will „mit Zeitzeugen sprechen und saarländische Schätze festhalten, bevor niemand mehr da ist, um diese Geschichten zu erzählen“.

Termine: Freitag, 1.12., ab 20 Uhr im Kino in Losheim, das Filmteam ist dabei (Eintritt frei).
Am Samstag, 2.12.,  ab 20 Uhr bei den Lichtspielen Wadern, mit dem Filmteam und Musik mit dem Trio Zeitlos.

Infos unter www.wp-films.de

„The Killer“ von David Fincher

Michael Fassbender in "The Killer" von David Fincher

Der Killer (Michael Fassbender), der sich gerne kleidet wie ein deutscher Klischee-Tourist, damit er nicht angesprochen wird. Foto: Netflix

 

Wie eisig kann ein Film sein? Und zugleich, auf grimmige Weise, ziemlich witzig? Trotz Mord und Totschlag, trotz Gewalt und Leid? „The Killer“ ist mühelos beides. Regisseur David Fincher („Fight Club“, „Gone Girl“) ist ein Mann des distanzierten Blicks auf die Welt – auch in seinem jüngsten Film, einer Produktion für Netflix. The Killer“ erzählt eine scheinbar schlichte Geschichte: Ein Berufsmörder versagt bei einem Auftrag, gerät ins Visier seiner Auftraggeber, wehrt und rächt sich. Das hat man schon oft gesehen, in zahllosen vergessenen Filmen, aber auch in Klassikern wie Jean-Pierre Melvilles „Der eiskalte Engel“ mit Alain Delon (1967) oder in John Woos wiederum von Melville beeinflusstem „The Killer“ (1989) mit Chow Yun-Fat – einer melancholischen Baller-Oper der großen Kaliber und ganz großen Gefühle.​

Finchers Film ist anders. So wie die Titelfigur stets versucht, den Puls vor dem tödlichen Schuss zwecks Treffsicherheit zu senken, erzählt der Film unterkühlt, als wolle Fincher auch den Puls seines Films senken. Nach einem Titelvorspann, der uns verschiedene Möglichkeiten aufzeigt, Menschen ins Jenseits zu befördern, sitzen wir mit dem Killer in Paris in einem leerstehenden Büro mit Blick auf die Suiten des Hotels gegenüber. Der Killer (Michael Fassbender) wartet – tagelang – auf sein Opfer.​

Glückskeks-Nihilismus​

Zeit genug, dem Publikum in einem inneren Monolog Weltsicht und Berufsauffassung zu erklären: Das Leben an sich sei banal – Geburt, Existenz, Tod. Und jeden Tag kämen so viele Menschen auf die Welt und so viele verließen sie per Tod wieder, dass seine Arbeit statistisch keinerlei Unterschied mache. Und da er nicht an Glück oder Gerechtigkeit glaube, sei es ihm egal, wen er da umbrächte und wieso. Hauptsache, das Honorar ist gut. „Ich bin, was ich bin.“ Es ist geballter Glückskeks-Nihilismus, den der Killer in der ersten Filmviertelstunde da vor sich hin raunt – möglicherweise hat er selbst zu viele Filme über Berufsmörder gesehen.​ Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass er nach so vielen Erklärungen über die Finessen seiner Arbeit in einer ziemlich einfachen Situation – sofern man das als Zuschauer ohne Mord-Erfahrung beurteilen kann – ganz banal versagt. Statt des geplanten Opfers im Hotel gegenüber trifft er mit seinem High-Tech-Gewehr dessen gemietete Gespielin.​

Gute Bluray-Edition: „Sador“ aus der B-Film-Fabrik von Roger Corman

Eine flotte, meisterlich montierte Flucht durchs nächtliche Paris beginnt; ohnehin schnurrt dieser Film dahin wie eine gute geölte Maschine, der Schnitt ist präzise, die Bilder von Erik Messerschmidt (Oscar für Finchers „Mank“) atmosphärisch, besonders in den nächtlichen Szenen. Der Satz „Execution is everything“ auf dem Plakat zum Film bezieht sich ebenso auf die Arbeit des Killers wie die Arbeit des Regisseurs und seines Teams.

In seinem Zufluchtsort in der Dominikanischen Republik, einer gesichtslosen Luxusvilla, haben schon zwei Killerkollegen die Haushälterin des Flüchtigen überfallen und schwer verletzt, möglicherweise vergewaltigt. Der Killer, übrigens ein ehemaliger Jura-Student, öffnet sein Versteck mit Stapeln gefälschter Pässe und geladener Schusswaffen, um Rache zu nehmen.​

Des Mörders To-do-Liste​

Nun folgt keine Action-Orgie nach der Formel von „John Wick“ oder Ähnlichem, sondern eher ein Abarbeiten einer To-do-Liste seitens des Killers: Spuren aufnehmen, zuschlagen, weitersuchen; verbunden mit regelmäßigem Ein- und Aus-Checken in Flughäfen, an Hotelrezeptionen oder bei Auto-Verleihen. So alltäglich kann die Arbeit eines Auftragsmörders sein. Der Kniff des Films besteht darin, aus diesen Situationen einige Komik zu entwickeln: Der Killer, der sich nach eigenen Angaben gerne wie ein deutscher Tourist kleidet, damit er auf der Straße gemieden und nicht angesprochen wird, bedient sich bei seinen gefälschten Pässen nicht alltäglicher Namen wie John Smith oder Peter Jones – sondern zum Beispiel Felix Unger und Oscar Madison: die beiden WG-Genossen aus dem Kinofilm und der TV-Serie „Ein seltsames Paar“. Oder Lou Grant aus der gleichnamigen TV-Serie über einen grummeligen Journalisten. Oder Sam Malone aus der TV-Sitcom „Cheers“. Wer ist hier der Scherzkeks – der Killer selbst? Oder Drehbuchautor Andrew Kevin Walker, der für Fincher einst „Sieben“ schrieb?​

Jetzt bei Netflix: „The last Vermeer“ mit Claes Bang und Guy Pearce 

Wie auch immer – Walker und Fincher lassen den filmischen Mythos des Berufsmörders, des unbeirrbaren Profis, etwas bröseln. Bei einigen Aktionen, unter anderem beim Betäuben eines Kampfhundes und einer Erpressung durch Folter, unterlaufen ihm trotz seiner wohlklingenden Erklärungen auf der Tonspur einige Fehler. Und anders als in den erwähnten Filmen von Melville oder Woo ist der Killer hier tatsächlich ohne Gnade – ein kalter Handlungsreisender in Sachen Tod. Mit zumindest einer Figur dieses heruntergekühlten Films hat man beim Zuschauen großes Mitgefühl und hofft, dass sie verschont wird – doch das bleibt aus (dies ist der schmerzlichste Moment im Film), ebenso das übliche Romantisieren des kriminellen Profis. Manche Kritiken haben dem Film vorgeworfen, so könne man sich mit der Hauptfigur nicht identifizieren – aber muss man das überhaupt bei einem Mann, der davon lebt, dass er andere Menschen ermordet?​

 

Tilda Swinton in "The Killer".

