Über Film und dieses & jenes

Kategorie: Kino (Seite 1 von 7)

„Gondola“ von Veit Helmer

Szene aus "Gondola" von Veit Helmer. Iva (Mathilde Irrmann) in ihrer Raketengondel. Foto. Jip Film

Iva (Mathilde Irrmann) in ihrer Raketengondel. Foto: Jip Film

 

Veit Helmer? Da klingelt es – wenn auch aus größerer Entfernung: Im Jahr 2000 war sein Film „Tuvalu“, eine märchenhafte und bildgewaltige Geschichte um ein altes Hallenbad, eine Schiffsreise und einiges mehr, ein Liebling beim Filmfestival Max Ophüls Preis; Helmer gewann mit seinem ersten langen Film in Saarbrücken den Publikumspreis.​

Seitdem hat der Regisseur aus Hannover, Jahrgang 1968, eine Handvoll Spielfilme gedreht (dazu auch Dokus und Werbespots): stets voller Fantasie und filmischer Verspieltheit, gerne poetisch überhöht, stets eigenwillig – und somit Produktionen, die eher in kleinen als großen Kinos zu sehen sind. Jetzt startet sein jüngster Film gleich in zwei Kinos im Saarland: im Filmhaus in Saarbrücken und in der Kinowerkstatt St. Ingbert, die zur Einstimmung auch den 2018er Helmer-Film „Der Lokführer, der die Liebe suchte…“ zeigt – über einen Bahnangestellten, an dessen Zug eines Tages ein BH hängen bleibt und der dann eine Odyssee auf der Suche nach der Besitzerin beginnt.​

Parallelwelt mit eigener Logik​

Auch „Gondola“, unterstützt unter anderem vom Saarländischen Rundfunk, ist ein echter Helmer, der Filmemacher bleibt seinem Stil und seiner Perspektive treu. Auch „Gondola“ spielt in einer Parallelwelt zu der unsrigen, die ihre ganz eigene Logik und Poesie hat. Sie wirkt ein wenig nostalgisch, zugleich zeitlos wie aus der Zeit gefallen. In den georgischen Bergen verbindet eine Seilbahn ein Dorf auf dem Berg mit einer kleinen Stadt im Tal. Als ein alter Schaffner stirbt und standesgemäß im Sarg per Seilbahn seine letzte Reise ins Tal antritt, kehrt seine Tocher Iva zurück ins Dorf, wo ihr erstmal eine gewise Feindschaft entgegenschlägt; sie übernimmt nun den Dienst in einer der beiden alten Gondeln und schwebt mehrmals täglich über das wolkenverhangene Tal.​

 

Regisseur Veit Helmer. Foto: Boryana Pandova

Regisseur Veit Helmer. Foto: Boryana Pandova

Jede halbe Stunde fährt sie an der zweiten Gondel vorbei, gesteuert von der Kollegin Nino. Ein paar Tage lang grüßt man sich knapp, dann etwas länger. Und aus dem Ganzen wird eine Art Flirt in luftiger Höhe, eifersüchtig beobachtet vom grobschlächtigen Seilbahn-Chef, der auch ein sprichwörtliches Auge auf Nino geworfen hat – vergeblich und sehr zu seinem Verdruss.​

„Perfect days“ von Wim Wenders

Ohne Dialoge, aber kein Stummfilm​

Eine kleine große Geschichte erzählt Helmer hier in seiner deutsch-georgischen Produktion – ohne Dialoge. Ein schlichtes „Okay“ ist mal am Rande zu hören, ansonsten erklingt auf der Tonspur vor allem die Mechanik der Seilbahn: Sie quietscht, knarzt, rattert, gibt auf Knopfdruck merkwürdige Geräusche von sich und ist so etwas wie eine eigene Figur im Film.​ Die Annäherung der beiden Frauen hat seinen Charme – Iva und Nino bauen, um das Gegenüber zu beeindrucken, ihre Gondeln mit Pappkulissen unter anderem in ein Schiff um, eine Rakete sogar, mit Mars als Reiseziel. Zudem spielen sie miteinander ein Schachspiel, das auf dem Berg auf den jeweils nächsten Zug der hochfahrenden Frauen wartet. Gäbe es in der Welt dieses Films Handys, wäre das alles nicht nötig – wie schade das wäre.​

„Ich versuche, Kritiken nicht zu lesen“: Interview mit Sandra Hüller

Bei der Annäherung der beiden Frauen gelingen dem Film herzerwärmende Bilder (Kamera: Goga Devdariani), wenn die Frauen etwa eine der Gondeln weihnachtlich schmücken und dort feiern. Die Darstellerinnen Mathilde Irrmann und Nino Soselia sind ausdrucksstark, was bei der Dialogfreiheit des Films sehr willkommen ist – aber sie übertreiben es nicht, eine exaltierte Stummfilm-Mimik muss man nicht fürchten.​

Zu minimalistische Handlung?​

Und doch muss man sich ein wenig einlassen auf den Film, denn die Geschichte ist für seine 83 Minuten ein wenig zu luftig – vielleicht hätte sich da auch ein knackiger Kurzfilm von einer halben Stunde angeboten? Einlassen muss man sich auch auf die betonte Niedlichkeit des Ganzen – die Musik von Malcolm Arison und Sóley Stefánsdóttir erinnert mitunter an Yann Tiersens Untermalung von „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Das Ganze hat eine filmische Wohlfühligkeit, die je nach Geschmack sehr willkommen ist oder doch manchmal etwas zu lieblich wirkt. Kino- oder Lebens-Zyniker sollten sich den Film also nicht anschauen. Aber für die dreht Veit Helmer seine Filme auch nicht – sondern für Anhängerinnen und Anhänger einer großen Lebensromantik.​

Seit dem 7 März unter anderem im Saarbrücker Filmhaus und Samstag bis Montag, 9. bis 11. März,  in der Kinowerkstatt St. Ingbert.

Neuer Leiter des Saarbrücker Filmhauses: Nils Daniel Peiler

Nils Daniel Peiler, 1988 in Saarbrücken geboren, ist ab 1. März Leiter des Saarbrücker Filmhauses. Foto:  Jessica Rhodes

Seine Wahl könnte durchaus ein Glücksgriff sein. Ab diesem Freitag ist Nils Daniel Peiler neuer Leiter des Saarbrücker Filmhauses und damit Nachfolger von Christel Drawer, ehemals Leiterin des Ophüls-Festivals, die das Kino zuletzt leitete und jetzt in Ruhestand geht. Der promovierte Filmwissenschaftler Peiler kommt nach einigen Jahren als Kurator der Kinemathek Hamburg jetzt in seine Geburtsstadt Saarbrücken zurück – und ins Filmhaus, „wo ich als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener regelmäßig Zuschauer war“, wie er sagt. „Für mich schließt sich gewissermaßen ein Kreis.“​ Saarbrückens Kulturdezernentin Sabine Dengel zeigt sich „sehr froh darüber, dass wir aus einer Vielzahl qualifizierter Bewerbungen jemanden mit großer Expertise auswählen konnten, der darüber hinaus bestens mit der Kinolandschaft Saarbrückens vertraut ist“.​

Promotion über Kubricks „2001“​

Beides ist nicht übertrieben. Peiler studierte Germanistik und Bildwissenschaften der Künste an der Universität Saarbrücken sowie Film- und Medienwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt, der Sorbonne Nouvelle in Paris und der Universität Amsterdam. Promoviert hat er mit einer Arbeit über die Rezeptionsgeschichte von Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker „2001: Odyssee im Weltraum“ – Peiler war auch einer Kuratoren der exzellenten 2018er-Ausstellung über Kubrick und „2001“ im Deutschen Filmmuseum Frankfurt.​

Ohne cineastische Scheuklappen​

In Saarbrücken hat Peiler, der auch als Lehrbeauftragter gearbeitet hat, Vorträge über Kino hält und journalistisch über Film schreibt, einige denkwürdige Veranstaltungen und Reihen im Kino Achteinhalb organisiert, die ihn als Person ohne cineastische Scheuklappen ausweisen. 2013 organisierte er eine Werkschau über Regisseur Stanley Donen („Singing in the Rain“) und eine viel beachtete komplette Retrospektive zu Filmemacher Wes Anderson („Grand Budapest Hotel“). 2014 zeigte er eine Reihe mit Filmen mit Louis de Funès, 2017 das Gesamtwerk von Jacques Tati – alles begleitet mit Einführungen und Diskussionen. 2018 wagte er im Achteinhalb ein gelungenes Experiment: Er zeigte Kubricks „2001“, kommentierte und erklärte den Film dabei. Im selben Jahr kam er zurück ins Achteinhalb und brachte den Komponisten Christian Bruhn mit, der dort am Klavier unter anderem seine Melodien zu „Wickie“ und „Timm Thaler“ spielte.​

Arbeit im Metropol Kino​

Zu dieser Zeit arbeitete Peiler schon für die Kinemathek Hamburg und deren Metropolis Kino – dort kuratierte er jüngst eine Horst-Buchholz-Reihe, auch gab es zuletzt Veranstaltungen mit Armin Mueller-Stahl und dem Musiker Irmin Schmidt (Can). Von Peiler kann man nun im Filmhaus  einiges erwarten. In diesem „attraktiven Ort mit herausragender Geschichte“ sieht er „großes Potential“.
(Interview folgt)

Kinoperle: Die Schauburg in Karlsruhe

Besuch in einem außergewöhnlich schönen Kino: die Schauburg in Karlsruhe.
1929 wurde sie erbaut, im Zweiten Weltkrieg zerstört, 1949 neu aufgebaut. Seit 2005 findet hier das Todd-AO-70mm-Festival statt.
Das Kino hat drei Säle: das Schauburg-Cinerama mit gekrümmter Leinwand von 17 auf sieben Meter (350 Plätze), das Cinema (150 Plätze), siehe Foto, und  das Bambi (61 Plätze). Programm unter Schauburg – Das Filmtheater in Karlsruhe.

 

Wenn das Kino der Kindheit vor sich hin bröckelt

Die selige Videothek in der Bleichstraße

Ein Fundstück aus der VHS-Ära

 

„Herzschlagkino“ von Andreas Pflüger – „77 Filme fürs Leben“

Andreas Pflüger (66) ist in Saarbrücken aufgewachsen. Nach dem Abbruch eines Theologie- und Philosophiestudiums arbeitete er als Taxifahrer, Möbelverkäufer und Koch, schrieb Hörspiele und viele Drehbücher, darunter 27 „Tatorte“. Sein jüngster Roman ist "Wie Sterben geht". Foto: Stefan Klüter
Andreas Pflüger (66) ist in Saarbrücken aufgewachsen. Nach dem Abbruch eines Theologie- und Philosophiestudiums arbeitete er als Taxifahrer, Möbelverkäufer und Koch, schrieb Hörspiele und viele Drehbücher, darunter 27 „Tatorte“. Sein jüngster Roman ist „Wie Sterben geht“. Foto: Stefan Klüter

 

Der saarländische Autor Andreas Pflüger schreibt über seine 77 liebsten Filme. In dem hinreißenden Band „Herzschlagkino“ erfährt man einiges über die Filme – aber auch viel über Pflüger selbst. Wieso hatte „Alien“ romantische Wirkung? Und wieso rief Götz George bei seinen Eltern an?​

Manchmal ist das so mit dem Kino. Man geht rein – und kommt ein bisschen größer wieder heraus. So war das auch bei Andreas Pflüger. Als ersten Film im Kino schaute er sich in Saarbrücken „Todesgrüße aus Shanghai“ an, ein Epos der stählernen Handkanten und spitzen Schreie von Bruce Lee, den übrigens in der deutschen Fassung Elmar Wepper wunderbar kernig spricht. Pflüger war damals 15, aber nach dem Film „kein Junge mehr, sondern ein brandgefährlicher Kerl; jedenfalls fühlte ich mich so“. Dass er später mal über Jahrzehnte hinweg Drehbücher schreiben würde, konnte er damals nicht wissen. Aber er wusste, so schreibt er es im Vorwort dieses Buchs, was er am Kino liebt: „Wenn der Vorhang aufgeht, will ich überwältigt werden, vom Sound, der Musik, von Bildern zu groß für die Leinwand.“ So sei aus ihm „ein Hollywood-Junkie“ geworden, „fürs gepflegte Kammerspiel bin ich verloren“.​

Kein Polieren unbekannter Perlen​

77 seiner liebsten Filme hat der saarländische Schriftsteller zusammengetragen, die meisten kommen im weitesten Sinne aus Hollywood, eine Handvoll aus Europa – „Diva“ etwa oder „Sommer vorm Balkon“. Pflüger will keine unbekannten Perlen polieren oder mit Geheimtipp-Nischenwissen angeben, die meisten Filme haben Klassiker-Status. Pflüger weiß, dass man bei Kalibern wie „The Shining“, „Das Schweigen der Lämmer“ oder „GoodFellas“ nicht mehr den Inhalt erklären muss – das wäre Ressourcen-Verschwendung.​ Vielmehr geht er die Filme aus anderen Perspektiven an, oft autobiografisch und gerne mit wohligen Abschweifungen; bei „Alien“ etwa geht es nur am Rande um HR Gigers Weltallmonster. Sondern vor allem um Elke, Pflügers damalige Kommilitonin, „mit so einem winzigen schwarzen Dingsbums auf der Wange und einem Lispeln, das mich verrückt machte“. Der galaktische Schrecken beim gemeinsamen Kinobesuch, der ersten Verabredung, führt dazu, dass Elke nicht alleine nach Hause gehen will. Der Rest ist Geschichte. Allerdings eine ziemlich kurze. Nach drei Wochen interessiert Elke sich deutlich stärker für „einen Typen, der einen roten Alfa Spider fuhr und Vergil auf Latein zitierte“.​

Auch Familiäres erfährt man – etwa, bei Pflügers Text zum Film „Shine“, dass seine Eltern nach seinem abgebrochenen Theologie-Studium und dem Wunsch, Autor zu werden, Schlimmstes befürchten, was den Lebensunterhalt angeht. Sie fragen aber lieber nicht mehr nach. Doch als er mal wieder zu Besuch aus Berlin da ist, klingelt beim Sonntagsbraten das Telefon. Die Mutter erbleicht rasant, denn es meldet sich Götz George; er will Pflüger sprechen, wohl wegen eines Drehbuchs. Fortan sorgen sich die Eltern nicht mehr, und der Vater fragt zum ersten Mal: „Erzähl mal, was Du so machst.“​