Tilda Swinton als Kollegin/Feindin des Killers. Foto: Netflix

Sehenswert ist auch eine Szene, in der der Mörder eine Kollegin konfrontiert – gespielt von Tilda Swinton: nahezu ein Monolog von ihr in einem Edelrestaurant, im Bewusstsein des drohenden Todes – während Fassbender fast stumm bleibt. Es scheint, dass Fincher einigen Spaß daran hat, die Erwartungen des Publikums zu unterlaufen. Er serviert eine Kampfszene, kernig brutal, exzellent choreografiert (Dave Macomber), die er bizarr untermalt und so verfremdet: Trent Reznor und Atticus Ross, die regelmäßig für Fincher komponieren, unterlegen die Prügel mit elektronischem Brummen und Fiepen, als habe ein Radio gerade seinen Geist aufgegeben. Auch sonst ist der Einsatz der Musik eigensinnig: Der Mörder hört zur Entspannung die britische Band The Smiths, deren eingespielte Songtitel dann einiges kommentieren: „Bigmouth strikes again“ angesichts der wortreichen inneren Monologe, „Girlfriend in a coma“ angesichts seiner Rache-Motivation.​

Amazon, McDonalds, Starbucks​

Diesen Weg der Rache macht der Mörder durch eine Welt der Waren – Fincher zeigt die Logos von Amazon, McDonalds, Starbucks und anderer Marken, die unser tägliches Leben mitbestimmen (was ihm manche Kritiken als Schleichwerbung ausgelegt haben). Der Killer, so scheint es, ist ebenso ein Teil dieser alltäglichen Warenwelt, der lange Arm von Machenschaften, in denen es um Geld und Macht geht. Als er den finalen Drahtzieher der Rache an ihm aufsucht, schaut der sich gerade die Börsennachrichten an und plaudert am Telefon über Steuererleichterungen. Filmisch subtil ist das nun nicht, aber durchaus witzig. Der Drahtzieher trägt auch keinen Nadelstreifenanzug, sondern eine onkelige Hipster-Weste und eine Schlumpfmütze wie von Torsten Sträter. Eine  kuschelige Alternativ-Optik des Brutalo-Kapitalismus? Von dem jedenfalls ist der Killer ein Teil, ein kleines Rädchen, dazu passt auch sein Mantra „Empathie ist Schwäche“. Und so ist das Ende des Films, das hier nicht verraten wird, nur passend. Ist dieser Killer am Ende nichts anderes als ein ziemlich langweiliger Spießer, dessen Lebensziel eine Luxux-Kaffeemaschine ist und ein Blick aufs Meer?

 

„Stars at Noon“ von Claire Denis

Eine Szene aus "Stars at Noon" mit Joe Alwyn als Daniel und Margaret Qualley als Trish.

Der Brite Daniel (Joe Alwyn) und die Amerikanerin Trish (Margaret Qualley) – gestrandet in Nicaragua. Foto: Weltkino

Da mag sich der Mann noch so abmühen – die nackte Frau unter ihm betrachtet gelangweilt die Fotos neben dem Bett, sieht Männer in grünen Uniformen und sagt: „Junge Rebellen waren mal so sexy.“ Die Frau ist die Amerikanerin Trish, der Mann ist ein Leutnant der Militärdiktatur, das Land ist Nicaragua.​ Dort spielt „Stars at Noon“ der jüngste Film der französischen Regisseurin Claire Denis. Vage könnte man ihn einen „romantischen Thriller“ nennen, würde ihm dabei aber nicht ganz gerecht; und „Thriller“ ließe klassischen Spannungsaufbau erwarten, an dem Denis aber weniger interessiert ist – mehr an Stimmungen, Atmosphäre, am Rätselhaftem.

„Für Dollars und für die Klimaanlage“

Trish (Margaret Qualley) ist eine Journalistin, die für Hochglanzreiseberichte engagiert ist, aber über Korruption der Regierung berichtet hat und nun festsitzt: Ihr Pass ist konfisziert, ihr Chefredakteur (John C. Reilly in einem Zoom-Gastauftritt) lässt sie fallen; ihr bleibt nur die politisch-taktische Prostitution mit Männern des Militärapparates, um sich Protektion zu erschlafen; und für die so wichtigen Dollars verkauft sie sich an internationale Gäste des Landes. Darunter ist auch der Brite Daniel (Joe Alwyn) im weißen Kolonialisten-Anzug, ein Berater einer Ölfirma. So sagt er zumindest. Ihre erste Begegnung in seinem Hotelzimmer ist von ihrer Seite her klar verabredet („für Dollars und für die Klimaanlage“); doch schnell lösen sich die Grenzen zwischen bezahltem Sex und Zuneigung auf. Möglicherweise auch dadurch, dass beiden klar ist, dass sie in diesem Land der permanenten Bedrohung, der patrouillierenden Soldaten nur sich haben, niemanden sonst. Bald sind beide in Gefahr, da Daniel wohl doch etwas anderes ist als ein Berater in Sachen Energiegewinnung. Das Paar versucht die Flucht.

Kritik zu „In der Nacht des 12.“ von Dominik Moll

Das hätte man flott inszenieren können, mit Verfolgungsjagden garnieren – aber Denis geht es um anderes. Sie erzählt von Machtausübung, von Hierarchien, von zwangsweisem Opportunismus und von brüchigem Vertrauen. Hier ist nur wenig so, wie es scheint, und kaum jemand sagt offen, was er meint. Selbst bei dem Liebespaar auf den durchgeschwitzten Laken spürt man Distanz; vielleicht ist beiden nicht ganz so wichtig, ob alles stimmt, was sie sich gegenseitig erzählen — möglicherweise  bleibt ihnen ohnehin nicht viel gemeinsame Zeit.

Ruhiger Erzählfluss

Erst nach einer halben Stunde Film weiß man halbwegs, wer Trish ist und warum sie tut, was sie tut. Diesen Erzählrhythmus, der an Albert Serras meisterlichen Film „Pacifiction“ erinnert, kann man als arg langsam empfinden –  oder sich von ihm mitnehmen lassen. Darstellerin Margaret Qualley („Once upon a time in Hollywood“) jedenfalls ist den Kinobesuch schon alleine wert; sie gibt eine exzellente, rastlose, sehr emotionale Vorstellung als opportunistisches Opfer der Umstände, als Überlebenskünstlerin, die sich manchmal dann doch für cleverer hält als sie es ist.

Zurzeit im Kino,  vom 2. bis 4. Dezember im Saarbrücker Kino Achteinhalb.

„Sador – Herrscher im Weltraum“ – wie Roger Corman sich seinen „Krieg der Sterne“ bastelte

Die Heimkino-Ausgabe von "Sador - Herrscher im Weltraum".