„Wehwehchen von Autoren mit vierstelligen Auflagen“​

Um Pflügers Arbeit als Autor geht es in den Filmbetrachtungen, ums Handwerk an sich, „das gerne gering geschätzt wird – aber nur von denen, die es nicht beherrschen“. Ein Autor etwa wie John Grisham, dessen Roman „Die Firma“ mit Tom Cruise verfilmt wurde, halte literarischen Stil und Rhythmus offensichtlich für „Wehwehchen von Autoren mit vierstelligen Auflagen“. Aber von seinen Plots könne man viel lernen, da sei Grisham so versiert wie ein „Waschbär beim Eierklauen“. Ebenso bewundert Pflüger an der dunklen Hollywood-Satire „Barton Fink“ der Coen-Brüder, dass in deren Drehbuch „nichts zu viel ist“. Gerade das sei eine besonders schwierige Kunst.​

Ab jetzt keine Drehbücher mehr​

Eine Schreibblockade, wie sie ein Autor in „Wonder Boys“ durchleidet (gespielt von Michael Douglas), erlebte er bisher fünf Mal, man „tut sich selbst leid und hasst die ganze Welt“. Zumindest eine Hürde im Arbeitsleben hat Pflüger aus dem Weg geräumt – die Diskussionen mit Produzentinnen und Produzenten bei Film und Fernsehen. Ein Produzent, unzufrieden mit einer ersten Drehbuchfassung, bat ihn, ihm doch einfach dieses „Pflüger-Feeling“ zu geben. „Das war fünf Minuten bevor ich beschloss, nur noch Romane zu schreiben.“​

Clint der Große​

Clint Eastwood hat es Pflüger bei den 77 Filmen am meisten angetan – sei es als Darsteller, Regisseur oder, meist, beides. Vier Mal taucht er auf, noch vor den Regisseuren Ridley Scott und Stanley Kubrick, dessen „Uhrwerk Orange“ er einst im Saarbrücker „Scala“ sah, der heutigen „Camera Zwo“. Keinen anderen Eastwood-Film hat er öfter gesehen als dessen Regie-Arbeit „Mystic River“, 30 oder 40 Mal – er ist sogar enttäuscht, wenn er ihn im Fernsehen verpasst. Bei Eastwood liebt er den Minimalismus, das ökonomische Erzählen, dieses „Nichts ist zu viel“ wie bei „Barton Fink“ der Coens.​

Kinos in Saarbrücken, Brüssel, Moskau​

Auch in verschiedene Kinos führt uns Pflüger, nicht nur in Saarbrücken, auch nach Paris: Dort lebt er Ende der 1970er für einige Zeit, schaut „Dr. Seltsam“ in einem Programmkino, „in dem es immer nach nassem Hund mit einem Quäntchen Knofi“ riecht und in das man am besten ein Kissen mitbringt, da die Bestuhlung schon kraftvoll durchgesessen ist. „Apocalypse Now“ sieht er auf Interrail-Reise in einem „abgerockten Brüsseler Bahnhofskino“; verstanden habe er den Film erst Jahre später.​ Den Westernklassiker „Die glorreichen Sieben“ schaut er sich 1993 im überheizten Rossija-Kino am Puschkinplatz in Moskau an; der US-Ton läuft im Hintergrund  – und im Vordergrund „ein russisches Voiceover, jede Rolle von derselben Frau gesprochen. Eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.“ Am Film mag Pflüger alles, auch Darsteller Horst Buchholz. Den lernt er später bei der Berlinale kennen; Buchholz habe einen „spektakulär versifften Flokati-Mantel“ getragen und viel geraucht, „ich glaube, er hat seine Kippen samt Filter gegessen. Ein Lachen wie ein Betonmischer.“ Aber die Buchholzschen Hollywood-Geschichten an diesem Abend klingen für Pflüger ehrlich, „er tat nicht, als hätte sein Stern in der Stadt der Engel hell gestrahlt“. Als Buchholz geht, hinterlässt er einen Geruch nach Mottenkugeln. Das ist schon große Kunst, wie Pflüger hier in einem kleinen Textabsatz einen melancholischen, zugleich unsentimentalen Abgesang auf eine schwierige Karriere anstimmt.​

„Da lernt man beten“​

Insgesamt kann man sich bei der Lektüre auch auf Pflügers Händchen für kernige Sätze und Pointen verlassen: Angesichts der damaligen Verrisse für den Science-Fiction-Film-Noir „Blade Runner“ bemerkt er lakonisch: „Die Ewigkeit schert sich nicht um Rezensionen.“ Bei „Silverado“ versucht er Western-Hasser zu bekehren, denn diese Filme seien ja auch bloß „Dramen, in denen Pferde mitspielen“. Angesichts des deutschen Films „Fanfaren der Liebe“, einer Art Pendant zu Billy Wilders „Manche mögen’s heiß“ warnt er lakonisch: „Da lernt man beten.“​ Aber auch sich selbst schont er nicht und gibt zu, angesichts von Brad Pitts Auftritt in „Thelma & Louise“ prophezeit zu haben, dass „der Kerl in der Versenkung verschwindet“. Man kann ja mal daneben liegen – was uns zu „Manche mögen’s heiß“ zurückführt und zu dessen letztem Dialogsatz. Es ist eben niemand vollkommen.  ​

Andreas Pflüger: Herzschlagkino. 77 Filme fürs Leben.
Arche, 165 Seiten, 17 Euro.
Info: www.andreaspflueger.de

„Luis Buñuel im Labyrinth der Schildkröten“ von Salvador Simó

Dreharbeiten im Elend: Luis Buñuel (rechts) und sein Team, das mit dem Großkünstler nicht immer einer Meinung ist.

Dreharbeiten im Elend: Luis Buñuel (rechts) und sein Team, das mit dem Großkünstler nicht immer einer Meinung ist. Foto: Good!Movies

 

Der Hass kommt aus jeder Richtung. „Faschist!“ schreien die einen, „Kommunist!“ die anderen – und ein Gotteslästerer ist er auch noch. So läuft im Film „Luis Buñuel im Labyrinth der Schildkröten“ die Pariser Premiere 1930 von „Das goldene Zeitalter“ ab, Buñuels zweitem Film. Der verstörte mit seinen surrealen Bildern ebenso wie ein Jahr zuvor des Spaniers Kinodebüt „Der andalusische Hund“ – unter anderem – man kennt es gut – mit dem Motiv der Rasiermesserklinge im Augapfel. Groß ist der Skandal um Buñuel, klein die Zahl der Geldgeber, die seine skandalträchtige Kunst unterstützen wollen. Auch nicht sein Kollege und zuvor künstlerischer Begleiter Salvador Dali, der sich blumen- und erfindungsreich herausredet: „Eine Wahrsagerin hat mir geraten, Freunden kein Geld zu leihen.“ Was tun?

In der Limousine zum Elend

Das ist der Ausgangspunkt dieses biografischen Animationsfilms von Salvador Simó, der auf einem Comic von Fermín Solís über Buñuel (1900-1983) basiert und die Geschichte seines nächsten Projekts nachzeichnet: Ein Buch macht ihn auf Las Hurdes aufmerksam, eine abgelegene Gebirgslandschaft in Spanien, mit katastrophaler Armut und viel Krankheit durch generationenlange Inzucht. Über das schwierige Leben und Überleben dort will der große Surrealist eine realistische Dokumentation drehen. Finanzieren mag das niemand. Außer einem engen Freund, dem Anarchisten und Bildhauer Ramón Acin. Doch der hat kein Geld, verspricht ihm aber, den Film namens „Las Hurdes – Land ohne Brot“ zu finanzieren, sollte er in der Lotterie gewinnen. Und da das Leben manchmal so ist wie ein schlechtes (oder auch surreales) Drehbuch, gewinnt Acin tatsächlich und finanziert den Film. Mit einem großspurigen neuen Auto, für das Buñuel schon mal ein Viertel des Budgets ausgibt, geht es bequem los in Richtung Elend.