Die Heimkino-Ausgabe von „Sador – Herrscher im Weltraum“.

 

Dank „Krieg der Sterne“ sausten Ende der 1970er viele Filme ins Weltall. Auch der begnadete Produzent Roger Corman mischte mit – mit seinem Händchen für Talente und niedrige Kosten. Sein Film „Sador – Herrscher im Weltraum“ ist jetzt wieder zu sehen – im Heimkino.

Hauptsache Weltraum! Am 25. Mai 1977 startet ein mittelgroßer Film namens „Krieg der Sterne“ in den US-Kinos, im Februar 1978 dann in Westdeutschland (in der DDR nie). Der Erfolg der Sternensaga mit kilometerlangen Raumschiffen, surrenden Lichtschwertern und einem röchelnden Bösewicht mit Helm in Wehrmachts-Optik, ist galaktisch. Flugs sausen viele Kinoproduzenten ins All: Die Besatzung von „Raumschiff Enterprise“ aus dem Fernsehen findet sich via „Star Trek – Der Film“ erstmals im Kino wieder; James Bond tauscht in „Moonraker“ den Smoking gegen einen Raumanzug. Kurz im Kino, länger dann im Fernsehen rauschen „Kampfstern Galactica“ und „Buck Rogers“ umher. Auch „Flash Gordon“ als kunterbunte Genre-Parodie. Für pubertäre Jungs mit einem Faible für Raumschiffe und galaktische Prinzessinnen ist dies eine gloriose Zeit.​

David Hasselhoff im All​

Auch jenseits Hollywoods will man dabei sein. In Japan bricht „Der große Krieg der Planeten“ aus; aus Italien, wo man gerne internationale Trends bedient (ob Sandalen-, Zombie- oder Söldnerfilm), kommt „Star Crash“: ein sympathisches Wunderwerk der antiquierten Spezialeffekte und überenthusiastischen Mimen – inklusive David Hasselhoff, der später im Fernsehen mit seinem Auto spricht und dann mit seinem geschmetterten „Looking for Freedom“ die Mauer zwischen DDR und BRD bröseln lässt.​

Trash-Klassiker „Turkish Star Wars“​

Ein Höhepunkt der Kunst des filmischen Abzockens: In der Türkei setzt man den Star Cüneyt Arkin mit einem Moped-Helm vor eine Leinwand, auf der mittels einer „ausgeborgten“ Filmkopie Szenen aus „Krieg der Sterne“ flimmern – der holprige Film findet unter dem inoffiziellen Titel „Turkish Star Wars“ viele Anhänger. Im All über der Türkei scheint das Urheberrecht so flüchtig zu sein wie Meteoritenstaub.​

Sybil Danning als Weltraumwalküre Saint-Exmin im Film "Sador - Herrscher im Weltraum".

Galaktisches Kostümgestaltung in „Sador“: Sybil Danning als Weltraumwalküre Saint-Exmin. Foto: Plaion​

In diesem Reigen der Imitate und Plagiate darf ein Mann nicht fehlen: US-Produzent Roger Corman, heute 97 Jahre alt. Seit Mitte der 1950er produziert er knallige Filme, im Auge stets Publikumstrends, Zeitgeist und niedrige Kosten. Viel flott Heruntergekurbeltes ist dabei, für den schnellen Konsum in Autokinos etwa, mit Titeln wie „Aufruhr im Mädchenwohnheim“ oder „Teenage Caveman“. Aber immer wieder schillern auch Perlen: nicht zuletzt seine bunten, wunderbar barocken Edgar-Allan-Poe-Adaptionen, meist mit Vincent Price. Oder sein Rockerfilm „Die wilden Engel“, der „Easy Rider“ von 1969 um drei Jahre voraus ist.

„Auslöschung“ von Alexa Garland auf Bluray 

Cormans vielleicht größtes Talent: sein Blick für bisher unentdeckte Talente. Die dürfen bei ihm filmen, wenn sie das Kommerzielle nicht aus dem Blick lassen und mit kleinen Gagen zufrieden sind. Etwa die späteren Großmeister Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, auch Jonathan Demme (später für sein „Schweigen der Lämmer“ berühmt) oder Joe Dante („Gremlins“); der dreht bei Talentschmied Corman im Kielwasser des „Weißen Hai“ seinen originellen Gruselfilm „Piranhas“ – kürzlich noch einmal im Saarbrücker Kino Achteinhalb zu sehen.​

Hommage an „Die glorreichen Sieben“​

Um sich nun an „Star Wars“ zu hängen, kauft Corman 1979 eine altes Holzfabrik, knaubt es zum Studio um und produziert für um die zwei Millionen Dollar (viel für Corman, wenig für ein Raumschlachten-Epos) den Film „Battle beyond the stars“. Der trägt bei uns den weniger epischen Titel „Sador – Herrscher im Weltraum“ und ist jetzt in einer mustergültigen Heimkino-Edition zu haben. Im Film bedroht ein Finsterling ein friedliches Volk auf dem Planeten Akir, dessen Name ziemlich schlüssig ist: Denn der Film ist eine Hommage an Akira Kurosawas Film „Die sieben Samurai“ (1954) und an jenen Western, der vor dem japanischen Original seinen (Cowboy-)Hut zog: „Die glorreichen Sieben“ von 1960, inszeniert von John Sturges.​

 

Robert Vaughn im Film "Sador - Herrscher im Weltraum".

Robert Vaughn, einst in „Die glorreichen Sieben“ zu sehen, einer Inspiration für „Sador“, als Söldner/Killer namens Gelt. Zwölf Jahre nach „Sador“ drehte er übrigens  einen „Tatort“ in Saarbrücken.​ Foto: Plaion

 

„Amazonen auf dem Mond“ auf Bluray

Bösewicht Sador will sich den Planeten unterwerfen – mit einer Waffe namens „Stellarkonverter“, was nicht ganz so bedrohlich klingt wie der „Todesstern“ bei „Star Wars“.  Und so macht sich der junge Shad (Richard Thomas, „John-Boy“ aus der TV-Serie „Die Waltons“) auf ins All, Hilfe zu holen. Zurück kommt er mit einer illustren Kleingruppe, die sich dem Diktator in den Weg stellt: darunter ein Weltraumcowboy (George Peppard), ein Echsenwesen, ein Quintett von Telepathen, eine blonde Walküre im knappen Textil (Sybil Danning) und ein Söldner auf der Flucht; den stellt, ziemlich stoisch, sinnigerweise Robert Vaughn dar, der bei den „Glorreichen Sieben“ mitschoss – und übrigens zwölf Jahre nach „Sador“ in Saarbrücken bei einem „Tatort“ mitspielte.​

Als „Avatar“ für James Cameron noch weit weg war​

Dass die Heldenreise dieser bunten Truppe zu einem guten Ende führt (wenn auch nicht für alle), überrascht nicht. Originell ist aber, wie dieser Film mit bunten Ideen und viel Talent gegen sein schmales Budget angeht, dank Cormans Auge für Begabung: Das witzige Drehbuch schrieb John Sayles, später Star-Autor/Regisseur des US-Independent-Kinos („Lone Star“); die wuchtige Musik komponierte ein damals junger Unbekannter namens James Horner, der später „Titanic“ und „Avatar“ untermalte – beides inszeniert von einem Mann, der bei „Sador“ noch kleinere Brötchen backte, als Designer und Bauer der Raumschiffe: James Cameron. Die Assistentin von Produzent Corman war damals Gale Anne Hurd. Sie und Cameron schrieben später zusammen „Terminator“, sie produzierte Camerons „Aliens“ und „Abyss“, ein paar Jahre miteinander verheiratet waren sie auch. Hollywood, so scheint es, ist ein Dorf.​ Regisseur Jimmy Murakami drehte nach „Sador“ keine Realfilme mehr, aber immerhin den Trickfilmklassiker „Wenn der Wind weht“.

Der Weltraumcowboy (George Peppard) und Shad (Richard Thomas), der Unterstützung für seinen bedrohten Planeten Akir sucht. Foto: Plaion

 

Wer sich in die Entstehungsgeschichte des Films versenken will, kann dies mit dem Bonusmaterial ausreichend tun: mit einem exzellenten Booklet von Stefan Jung über die Hintergründe der Dreharbeiten; mit einem aktuellen Interview mit dem scheinbar alterslosen Richard Thomas, der gerne zugibt, dass er es nie zum Filmstar gebracht hat; mit einem halbstündigen Rückblick auf die Dreharbeiten; und mit zwei Audiokommentaren – von Gale Anne Hurd und, sehr vergnüglich, vom Duo Sayles/Corman. Letzterer erzählt mit einigem Produzentenstolz, dass er die Weltraum-Effekte von „Sador“ in einem halben Dutzend späterer seiner Filme untergebracht hat. Gewusst wie – bezahlt waren die ja schon.​

Die Extras im Einzelnen:

1. Exzellentes Booklet von Stefan Jung, „Corman greift nach den Sternen“.
2. Audiokommentar mit Roger Corman und John Sayles
3. Audiokommentar mit Gale Ann Hurd
4. Rückblick „Space Opera on a shoestring“ (33 Minuten)
5. Interview mit Richard Thomas (15 Minuten)
6. US-Trailer (zweieinhalb Minuten)
7. Radiospot (eine halbe Minute)
8. Bildergalerie mit 127 Motiven – Plakate, Pressefotos, deutscher Werberatschlag.

Erschienen bei Plaion.

Ein Abend beim Günter Rohrbach Filmpreis in Neunkirchen

Günter Rohrbach Filmpreis Neunkirchen Matthias Brandt Karoline Herfurth

Produzent und Filmpreis-Namensgeber Günter Rohrbach (rechts) ist flotte 95. Neben ihm Karoline Herfurth und Matthias Brandt.   Fotos: tok

 

Mit „Schalom – Salam – Frieden“ beginnt und endet dieser Abend in der Gebläsehalle. Schauspieler Peter Lohmeyer, als Moderator sonst ein Meister des schlurfigen Charmes, spricht zu Beginn von seiner „Schockstarre“ nach dem „brutalen Angriff der Terrorgruppe Hamas auf den Staat Israel, mitfinanziert durch das Terrorregime des Iran“. Ein Regime, das außerdem im eigenen Land „den Aufstand der Frauen niedergemordet, niedergeknüppelt hat“. Und in Deutschland „können Jüdinnen und Juden heute nicht ohne Angst aus dem Haus gehen. Wir müssen aufmerksam machen auf jeden antisemitischen Übergriff. Wir dürfen nicht dazu schweigen.“​

Großer Sieger „Sonne und Beton“​

Danach beginnt die 13. Preisverleihung, bei der „Sonne und Beton“ der große Sieger ist. Das kraftvolle Berliner Jugenddrama nach dem Roman von Felix Lobrecht erhält den Hauptpreis für Regisseur David Wnendt, die Produzenten Fabian Gasmia und Christoph Müller sowie den Preis des Saarländischen Rundfunks für Darsteller Levy Rico Arcos. Überraschend dabei und ein Novum beim Rohrbach-Filmpreis: „Sonne und Beton“, eine von 64 eingereichten Produktionen, hatte nicht auf der Shortlist der Vorjury gestanden, die sie der Hauptjury als Vorauswahl vorgelegt hatte; die Hauptjury unter Leitung des Regisseurs und Schauspielers Michael Bully Herbig hatte den Film dann als einen der Finalisten ausgewählt.​

„Ich freue mich auf ukrainisch-russische Babies…“​

Regisseur Wnendt, 2011 schlagartig bekannt geworden mit dem Neonazi-Drama „Die Kriegerin“, freut sich über die „große Ehre“. Er habe einen Film drehen wollen, in dem sich „Jugendliche, denen es nicht so gut geht“, wiedererkennen. „Wir leben in krassen Zeiten, da ist die Verantwortung für uns Künstlerinnen und Künstler besonders groß, abzubilden, wie die Welt jetzt ist, und Möglichkeiten aufzuzeigen, wohin sich die Gesellschaft hinbewegen kann. Ich bin zuversichtlich für die  Zukunft.“ So geht es, trotz allem, auch dem Produzenten Fabian Gasmia. Seine Frau kommt aus Lothringen, „wir haben ein kleines Baby zusammen. Wer hätte so etwas vor 75 Jahren für möglich gehalten, als sich Deutschland und Frankreich so gehasst haben?“ Seine Hoffnung für die Zukunft: „Ich freue mich auf ukrainisch-russische Babies und auf israelisch-palästinensische Babies in 75 Jahren.“​

Michael Bully Herbig Günter Rohrbach Filmpreis

Jury-Vorsitzender Michael Bully Herbig.

Laudator und Jury-Vorsitzender Michael Bully Herbig („Ballon“, „Der Schuh des Manitu“) gibt zu, dass er sich die Arbeit leichter vorgestellt hatte. Es habe über die Filme „stundenlange Diskussionen gegeben“. Das Schwierigste aber war für ihn die Reise von München ins Saarland, wo der Fußball-Drittligist 1. FC Saarbrücken den bajuwarischen Edelverein am Mittwochabend aus dem DFB-Pokal gekickt hatte. „Der Weg hierher war für mich als Bayern-München-Fan sehr beschwerlich“, räumt Herbig offen ein.​

Interview mit Burghart Klaußner

„Die Leute hier sind freundlich – wenn man aus Berlin kommt, ist das manchmal ungewohnt“​

Auch zwei Preisträgerinnen vergangener Jahre sind angereist, die zuvor verhindert waren. Vor vier Jahren wurde Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ ausgezeichnet, doch damals stand die Arbeit in Los Angeles an ihrem Netflix-Film „The Unforgivable“ mit Sandra Bullock der Reise nach Neunkirchen entgegen. Danach die Geburt eines Sohnes. Dann weitere Filmarbeiten. Jetzt ist sie da, freut sich unter anderem darüber, „dass die Leute hier freundlich sind – wenn man aus Berlin kommt, ist das manchmal ungewohnt“. Fingscheidts „Systemsprenger“ erzählt von einer tragischen Kindheit; für die Regisseurin sind „die eigenen vier Wände der gefährlichste Ort für Kinder, nicht der Spielplatz, wo der böse Mann wartet“. In und nach Corona sei die häusliche Gewalt gegen Kinder und die Gewalt unter Kindern noch einmal gestiegen. „Warum redet man so wenig darüber?“ Und: „So lange Steuerhinterziehung strenger geahndet wird als Kindesmissbrauch, haben wir gesellschaftlich viel  zu tun.“​

Günter Rohrbach Filmpreis Laura Tonke und Nora Fingscheidt ("Systemsprenger").