Kein Denkmal

„Luis Buñuel im Labyrinth der Schildkröten“ – der Titel bezieht sich auf die flachen Steinhütten der Bewohner von Las Hurdes – setzt dem spanischen Künstler kein kritikloses Denkmal. Buñuel, befeuert von seiner Kunst, geht buchstäblich über Leichen, wenn auch zumindest nicht über die von Menschen: Ein lokales Ritual des Abreißens von Hühnerköpfen (lebend) stellt er gerne noch einmal nach, um es gut vor die Kamera zu bekommen; wenn Ziegen keine steilen Klippen herabstürzen wollen, hilft er nach, schließlich trägt er immer einen Revolver bei sich; und die tödliche Attacke wütender Bienen auf einen Esel provoziert er bewusst. Wie viel oder wenig dieses Tun allerdings mit dokumentarischer Arbeit zu tun hat (ganz abgesehen von der Grausamkeit), muss sich Buñuel irgendwann fragen. Sein entsetzter Freund/Produzent stellt sich diese Frage schon früher.

„Der wilde Planet“ auf Bluray

Um die Frage des Verhältnisses zwischen Dokumentarfilmer und seinen menschlichen Objekten geht es auch in diesem halbfiktionalen Film. Anfangs bereitet Buñuel seinem Team immer ein opulentes Frühstück zu, damit man zu den Dreharbeiten bei den Hungernden kein Essen mitnehmen muss, das man dann verteilen müsste. Doch mit der Zeit scheint er diese Elendswelt nicht mehr nur als faszinierende Kulisse für einen möglichst schockierenden Film zu begreifen, sondern wirklich als bedrückendes Thema. So ist „Luis Buñuel im Labyrinth der Schildkröten“ auch die Geschichte einer persönlichen Reife – zugleich aber auch eine satirische Komödie über Filmemacher, die sich mit Nobelauto und in edlem Zwirn dem großen Elend nähern.

Nostalgischer Animationsstil

Der Trickfilm, der im Dezember 2019 den Europäischen Filmpreis als Beste Animationsproduktion gewann, erzählt das alles (die Todesfälle abgesehen) mit leichter Hand, oft witzig, mit einem Animationsstil, der bewusst altmodischer und weniger fließend wirkt als glattere Hollywood-Trickfilme. In surrealen Traumsequenzen hat Buñuel wundersame Visionen und Gespräche, wird von Hühnern verfolgt (vor denen er sich wohl zeitlebens ängstigte) und sucht, ein Psychologie-Klassiker, die ihm bisher versagte Anerkennung seines Vaters. Regisseur Simó schneidet immer wieder kurze Szenen aus Bunuels „Las Hurdes“ in seinen Film hinein, ein interessanter Kontrast von Bildern und Ästhetiken.  Mit der Fertigstellung von „Las Hurdes“ (Bunuel schneidet ihn in seiner Küche) endet der Trickfilm, der noch auf das Schicksal des lotteriespielenden Produzenten verweist: Er wird im Spanischen Bürgerkrieg von den Faschisten erschossen, ebenso wie seine Frau.

Den Film gibt es auf DVD und Bluray bei Good!Movies.
Das Kino Achteinhalb zeigt ihn am Donnerstag, 1. Februar, OmU ab 19 Uhr. Vorher gibt es eine Einführung von Prof. Oleksandr Pronkevich von der Katholischen Universität Lviv, hinterher einen kleinen Umtrunk.

Christian Schwochow beim Ophüls-Festival: „Es war nicht so, dass ich da plötzlich viele schöne Angebote bekommen hätte“

Christian Schwochow mit Schauspielerin Luna Wedler bei den Dreharbeiten zu „Je suis Karl“. Der Film über den Versuch von Rechtsextremen, die Demokratie zu erschüttern, läuft am  Freitag, 26. Januar, 18 Uhr, im Cinestar 4. Foto: Dominik Wilzok / Pandora Film

Christian Schwochow mit Schauspielerin Luna Wedler bei den Dreharbeiten zu „Je suis Karl“. Der Film über den Versuch von Rechtsextremen, die Demokratie zu erschüttern, läuft am  Freitag, 26. Januar, 18 Uhr, im Cinestar 4.   Foto: Dominik Wilzok / Pandora Film

 

Lang, lang ist es her. Aber fragt man Christian Schwochow, bei welchen Filmen er einst beim Ophüls-Festival Publikumsgespräche moderierte, erinnert er sich ziemlich gut: „Da war ‚Muxmäuschenstill‘ dabei und hat dann den Ophüls-Preis gewonnen, ‚Katze im Sack‘ und auch ‚Der rote Elvis‘ über den Sänger Dean Reed in der DDR. Gleich fallen mir sicher noch ein paar mehr ein.“​ ​Damals, fast 20 Jahre ist das her, war Schwochow noch kein Regisseur, sondern studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg, war Mitte 20 und schnupperte in Saarbrücken erste Festival-Luft. Jetzt ist er wieder da, nun als etablierter Filmemacher, mit Kinofilmen im Lebenslauf, Fernseharbeiten wie „Bad Banks“, internationalen Arbeiten wie „The Crown“ und zuletzt der Netflix-Produktion „München – Im Angesicht des Krieges“. Als wir miteinander telefonieren, ist Schwochow gerade am Münchener Flughafen, frisch zurück aus Los Angeles von der Verleihung der „Emmy“-Fernsehpreise. „The Crown“ war nominiert, blieb ohne Preis, gewann ein paar Tage zuvor aber einen „Golden Globe“, nicht den ersten, diesmal für Schauspielerin Elizabeth Debicki in der Rolle von Lady Diana.​

Enttäuschung mit Kurzfilm​

An die frühen Saarbrücker Festivalzeiten denkt Schwochow, 1978 auf Rügen geboren, gerne zurück, „an die Camera Zwo und dieses schöne kleine Arthouse-Kino – Kino Achteinhalb, oder?“ und „an diese große Begeisterung für Film, an Leute, die sich für das Festival eine Woche Urlaub nehmen“. Den Traum, bei Ophüls selbst mal einen Film zu zeigen, den hatte er durchaus, „aber als ich meinen zweiten Kurzfilm eingereicht habe, wurde der leider nicht genommen“. Das schmerzt Schwochow damals sehr, aber die Enttäuschung ist vergessen, als er 2008 mit seinem Abschlussfilm „Novemberkind“ im Wettbewerb steht. Vor der Uraufführung in Saarbrücken macht er zwar Urlaub in Argentinien, schaut „aber täglich am PC nach, wie viele Kinokarten schon verkauft sind“. Dann bei Ophüls spürt er die Begeisterung bei den Vorstellungen – und gewinnt den Publikumspreis. „Ich war so glücklich und wusste, dass das ein guter Start für den Film ist“.​

Christian Schwochow, fotografiert von Frank Lamm.

Christian Schwochow, fotografiert von Frank Lamm.

 

 

Seitdem ist Schwochow immer mal wieder bei Ophüls: Sein Spielfilm „Die Unsichtbare“ steht 2011 im Wettbewerb, 2018 ist er Mitglied der Spielfilmjury. Hat sich das Festival in seinen Augen über die Jahre verändert? „Nicht verändert hat sich“, sagt er, „dass es immer noch um die Filme geht, um die Künstlerinnern und Künstler dahinter – nicht um Empfänge, nicht um rote Teppiche oder Glamour“. Mittlerweile gäbe es aber mehr Angebote im Rahmenprogramm für die Nachwuchsfilmer. „Die Bedeutung des Festivals ist nach wie vor sehr groß.“ Das wissen auch die Studentinnen und Studenten an seiner alten Filmhochschule in Ludwigsburg, sagt wer, wo er seit einigen Jahren Regie lehrt.​

Keine Strategie – auch wenn es so wirkt​

Schaut man sich Schwochows Filmografie an, wirkt seine Karriere gut organisiert – nach dem „Novemberkind“-Abschlussfilm die Etablierung im Fernsehen mit der Uwe-Tellkamp-Adaption „Der Turm“; einem „Tatort“ und der Reihe „Bad Banks“, parallel zu den Kinofilmen „Westen“, „Paula“, „Deutschstunde“ und „Je suis Karl“. Hatte er da eine Strategie, einen Masterplan, der aufgegangen ist? „Nein, das täuscht“, sagt Schwochow – zwar sei „Novemberkind“ im Kino gut gelaufen, „aber es war nicht so, dass ich da plötzlich viele schöne Angebote bekommen hätte“. Erst lange drei Jahre später kann er seinen zweiten Spielfilm drehen, „Die Unsichtbare“. In der Zwischenzeit „habe ich Konzepte für Produktionsfirmen geschrieben und sehr günstig gelebt – so kam ich über die Runden“. Das sei ihm lieber gewesen, als etwas zu drehen, was ihn nicht wirklich interessiert.​

„Man muss die Dinge selbst vorantreiben“​

Immerhin: Nach der „Unsichtbaren“ (und der Durststrecke davor) kommt das Angebot für den Zweiteiler „Der Turm“, da hat Schwochow schon länger den Kinofilm „Westen“ nach dem Drehbuch seiner Mutter Heide Schwochow vorbereitet – den dreht er zügig danach, hat seitdem viel und regelmäßig gearbeitet. „Man darf nicht zuhause sitzen und auf den Anruf mit dem perfekten Drehbuch warten“, sagt Schwochow, „man muss aktiv sein und die Dinge selbst vorantreiben“.​

Erster Kontakt nach England​

Dann kann eines zum anderen führen. Zum Beispiel zu „The Crown“ (2016-2023), der weltweit erfolgreichen Serie übers britische Königshaus. Schwochows NSU-Fernsehfilm „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“ läuft 2016 beim französischen Festival „Séries Mania“ und macht eine Agentur in England auf Schwochow aufmerksam. „Damals hat sich der britische Markt gerade für ausländische Talente geöffnet“, sagt er, „also fuhr ich mal für eine Woche nach England, hatte Termine, traf Leute“. Danach passiert länger gar nichts, bis sich Schwochows Londoner Agent meldet, es gäbe da Interesse an ihm seitens „The Crown“. Bei einem kurzen Vorstellungsgespräch trifft er den Produzenten (neudeutsch „Showrunner“) Peter Morgan, der „eher muffelig“ ist, wie Schwochow sagt. „Aber am Montag darauf hatte ich das feste Angebot, innerhalb von einer Woche war alles vertraglich geklärt.“ Schwochow steigt in der dritten Staffel ein, dreht danach zwei eigene Filme und kehrt dann nochmal zu der fünften und finalen sechsten Staffel zurück.​

„The Crown“ ist eine „Riesenmaschine“​

Wie muss man sich die „Crown“-Produktion vorstellen – doppelt so groß wie eine deutsche TV-Arbeit? „Eher fünf Mal so groß“, sagt Schwochow, mit mehr Personal, mehr Budget und mehr Drehzeit. Ist man in so einem Riesenzirkus auch als ein Regisseur von mehreren nur ein mittelgroßes Rädchen im Getriebe? „Das Ganze ist natürlich eine Riesenmaschine, eine gut geölte dazu“, sagt Schwochow, „aber am Ende bin ich es, der mit den Schauspielerinnen und Schauspielern auf dem Set steht“. Und mit einem guten Budget habe man mehr Zeit, „so dass man das Team und sich selbst nicht so durch einen Tag peitschen muss, wie es manchmal in Deutschland der Fall ist, weswegen die Leute nach zwei Monaten kaum noch können“.​

Netflix ruft an​

Während der Arbeit an „The Crown“ macht Netflix Schwochow das Angebot zum historischen Thriller „München – Im Angesicht des Krieges“ mit Jeremy Irons als britischem Premier Neville Chamberlain, der den Zweiten Weltkrieg diplomatisch zu verhindern versucht. Der Streaming-Anbieter will den Film schnell produzieren, und so ist Schwochow in einer beneidenswerten Lage: Er kann, anders als viele Kolleginnen und Kollegen, während der Pandemie arbeiten. Veteran Jeremy Irons hat den Ruf, bei der Arbeit mitunter schwierig zu sein. „Es hat mich ein bisschen Zeit gekostet, um sein Vertrauen zu gewinnen“, sagt Schwochow, „aber wir sind gut ausgekommen miteinander“. Das Drehen während der Pandemie ist nicht ganz einfach, „mit Masken und Tests, aber es war eine schöne Arbeit“.​

Demos gehen Rechts sind „gut, reichen aber nicht“​

In Saarbrücken zeigt und diskutiert Schwochow in dieser Woche drei Filme, von denen einer besonders gut in die aktuelle Lage passt: „Je suis Karl“, über das Erstarken der Rechten, gedreht 2019. „Für den Film bin ich ja nicht nur gelobt, sondern auch sehr kritisiert worden“, sagt Schwochow, „der Film sei übertrieben und überzeichnet, hieß es damals teilweise – diese Kritik habe ich nie verstanden“. Die Bedrohung durch die Rechte sei lange unterschätzt worden, „auch wenn die ziemlich deutlich sagt, was sie vorhat. Das ist für mich unerklärlich.“ Die Demonstrationen gegen Rechts im ganzen Land nach Bekanntwerden des „Remigrations“-Treffens sind für ihn „gut, aber das wird nicht reichen. Man muss sich mit den Leuten auseinandersetzen. Man muss sich den vielleicht unangenehmen Gesprächen stellen mit seinen Nachbarn oder auf der Straße oder im Bus.“ Einen Versuch, die AfD zu verbieten, sieht er skeptisch. „Ich bin nicht sicher, ob man damit etwas löst. Das könnte eher eine Art Märtyrer-Mythos schaffen.“​

„Hunderte von Leuten aus Deutschland plötzlich ohne Arbeit“​

Wie geht es für Schwochow weiter in diesem Jahr? So richtig weiß er es nicht. Die Arbeit an einer großen Serie für einen Streaming-Anbieter in Deutschland stand an, die Entwicklung war schon finanziert, doch der US-Mutterkonzern hat, wie es so unschön heißt, umstrukturiert und kein Interesse mehr an fiktionalen Programmen. „Da sind hunderte von Leuten aus Deutschland plötzlich ohne Arbeit gewesen“; eine andere Heimat für die Serie zu finden, wird nicht einfach, schätzt er. Für sie hatte Schwochow „relativ sichere Projekte“ abgesagt, die nun ohne ihn realisiert werden. „Zum ersten Mal seit einigen Jahren weiß ich nicht, was das nächste Projekt ist. Ich lese gerade verschiedene Sachen, habe mich aber noch nicht entschieden – und versuche diesen Zustand zu genießen. Erstmal bin ich ja beim Ophüls-Festival.“​


Die Termine
mit Christian Schwochow:
„Je suis Karl“, Freitag, 26. Januar, 18 Uhr, Cinestar 4.
„Paula“, Samstag, 27. Januar, 13.30 Uhr, Cinestar 1 – nach dem Film, gegen 15.45 Uhr, beginnt ein Werkstattgespräch.