Laura Tonke (links) und Nora Fingscheidt („Systemsprenger“).

„Ich bin aus den Latschen gekippt“​

Am Abend ist immer wieder die enorme Wertschätzung  für den Filmpreis-Namensgeber Günter Rohrbach in der ersten Reihe der Gebläsehalle zu merken. Mehrmals wird dem 95-Jährigen Produzenten, gerade zum Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Neunkirchen ernannt, von der Bühne aus für seine künstlerische Lebensleistung gedankt, für seinen Mut als Filmemacher. Von Fingscheidt („Hochachtung für Ihr Lebenswerk“), von Produzent Gasmia („Ich bin aus den Latschen gekippt, als ich gesehen habe, wie viel sie gemacht haben“) und auch von Karoline Herfurth, die den Preis des SR von 2022 für ihren Film „Wunderschön“ entgegennimmt und sagt: „Seine Filme prägen mich seit frühester Kindheit – ich bin unglaublich und wahrhaftig stolz, nun eine Rohrbach-Preisträgerin zu sein.“​

Matthias Brandt und Michael Caine​

Ein Laudator lobt per Videobotschaft: Regisseur Christian Petzold erzählt, wie er und der prämierte Schauspieler Matthias Brandt bei den Dreharbeiten zu „Roter Himmel“ eine Aufnahme besonders gut fanden, weil Brandt sie, wie er sagte, „ambitionslos“ gespielt habe – weil mal wieder ein Flugzeug über den Drehort rauschte und er glaubte, diese Szene werde ohnehin nicht genommen. Gerade dieses Zurückgenommene habe enormen Reiz, sagt Petzold, so hätten etwa auch Richard Burton und Robert Ryan einst gespielt – und heute etwa Jennifer Lawrence. Oder die Sprecher seiner alten, geliebten Hörspielschallplatten. „Sie haben den Kindern die Gefühle nicht vorgegeben.“ Über die Laudatio und den Darstellerpreis freut sich Brandt in Neunkirchen, zieht seinen Hut vor dem Kollegen Michael Caine, dessen Lust an der Arbeit, am Ausprobieren und Freude am Zusammensein mit den Kolleginnen und Kollegen er durchaus teilt.​

Interview mit Kameramann Jost Vacano

„Sicherheit ist der Feind von Kunst“

Regisseurin Sonja Heiss, prämiert für ihren Film „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, blickt in ihrer Dankesrede auf die eigene Branche: Günter Rohrbach habe „immer sehr viel gewagt und sei mutig“. Doch sie habe gegenwärtig das Gefühl, „dass in unserer Branche immer weniger Risiken eingegangen werden, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der auf Sicherheit gesetzt wird“. Man müsse sich wieder mehr trauen, denn „Sicherheit ist der Feind von Kunst“.​

 

Die Preise:

Günter Rohrbach Filmpreis (10 000 Euro) an Regisseur David Wnendt und die Produzenten Fabian Gasmia und Christoph Müller für „Sonne und Beton“.​​

Darstellerpreise (dotiert mit jeweils 3000 Euro) an Laura Tonke für „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ und Matthias Brandt für „Roter Himmel“.​

​Preis des Saarländischen Rundfunks (dotiert mit 5000 Euro) an Darsteller Levy Rico Arcos  in „Sonne und Beton“.​

Preis der Saarland Medien GmbH, dotiert mit 3500 Euro, für İlker Çatak und Johannes Duncker für ihr Drehbuch zu „Das Lehrerzimmer“.​

Preis des Oberbürgermeisters, dotiert mit 2500 Euro, für die Regisseurin Sonja Heiss für „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“.​

Drehbuchpreise: Den ersten Preis erhält Anna Werner für ihr Exposé „Car Country“. Den zweiten Preis erhält Niamh Sauter-Cooke für „Haben und Sein“. Der dritte Preis wird vergeben Nele Hecht für „Sturzwelle“.​

Sandra Hüller im Interview: „Ich versuche, Kritiken nicht zu lesen“

Sandra Hüller in "Anatomie eines Falls"

Sandra Hüller in einer Szene des Films „Anatomie eines Falls“, der gerade in den Kinos zu sehen ist.                                                                 Foto: LesFilmsPelleas/LesFilmsDePierre

 

Gleich zweimal ist Sandra Hüller für den Europäischen Filmpreis nominiert – für „Anatomie eines Falls“ und „The Zone of Interest“. Grund genug, ein Interview zu posten, das im Januar entstand, als Hüller Ehrengast des Filmfestivals Max Ophüls-Preis war.

Schauen Sie sich Filme, in denen Sie mitspielen, später nochmal an?

HÜLLER Manchmal, wenn ein Film im Fernsehen läuft und ich hängenbleibe, schaue ich noch ein bisschen rein – aber gezielt würde ich das nicht tun.

Haben Filmkritiken Auswirkung auf Ihre Arbeit?

HÜLLER Ich versuche, Kritiken nicht zu lesen, es sei denn, jemand rät mir, das bei einem bestimmten Text unbedingt zu tun. Generell interessiert mich eine Kritik mehr, wenn ich weiß, dass meine Arbeit danebengegangen ist – einfach um zu erfahren, was ich verpasst habe, was ich am Drehbuch vielleicht falsch verstanden habe oder an der Regie oder an der Figur. Bei einer Arbeit, bei der ich das Gefühl habe, dass ich das transportiert habe, was ich transportieren wollte, brauche ich dafür keine Bestätigung – aber ich freue mich natürlich, wenn es den Leuten gefällt und gut darüber geschrieben wird.

„Toni Erdmann“ wurde 2016 zum Phänomen. Der Film lief in Cannes, gewann unter anderem den Europäischen Filmpreis, wurde für den Oscar nominiert und auch ein Hit in den deutschen Kinos. Konnte man so etwas ahnen?