Info und Karten:
www.ffmop.de

„Rickerl – Musik is höchstens a Hobby“ – Interview mit Regisseur Adrian Goiginger: „Ohne Voodoo würde es den Film gar nicht geben“

Die Bühne ist seine Heimat, mag sie noch so klein sein oder noch so verräuchert: Voodoo Jürgens als Musiker „Rickerl“ in einer Szene des Films, der an vielen sehr atmosphärischen Wiener Schauplät

Die Bühne ist seine Heimat, mag sie noch so klein sein oder noch so verräuchert: Voodoo Jürgens als Musiker „Rickerl“ in einer Szene des Films, der an vielen atmosphärischen Wiener Schauplätzen entstanden ist. Foto: Alessio M. Schroder / Giganten Film /Pandora Film

 

Der Film „Rickerl“ hat die 45. Ausgabe des Filmfestivals Max Ophüls Preis eröffnet. Er erzählt vom Wiener Musiker Erich „Rickerl“ Bohacek und dessen Versuch, von seiner Kunst zu leben. Aber ihm bleiben vor allem das Tingeln durch Wiener Kneipen oder Auftritte bei Begräbnissen. Die Hauptrolle spielt der Wiener Liedermacher Voodoo Jürgens. Regisseur und Autor des Films ist Adrian Goiginger, dessen erster Spielfilm „Die beste aller Welten bei der Berlinale lief.

Glückwunsch zum Film und zum Platz als Eröffnungsfilm in Saarbrücken – wie kam es dazu?​

GOIGINGER Wir sind einfach eingeladen worden – da „Rickerl“ mein vierter Spielfilm und Ophüls ein Nachwuchsfestival ist, hätte ich auch nicht mehr in den Wettbewerb gepasst. Wir freuen uns sehr – und es hilft uns auch bei unserem deutschen Kinostart am 1. Februar.​

Waren Sie vorher schon mal beim Ophüls-Festival?​

GOIGINGER Nein, aber wir wären gerne mal hier gewesen – 2016 hatten wir „Die beste aller Welten“ für den Wettbewerb eingereicht, wurden aber nicht genommen. Dann hatte der Film seine Premiere bei der Berlinale 2017. Das war auch nicht schlecht.​

Der Regisseur und Autor Adrian Goiginger (32). Sein nächstes Kinoprojekt nach „Rickerl“ ist „Vier minus drei“ nach dem Buch von Barbara Pachl-Eberhart  Foto: Giganten Film

Der Regisseur und Autor Adrian Goiginger (32). Sein nächstes Kinoprojekt nach „Rickerl“ ist „Vier minus drei“ nach dem Buch von Barbara Pachl-Eberhart.  Foto: Giganten Film

Am Anfang von „Rickerl“ ist ganz kurz Regisseur Arman T. Riahi als Friedhofsgärtner zu sehen. Er und sein Bruder Arash, auch Regisseur und Produzent,  sind mit ihren Filmen regelmäßig beim Ophüls-Festival dabei. Wie kam es zu dem Gastauftritt?​

GOIGINGER Ich hatte in seinem Film „Fuchs im Bau“, der ja auch bei Ophüls  lief, eine kleine Rolle gespielt, da hatte er mich ins kalte Wasser geschmissen – und das habe ich jetzt mit ihm gemacht. Wir sind Freunde und haben wir uns den Gag erlaubt, uns gegenseitig zu besetzen. Es sind nur winzige Rollen, denn Schauspieler sind wir beide nicht.​

Wie bekannt ist Ihr „Rickerl“-Hauptdarsteller Voodoo Jürgens, bürgerlich David Öllerer, in Österreich? Es liegt sicher an mir, aber ich hatte zuvor von ihm noch nie gehört.​

GOIGINGER In Österreich ist er sehr bekannt, dort kennt fast jeder seinen Namen, in Wien jeder – da sind seine Konzerte immer ausverkauft. In Deutschland kennt man ihn eher in den großen Städten, er hat da ein junges urbanes Publikum.​

War er der Anstoß zum Film? Oder hatten Sie erst die Idee zu „Rickerl“ und mussten dann den richtigen Darsteller suchen?​

GOIGINGER Ohne Voodoo würde es den Film gar nicht geben. Erst durch seine Musik bin ich auf die Idee des Films gekommen, der eben nur mit ihm in der Hauptrolle und mit seiner Musik funktioniert. Ich habe ihn dann ganz offiziell über das Management kontaktiert, zu einem Casting eingeladen. Insgesamt hat es vier, fünf Jahre gedauert vom ersten Treffen bis zum fertigen „Rickerl“ – was für einen Film ziemlich normal ist.​

Musiker Stefan Mathieu: „Ein Werk darf auch verschwinden“

Wie haben Sie das Drehbuch geschrieben?                      ​

GOIGINGER Wir haben uns immer wieder getroffen, er hat mir Geschichten erzählt, ich habe ihn ausgefragt über seine Texte, wir haben über Figuren gesprochen, darüber, welche Songs unbedingt in den Film müssen – und das Ganze habe ich dann als Drehbuchautor zusammengefasst.​

Voodoo ist nun kein Schauspieler – hatten Sie Angst, dass das nicht funktioniert?​

GOIGINGER Am Anfang schon, deshalb haben wir einen Probedreh gemacht und an einem Tag  einen Kurzfilm gedreht. Dann haben wir fünf, sechs Wochen geprobt. Da war mir klar, dass er das Ganze sehr ernst nimmt und dass er grundsätzlich Talent hat – technische Dinge kann man ja lernen.​

Aber er spielt nicht sich selbst?​

GOIGINGER Nein, er hat das selbst am besten gesagt – er hat die Kunstfigur Voodoo Jürgens geschaffen und jetzt die Kunstfigur Rickerl, der er seine Songs leiht. Es gibt zwar Parallelen zwischen Rickerl und Voodoo – er war selbst auch oft beim „Service für Arbeitssuchende“, hat bei einem Friedhof gearbeitet – aber der Film ist keine Biografie. Biopic ist nicht mein Genre. Uns ging es um das Lebensgefühl der Texte und das in Wien.​

Der Film hat in der deutschen Kinoversion deutsche Untertitel – auch in Österreich?​

GOIGINGER Nein, der Dialekt ist in Österreich leicht verständlich. Da gibt es schwerer verständliche – im Vorarlberg oder in Tirol etwa. In Deutschland hat der Film je nach Region Untertitel oder nicht. In Bayern sollte es ohne Untertitel gehen, aber nördlich von der Isar kann es dann schon eng werden. Ich bin selbst ja kein Wiener, sondern Salzburger – deshalb musste mein Drehbuch erstmal ins Wienerische übersetzt werden, das ich nicht beherrsche. Als Nicht-Wiener Österreicher hat man generell eine gewisse Hassliebe in Richtung Wien. Man mag die Wiener nicht so, weil sie so „großkopfert“ wirken und ein bisschen auf die Bundesländer herabschauen. Zugleich bewundert man sie auch, weil sie so einen Schmäh haben, so einen Wortwitz. Den Humor würde ich mit dem jüdischen Humor vergleichen, ein bisschen makaber, dabei elegant.​

Wie haben Sie als Nicht-Wiener die Wiener Drehorte gefunden und ausgesucht?​

GOIGINGER Mir wären nur die üblichen touristischen Drehorte eingefallen. Aber Voodoo kennt sich aus, hatte seine Ideen, und im Team waren vor allem Wienerinnen und Wiener, das hat geholfen.​

Es gab keine Studiosets oder Ähnliches?​

GOIGINGER Nein, wir waren an Originalschauplätzen, haben mit möglichst kleinem Team gearbeitet und in den Kneipen auch ein paar Stammgäste als Schauspieler engagiert – mit einer kleinen Rolle und ein paar Sätzen. Das schafft eine schöne Authentizität.​

Der Film ist digital gedreht, was ja oft eine sehr glatte Anmutung hat. „Rickerl“ sieht aber schön körnig aus, manchmal fast wie altes 16-Millimeter-Material.​

GOIGINGER Kameramann Paul Sprinz hat alles versucht, um einen möglichst analogen Look zu schaffen. Wir konnten nicht mit analogen Filmkameras drehen, das kostet mehr, auch die Beleuchtung ist aufwändiger, das hätte uns im Ablauf gestört. Auch inhaltlich wollten wir einen nostalgischen Retro-Charme schaffen. Rickerl hat kein Smartphone, und man darf noch überall  rauchen.​

Es wird auffällig viel geraucht in Ihrem Film.​

GOIGINGER In Österreich gibt es ja im Gegensatz zu Deutschland ein komplettes Rauchverbot. Das hat ganz viele Wiener hart getroffen, denn in den vielen Caféhäusern gehört das Rauchen zum Teil der Kultur. Da dachten wir, wir drehen eine Komödie, die etwas überhöht und überspitzt ist – und da darf man überall noch rauchen, im Kino, in der Straßenbahn und so weiter.​

Wie dreht man denn Rauch-Szenen in den Kneipen, wenn es Rauchverbot gibt?​

GOIGINGER Für Filmdrehs gibt es natürlich Ausnahmen. Man darf ja auch privat keine Autos in die Luft jagen.​

Ihr Film ist sehr bittersüß, bringt Witz und Melancholie zusammen. Haben Sie da ein Vorbild?​

GOIGINGER Ja, Charlie Chaplin. Bei seinem Film „The Kid“ gibt es anfangs einen Text, dass man als Publikum bei dem Film lachen kann – und vielleicht auch eine Träne vergießen.  Bei Filmen wird ja manchmal vergessen, dass es das gleichzeitig gibt. Nur Komödie oder nur trauriger Film – das mag ich nicht. Beides im Film zu haben, war eigentlich nicht so schwierig, weil wir durch den Wortwitz schon einigen Humor haben, und die Vater-Sohn-Beziehung ist sehr anrührend.​

Im Film schaut sich Rickerl Szenen aus den 60er-Jahre-Filmen „Heißes Pflaster Köln“ und Die liebestollen Dirndl von Tirol“ an – beides von der berühmt-berüchtigten Produktionsfirma Lisa Film, die uns unter anderem „Ein Schloss am Wörthersee“ und die „Supernasen“-Filme mit Thomas Gottschalk und Mike Krüger kredenzt haben. Wie kamen Sie auf die Filme?​

GOIGINGER „Heißes Pflaster Köln“, einer der Lieblingsfilme von Voodoo, wollte ich unbedingt im Film haben. Der spielt in Köln im Unterweltmilieu, das plötzlich von Gangstern aus Wien aufgemischt wird, was sehr witzig ist. Und „Liebestolle Dirndl“ läuft ja in einem Sex-Shop, in dem der Rickerl arbeitet. Da schaut sich sein Sohn die ersten Minuten von diesem Fummel- und Schmuddelfilm an. Und so war es auch bei mir: Meine Mutter hat in einem Sex-Shop gearbeitet, und ich habe als Kind von solchen Filmen die ersten fünf oder zehn Minuten sehen dürfen – in denen eben noch nichts geschehen ist.​

Ihr Film läuft jetzt bei einem Festival, das sich dem Nachwuchs widmet – was würden Sie diesem Nachwuchs raten?​

GOIGINGER Ich bin früh mit Filmen gescheitert, die ich nach irgendwelchen Bedürfnissen ausgerichtet habe. Da dachte ich mir: Dann kann ich das auch mit Filmen tun, an denen mein Herz hängt. Und ab da lief es besser. Man sollte nicht spekulieren, was vielleicht gut ankommen kann. Man ist immer am besten, wenn man 100 Prozent an das glaubt, was macht. Ich weiß, dass das kitschig klingt – aber es stimmt eben.​

 

Der Film läuft noch einmal am Freitag, 26.1., um 19.30 Uhr im Cinestar. Bundesstart am 1. Februar über Pandora Film.
Karten, Programm, Termine:
www.ffmop.de​

Interview zu Doku über Asta Nielsen: „Das war eine feministische Ansage“

Asta Nielsen auf einer historischen Starpostkarte.

Asta Nielsen auf einer historischen Starpostkarte.      Foto: Stiftung Deutsche Kinemathek

Asta Nielsen (1881-1972) war der erste große Star des Stummfilms, die Dänin spielte in vielen deutschen Produktionen unkonventionelle Figuren und lebte auch unkonventionell: Sie gestaltete ihre Karriere selbst, handelte eine frühe Gewinnbeteiligung aus, verlor zweimal ihr Vermögen und heiratete mehrfach, zuletzt im Alter von 88 Jahren. In der aktuellen Ausstellung „Der deutsche Film“ im Weltkulturerbe Völklinger Hütte hat sie einen prominenten Platz und ist nun auch das erste Thema im Rahmenprogramm. Die Filmemacherin Sabine Jainski zeigt ihre Doku „Asta Nielsen – Europas erste Filmikone“. ​

 

Wenn man Asta Nielsens Popularität auf ihrem Zenit mit der eines weiblichen Stars von heute vergleicht – wer würde ihr gleichkommen?​

JAINSKI Vielleicht Cate Blanchett? Es müsste eine Frau sein, die auf der ganzen Welt ein Superstar ist und sowohl als Komikerin wie als ernste Schauspielerin Erfolg hat, die eine Rollenbreite vom Teenager bis zur alternden Prostituierten verkörpern kann. Ich bezweifle, dass Schauspielerinnen heute überhaupt noch so viel Freiheit und Vielfalt zugestanden wird, wie sie sich Asta Nielsen damals nehmen konnte. Am ehesten gelang das vielleicht Schauspielerinnen wie Meryl Streep oder Helen Mirren über den gesamten Verlauf ihrer Karriere. Asta hat ja „nur“ im Alter zwischen 29 und 51 Jahren im Film gespielt.​

 