HÜLLER Nein, beim Dreh war uns das überhaupt nicht klar. Wir wussten zwar, dass wir eine ungewöhnliche Arbeit machen, und ich kannte die vorigen Filme von Maren Ade, die in kein gängiges Schema passen. Aber was der Film auslösen würde – ehrlicherweise auch bei mir – war uns nicht klar. Erst als ich den Film gesehen habe, wurde mir auch bewusst, welche Reise meine Figur gemacht hat.

Interview über Loriot

Hat sich dieser unerwartete Erfolg irgendwann surreal angefühlt?

HÜLLER Das nun nicht, es ist einfach schön, wenn sich harte Arbeit lohnt. Und durch den Film waren wir viel unterwegs, haben viel erlebt und konnten viele Menschen treffen. Das war ein großes Geschenk für mich – und auch ein großer Rausch. Ich habe etwas Zeit gebraucht, wieder in der anderen Realität anzukommen – es gibt ja mehrere.

Ihre Karriere ist sehr reichhaltig, Sie drehen nationale und internationale Kinofilme, spielen Theater. Wie sehr kann man das planen und eine Karriere steuern?

HÜLLER Ich bin eine unglaublich schlechte Strategin, das merke ich auch zuhause bei Strategiespielen, das funktioniert nicht. Ich kann mir nur vornehmen, mich selbst nicht anzulügen, nicht falschen Anreizen hinterherzurennen und nur das zu tun, was mich interessiert. Oder ich probiere etwas aus, was ich noch nicht gemacht habe, auch wenn es mich nicht unbedingt berührt – einfach damit der Körper und das Gehirn in Bewegung bleiben.

Erklärt das auch, dass Sie neben Hauptrollen gerne auch Nebenrollen spielen?

HÜLLER Es gibt Phasen, da spiele ich Hauptrollen, da brauche ich das – auch finanziell, ehrlich gesagt. Und dann gibt es Zeiten, wo ich mehr zuhause sein möchte, weil ich das Gefühl habe, gefehlt zu haben, und mehr präsent sein möchte. Dann sind das kleinere oder kürzere Sachen, oder Arbeiten näher am Wohnort – das ist sehr unterschiedlich.

Kritik zu „Die Theorie von allem“

Im Film „Alle reden übers Wetter“ haben Sie überraschend einen winzigen Auftritt – wie kam es dazu?

HÜLLER Die Regisseurin Annika Pinske kenne ich schon seit zwölf, 13 Jahren, wir waren Nachbarinnen in Berlin. Da war klar, dass ich bei ihrem Debüt mitspiele, auch wenn sie mich nicht groß besetzt. Das war eine abgemachte Sache, ein Drehtag, der Spaß gemacht hat.

Ist es auch erleichternd, dass man den Film nicht tragen muss?

HÜLLER Das schon – die anderen haben wahnsinnig viel zu tun, und man selbst schaut mal kurz vorbei. Andererseits genieße ich es schon sehr, wenn ich über einen längeren Zeitraum die ganzen Bewegungen der Geschichte mitspüren und mitgestalten darf. Das hat alles Vor- und Nachteile.

Nach „Toni Erdmann“ haben Sie „Fack ju Göthe 3“ gedreht – vom Arthouse-Kino zu einem Mainstream-Jux. Eine ziemliche Überraschung.

HÜLLER Für mich war das ein wichtiger Ausflug in ein anderes Genre, weil ich wissen wollte, wie das funktioniert. Man kann über solche Filme ja alles Mögliche denken – aber wenn man noch nie da war, weiß man nicht, ob man das kann, ob es Spaß macht und ob es vielleicht sogar ein Karriereweg wäre. Das war kurz nach „Toni Erdmann“, wo ich mir nicht sicher war, wie es jetzt weiter geht. Und wenn ich das nicht weiß, dann mache ich eben verschiedene Dinge, bis ich es wieder weiß. Das ist bei mir ein ganz normaler Weg.

Und wie ist Ihr Fazit?

HÜLLER Man soll niemals nie sagen, aber ich glaube nicht, dass mein Daueraufenthalt in diesem Genre sein wird. Ich habe gemerkt, dass ich das wirklich nicht gut kann. Ich war sehr befangen. Solche Filme schaue ich gerne, aber ich kann es leider nicht gut.

Was schauen Sie sich im Kino an – vor allem Arthouse-Filme?

HÜLLER Nein, ich schaue das, was in Kritiken interessant beschrieben wird. Ich war in letzter Zeit sehr oft im Kino, auch weil ich will, dass es die Kinos weiter gibt. Es wird viel über deren Probleme gesprochen und geschrieben, es gibt eine Kampagne mit dem passenden Titel „Das Kino braucht nicht Dich – Du brauchst das Kino“. Wir brauchen solche Orte, an denen wir in Ruhe Filme sehen und über sie nachdenken können – oder zumindest auch einmal entfliehen für eine Weile. Im Kino ist es anders als vor dem Fernseher auf der Couch, wo man dran denkt, dass man gleich noch die Wäsche zusammenlegen muss. In diesem dunklen Ort Kino wird man in die Geschichte hineingezogen.

Sie lesen auch viele Hörbücher ein – ist das auch eine Chance, mehr Kontrolle zu haben als Teil eines Films oder einer Inszenierung mit vielen anderen Menschen zusammen?

HÜLLER Darum geht es mir weniger, ich mag vor allem den Rausch, der bei dieser Arbeit entsteht. Das lange Lesen macht etwas ganz Besonderes mit dem Gehirn, ich mag es sehr, in die Geschichte tief einzutauchen. Einem Text so absolut zu dienen, macht großen Spaß. Und ich bin eine schnelle Hörbuch-Einleserin.

Interview mit Schriftsteller Thomas Hettche 

Sie nehmen auch Musik auf  – wie kam es dazu?

HÜLLER Musik war bei mir immer da. Ich hatte einen Kassettenrecorder, mit dem ich nachts Musik vom Radio aufgenommen habe. Ich habe gewartet und gehofft, dass der Moderator nicht reinquatscht, habe Mixtapes zusammengestellt – das haben wir ja alle getan. Als Musik noch nicht so frei verfügbar war wie heute, habe ich viel Zeit in großen Drogerieketten mit Musikabteilungen verbracht und neue CDs durchgehört, die in Zeitschriften empfohlen wurden. Ich finde Musik als Ausdrucksform wunderbar, ich lerne auch gerade Klavierspielen, um mehr über die Entstehung von Musik zu lernen – damit das Ganze nicht nur intuitiv bleibt.

Wie haben Sie die Corona-Zeit erlebt und überstanden?

HÜLLER Erstmal hatte ich das Glück, dass ich mich finanziell über Wasser halten konnte. Ich habe es genossen, im Lockdown mit der Familie zusammen zu sein. Zuhause gab es klare Strukturen, Stundenpläne, die den Tag gliedern, damit man nicht abstürzt in ein Nichtstun, in eine Bedeutungslosigkeit. Aber die Erschöpfung, die das alles mit sich gebracht hat, die habe ich erst gespürt, als alles wieder halbwegs normal lief. Da habe ich erst gemerkt, wie viel einem das abverlangt hat, dem Kind gegenüber den Kopf oben zu halten und Mut zu machen, optimistisch zu bleiben. Es gab viele Schulausfälle, es gab viel Ungewissheit und viele Ängste, denen man begegnen musste. Es tut dann gut, einfach Vertrauen zu haben, dass es wieder besser wird – und das hat ganz gut funktioniert.

„Die Theorie von allem“ von Timm Kröger

 

Wie man sich nach dem Besuch dieses Films fühlt, wird sich wohl daran entscheiden, ob man Rätsel vor allem dann schätzt, wenn sie aufgedröselt und gelöst werden. Oder ob man gerne mangels Erklärung weiterbrütet, ohne Garantie, des Rätsels Lösung schließlich zu ergründen. „Die Theorie von allem“ kann einen beglückt zurücklassen oder auch etwa frustriert. Oder beides zugleich. In jedem Fall ist der Film von Timm Kröger (Regie und Ko-Drehbuch mit Roderick Warich), der im Wettbewerb von Venedig seine Premiere feierte, ein ambitionierter Brocken. Mit Wendungen, Kurven und Fährten, die in die Irre führen können – oder doch mitten ins Herz der Erkenntnis?​

In welcher Welt leben wir?​

Mit einem farbigen Prolog beginnt dieser eigenwillige, ambitionierte Film, dessen Bilder danach schwarzweiß sind, abgesehen von einem kurzen Farbblitz in einer zentralen Szene. 1974 sitzt ein bärtiger Physiker in einer TV-Show und wird von einem betont launigen Moderator befragt (und bloßgestellt). Denn des Physikers Buch über die Frage, in welcher von vielen möglichen parallelen Welten wir gerade leben, ist für ihn und das Publikum ein Quell des Amüsements, kein Denkanstoß. Der kollektiv Belächelte nimmt das kaum zur Kenntnis, er schaut in die Kamera und richtet sich an eine Karin, „egal wo Du bist“.​

 

 

Zwölf Jahre zurück springt der Film, nun schwarzweiß: Der Physiker von Beginn, Johannes Leinert (gespielt von Jan Bülow), ist bartlos und rattert in einem Zug den Schweizer Bergen entgegen – begleitet von seinem Doktorvater Julius Strathen (Hanns Zischler). In einem Hotel ist ein Physikerkongress geplant, die akademische Berggesellschaft wartet auf einen Wissenschaftler, dessen jüngste Theorie nichts weniger erwarten lässt als die Erklärung von dem, was unsere Welt (oder Welten?) im Innersten zusammenhält. Nur: Der Wissenschaftler lässt auf sich warten. So vertreibt man sich die Zeit bei ein wenig Ski, viel mondänem Après Ski und manchen akademischen Eifersüchteleien.​

Warum weiß Karin das alles?​

Derweil arbeitet Leinert weiter in seiner Bruchbude eines Hotelzimmers an seiner eigenen, von seitenweise Formeln anscheinend gestützten Theorie, dass wir viele Leben parallel leben, ohne es zu wissen.  (Nichts wissen will davon allerdings der Doktorvater.) Trost für den ignorierten Jung-Physiker ist die junge Jazzpianistin Karin Hönig (Olivia Ross), die von Johannes Dinge weiß, die sie eigentlich nicht wissen kann. Kennt sie ihn aus einem früheren Leben? Oder aus einem parallel ablaufenden? Und was hat es mit einem toten Physiker auf sich, den man bestialisch zugerichtet im Schnee findet? Und welche Rolle spielt ein mysteriöser Stollen tief im Berg?​

Kritik zu „Wild wie das Meer“

Fragen über Fragen, die der Film kunstvoll auftürmt. Die breiten, fast brutal kontrastreichen Schwarzweißbilder von Kameramann Roland Stuprich sind kolossal – die Schweizer Berge wirken wie eine andere Welt, die Innenräume atmen bedrohliche Film-Noir-Atmosphäre. Eine Fahrstuhlfahrt wird hier zu einem kontrollierten Absturz in die Hölle.​

Die Musik – ein Reiz oder ein Problem des Films?​

In dieser Welt stolpert der Jung-Physiker umher, kann sich keinen rechten Reim machen auf das, was vor sich geht. Filmisch untermalt wird diese Sinnsuche von einer Musik, die in diesem Film der Eigenwilligkeiten besonders eigenwillig ist: Diego Ramos Rodríguez hat eine opulente symphonische Musik geschrieben, mit vielen Verweisen auf Alfred Hitchcocks Hauskomponisten Bernard Herrmann, auf den französischen Filmkomponisten Georges Delerue, auf US-Musiker Leonard Rosenman. „Pathetisch und lärmend und naiv, aber auch komplex und filigran und widerspenstig“ nennt der Regisseur diese Klänge, die in vielen Kritiken zum Film sehr gelobt werden – aber sie bergen ein Risiko: Oft scheinen sie mit ihrem Pomp und Pathos die Bilder zu konterkarieren oder zu ironisieren; ob nun absichtlicher Verfremdungseffekt oder nicht, betonen sie doch nicht das Gesehene, sondern schaffen eine Distanz, als Zuschauerin oder Zuschauer wird man oft auf Abstand gehalten.​

Dominik Graf als Gast-Rauner​

Diese Distanz hebt sich im letzten Drittel allerdings auf, wenn der Film nach einer dramatischen Begegnung im Stollen auf das weitere Leben von Johannes blickt: mittels einer kunstvollen Montage, mit galligem cineastischem Humor (wenn sich Johannes in einem Kino eine italienische B-Filmversion seiner eigenen Geschichte anschaut) – und mit einer wunderbaren raunenden Erzählerstimme: Regisseur Dominik Graf.​

Interview mit Dominik Graf

Wenn es nun parallele Leben geben sollte, dann könnte es doch auch parallele Versionen dieses Films geben für möglicherweise simplere Geschmäcker? Vielleicht eine Version von „Die Theorie von allem“, die im etwas zu langen Mittelteil konventioneller an ihr Thema herangeht? Formal vielleicht weniger Stilwillen besitzt, dabei die Spannungsmöglichkeiten seiner Geschichte aber stärker herauskitzelt? Wie dem auch sei – vor allem sollte man dankbar dafür sein, was hier filmisch gewagt wird. Eine lohnenswerte Kino-Erfahrung ist dieser Film, der sich einiges traut, in jedem Fall.​

„The Last Vermeer“ von Dan Friedkin

 

Ein filmisches Corona-Opfer: Nach einigen Festivalterminen sollte „The Last Vermeer“ in den Kinos starten, doch die Pandemie kam dazwischen. In den USA lief der Film nur kurz, im Rest der Welt verschwand er ohne viel Echo oder Werbung in den Streaming-Kanälen – schade um diesen gut gespielten Kunst-Thriller. Gerade kann man ihn auch bei Netflix sehen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht der holländische Ex-Widerstandskämpfer Piller (Claes Bang) den Kunsthandel in seiner Heimat während der Besatzung; er vermutet, dass eine Galerie Teil des deutschen Spionagerings war und stößt auf Han van Meegeren (Guy Pearce). Der soll der NS-Größe Hermann Göring während des Krieges ein erst vor kurzem entdecktes Gemälde von Jan Vermeer (1632-1675) namens „Christus und die Ehebrecherin“ verkauft haben – für eine ungeheure Summe. Van Meegeren gibt das ohne weiteres zu, was sein Todesurteil bedeuten kann, hat er somit kollaboriert und sich an einem holländischen Kulturschatz bereichert. Der Fall scheint klar, bis Van Meegeren eröffnet, dass er diesen Vermeer selbst gemalt und damit Göring kunstvoll genarrt hat.

Fälscher? Antifaschist? Beides?

Falls das stimmen sollte, – ist er dann kein Kollaborateur, sondern ein trickreicher Fälscher mit dem Potenzial eines Volkshelden, da er Göring und einige pompöse Kunst-Experten an der Nase herumgeführt hat? Und kann man Van Meegerens Behauptung glauben, das Ganze habe er nicht aus Geldgier, sondern aus einem tiefen Antifaschismus heraus getan? Es kommt zum Prozess. Der Film basiert auf realen Ereignissen, auch wenn er sich manche Freiheiten nimmt – den hochbegabten Fälscher und Ex-Maler Van Meegeren jedenfalls gab es tatsächlich, auch der Verkauf eines Pseudo-Vermeers an Göring und der Prozess haben stattgefunden. Regisseur Dan Friedkin erzählt diese wendungsreiche Geschichte gediegen, spannend, manchmal klassisch-altmodisch – etwa bei den Prozess-Szenen mit flammenden Reden und kernigen „Einspruch!“-Rufen. Dabei ist auch der Kontrast der Hauptdarsteller reizvoll: Claes Bang („The Square“) spielt den Ermittler zurückgenommen als angeschlagenen Mann, dessen Ehe bröckelt, Guy Pearce gibt den Maler mit großer Geste, die der reale Van Meegeren wohl auch schätzte.

„Bergman Island“ mit Vicky Krieps

„The Last Vermeer“ mag seine kleinen Schwächen haben: Die tragische Ehegeschichte des Ermittlers ist zu sehr nebenbei erzählt, um wirkliche Resonanz zu haben; zudem hat die famose Luxemburger Schauspielerin Vicky Krieps als Pillers Assistentin sträflich wenig zu tun. Sehenswert ist der Film dennoch, wobei er auch über den Wert von Kunst, gesellschaftlich wie kommerziell, nachdenkt und dabei dankenswerterweise weniger pastoral klingt als etwa George Clooneys Kunst-Kriegs-Film „Monuments Men“.

Schrecklich: „Das Nonnenrennen“ von Laurent Tirard

Das Nonnenrennen Valérie Bonneton

Davon träumt die Mutter Oberin Véronique (Valérie Bonneton): ein römisches Selfie mit dem Papst (Serge Peyrat).     Foto: Prokino

Oje. Wäre dieser Film ein Rennrad – das handlungstreibende Fortbewegungsmittel – dann hätte es sehr wenig Luft in den Reifen und würde auf den Felgen dahinknirschen. Da nutzt auch hektisches Treten in die Pedale wenig, man kommt nicht vom Fleck und ermüdet zügig. Die französische Komödie „Das Nonnenrennen“ ist merkwürdig. Sie bemüht sich um Tempo, die Gag-Dichte ist hoch – und doch zündet wenig, und der 90-Minüter fühlt sich an wie ein Zweieinhalbstunden-Film.​

Die Wiesen mögen sattgrün sein, die Vögel mögen singen, doch im französischen Jura ist die Welt nicht mehr in Ordnung: Einer Handvoll Nonnen eines Benediktinerinnen-Klosters fällt auf, wie eng und voll es ist im lokalen und maroden Altersheim. Sie wollen Zuschüsse beantragen, aber ihr Schreiben landet in einer Amtsstube bloß auf einem meterhohen Papierstapel. Doch ein Radrennen im Ort verheißt ein Preisgeld von 25 000 Euro. Da wollen die Nonnen mitstrampeln, auch wenn nicht einmal jede von ihnen bisher auf einem Radsattel gesessen hat.​

Immer auf der Suche nach dem schnellen Lacher​

Eine sympathisch angeschrägte Idee, aber der Film macht wenig draus. Regisseur und Ko-Drehbuchautor Laurent Tirard („Asterix und Obelix – im Auftrag ihrer Majestät“) interessiert sich vor allem für den kurzfristigen Gag, den schnellen Lacher, für seine Figuren spürbar weniger. Den Nonnen gibt er per Rückblenden zwar Mini-Biografien mit, aber das bleibt doch herzlich flach; eine von ihnen etwa ist eine ehemalige Drogendealerin, die bei einer Schießerei von einer Bibel gerettet wurde – eine Kugel blieb im Buch stecken. Eine andere hat ein Schweigegelübde abgelegt und für jede Situation ein Schild parat – etwa eines mit „Aaaargh!“ als sie beim Radeln einen Abhang herabstürzt. Das ist zwei-, höchstens dreimal amüsant, doch der Film melkt die Idee gnadenlos zu Tode. Witziger, relativ gesehen, sind da Einfälle wie die Rad-Kunststücke einer konkurrierenden Nonnen-Truppe, untermalt von Johann Strauss’ Walzerklängen.​

Vorbild Louis de Funès?​

Man fühlt sich ein wenig an die Komödien-Atmosphäre der 1960er und 1970er mit Louis de Funès erinnert – eine Szene mit einem gebrochenen Bein, im 90-Grad-Winkel abgeknickt – wirkt wie ein Zitat aus dessen „Brust oder Keule“. Aber hatten solche Filme Tempo, ist das „Nonnenrennen“ bloß hektisch und kurzatmig. Gerne lässt Tirard seine Figuren hinfallen, umfallen, ausrutschen oder kreischen, seine Schauspielerinnen grimassieren, die Augen aufreißen, den Mund staunend offenstehen lassen – das wird einem schnell zu viel.​

„OSS 117 – Liebesgrüße aus Afrika“ mit Jean Dujardin

Ein Konflikt mit einer anderen Ordensschwester endet seifig-simpel-sentimental, und irgendwie hat dieser Film nichts mit der realen Welt zu tun: Das Kloster ist bloß ein schrulliger Hort der Verschrobenheit, und das marode Altersheim, immerhin Auslöser des Ganzen, interessiert den Film kaum; abgesehen vom zweifelhaften Pseudo-Gag, dass dort eine Frau mit ihrem Rollator zu langsam am Fernseher des Heims vorbeischleicht und so ihre Mitbewohner enerviert. Für einen schnellen Lacher tut dieser Film eben alles.​

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