Die Journalistin und Filmemacherin Sabine Jainski. Foto: Elena Ternovaja

Die Journalistin und Filmemacherin Sabine Jainski.     Foto: Elena Ternovaja

Wie kamen Sie auf das Thema Asta Nielsen?​

JAINSKI Die neue Biografie von Barbara Beuys, „Asta Nielsen. Filmgenie und neue Frau“, gab den Anstoß für meinen Film, die Idee kam von der Produzentin Irene Höfer von Medea Film Factory. Ich kannte Asta Nielsen nur oberflächlich als Stummfilmstar, aber ich hatte keine Ahnung, was für eine faszinierende Persönlichkeit sich hinter dem Namen verbarg. Sie hat als alleinerziehende Mutter aus einem Arbeiterhaushalt um 1900 selbstständig eine Schauspielkarriere verfolgt. Besonders spannend fand ich, welche kreative Freiheit sie im frühen Film genoss – sie gestaltete ihre Rollen selbst, bis hin zu Maske und Kostüm, und beteiligte sich auch an Regie und Schnitt. Die Filme realisierte sie gemeinsam mit ihrem Partner, Drehbuchautor und Regisseur Urban Gad, und sie suchte sich unglaublich vielfältige Rollen aus: als alleinerziehende Mutter, arme Putzfrau, verliebter Teenager, aber auch als Bergwerksbesitzerin oder als Suffragette. Das war auch eine feministische Ansage: Frauen wollen eigene Karrieren, sie wollen nicht an Heim und Herd gekettet sein, sie wollen selbst über ihr Leben bestimmen, und sie wollen das Wahlrecht.​

In Ihrem Film heißt es, dass Nielsen keine klassisch-konventionelle Schönheit war – was hat das männliche Kinopublikum an ihr fasziniert?​

JAINSKI Ihre schlanke Figur wäre heute sehr gefragt, aber in den 1910er Jahren orientierte sich das weibliche Schönheitsideal eher an der Rubens-Figur. Zudem war sie dunkelhaarig und nicht blond, was auch manchen Dänen nicht gefiel. Erst in den 1920er Jahren wurden die androgynen „Neuen Frauen“ mit Bubikopf modern, die sie so erfolgreich verkörperte. Die Filmkritikerin Nanna Rasmussen sagt in meinem Film, dass sie ein Symbol gefährlicher, faszinierender Erotik war – sie wirkte geheimnisvoll und verführerisch.​

Alte Kinoanzeigen

Und das weibliche Kinopublikum?​

JAINSKI Das frühe Kino war auch ein Freiraum für das weibliche Publikum, wie die Biografin Barbara Beuys in meinem Film erklärt. Die Frauen konnten sich in Asta Nielsens Figuren wiederfinden, weil sie den Alltag ihrer Zeit auf die Leinwand brachte. Asta spielte berufstätige Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten und zeigte, wie schwer der berufliche Aufstieg war, oder welche Folgen eine unerwünschte Schwangerschaft für Frauen hatte. Sie zeigte, in welchen Abhängigkeitsverhältnissen sich die Frauen befanden. Und wenn sie Männer spielte, war sie durchaus auch für Frauen eine große Verführerin.​

Sie hat unter der Marke „Die Asta“ Dinge vermarktet – war sie eine Pionierin des Merchandise? Und eine Gewinnbeteiligung an Filmen auszuhandeln, war damals auch unerhört, oder?​

JAINSKI Es war eher so, dass andere Geschäftsleute ihre Popularität ausnutzten und Dinge unter ihrem Namen herausbrachten. Sie hat versucht, das zu begrenzen und zu kontrollieren. Vor Gericht ist sie damit allerdings gescheitert. Das Merchandise entstand eher gegen ihren Willen, aber es war wohl zum ersten Mal derart umfassend – es gab unter anderem Schnittchen, Seife, Parfum und Operngläser. Die Gewinnbeteiligung von einem Drittel der Filmeinnahmen war dagegen wirklich ihr großer Coup. Das war 1911, sie hatte ja gerade erst mit ihrem dänischen Filmdebüt einen Riesenerfolg gelandet, und nun sollte sie die große Chance auf eine langjährige Serie in Deutschland bekommen – und da hat sie gleich alles auf eine Karte gesetzt und gewonnen. Sie hat sehr früh begriffen, dass sich mit Filmen Geld verdienen lässt und dass sie sich selbst als Filmstar vermarkten muss.​

Ein Blick in die Völklinger Ausstellung „Der deutsche Film". Es läuft ein Filmausschnitt aus „Engelein" von 1914, daneben hängt das Plakat zum Film mit Asta Nielsen. Foto: Hans-Georg Merkel / Weltkulturerbe Völklinger Hütte

Ein Blick in die Völklinger Ausstellung „Der deutsche Film“. Es läuft ein Filmausschnitt aus „Engelein“ von 1914, daneben hängt das Plakat zum Film mit Asta Nielsen. Foto: Hans-Georg Merkel / Weltkulturerbe Völklinger Hütte

Nielsen spielte einen weiblichen „Hamlet“, der sagt: „Ich bin kein Mann, muss aber auch keine Frau sein“. Wie wurde das damals verstanden und aufgenommen? Das klingt sehr aktuell.​

JAINSKI Soweit ich weiß, hatte die französische Theaterschauspielerin Sarah Bernhardt als erste Frau den „Hamlet“ gespielt, das war sicher ein Vorbild für Asta Nielsen. Asta hatte auch schon in den 1910er Jahren mehrere komische Hosenrollen gespielt. In „Das Liebes-ABC“ sieht sie fast aus wie Charlie Chaplin. Ihr „Hamlet“ war 1922 ein weltweiter Hit, weil sie in dieser Rolle als Komikerin und als tragische Heldin brillieren konnte. Sie gab der Figur Hamlet damit eine ganz andere Motivation, nicht nur den Vater, sondern auch die eigene unterdrückte Existenz als Frau zu rächen. Sie spielt eine Figur, die zwischen den Geschlechtern steht und die feste Rollenzuschreibung von Mann und Frau infrage stellt. Das ist genau das, was wir heute diskutieren. Ich war immer wieder unglaublich verblüfft, dass Asta Nielsen bereits vor über 100 Jahren genau dieselben Fragen gestellt hat, an denen wir heute immer noch knabbern. Offenbar sind wir gesellschaftlich doch noch nicht so viel weiter als in den 1920er Jahren.​

Das nostalgische Kinomagazin „35 Millimeter“

Nielsens Filmkarriere endete in den 1930ern – warum? War es der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, der manche Karrieren abrupt beendete?​

JAINSKI Der Tonfilm war kein Problem, sie hatte ja jahrelang auf Deutsch Theater gespielt. Das hört man auch in ihrem ersten und leider einzigen Tonfilm, „Unmögliche Liebe“. Kurz nach der Premiere dieses Films kam Adolf Hitler an die Macht und er wollte Nielsen für seine Sache gewinnen. Sie hat durchaus geschwankt, aber sich dann letztlich doch entschieden, nicht mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Sie hat dann keine Filme mehr gedreht, sondern weiter am Theater gearbeitet.​

Ihr Film endet mit der letzten Ehe von Asta Nielsen, spart ihren Tod 1972 aber aus – warum?​

JAINSKI Ich fand es unglaublich faszinierend, wie oft Asta Nielsen privat wie beruflich immer wieder von vorne angefangen hat. Sie hat zwei Weltkriege überlebt, dreimal ihr Vermögen verloren, zwei Produktionsfirmen gingen den Bach hinunter, sie hatte drei gescheiterte Ehen hinter sich, war ab den 1950er Jahren in Dänemark sehr einsam. Und dann fängt sie im hohen Alter noch eine neue Beziehung zu dem Kunsthändler Christian Theede an – und heiratet ihn mit 88 Jahren! Was für ein Vorbild! Er hat sie dann bis zu ihrem Tod begleitet.​

Termin: Donnerstag, 18. Januar, 18.30 Uhr. Nach der Filmvorstellung gibt es ein Gespräch mit Sabine Jainski, Kurator und Weltkulturerbe-Vorstand Ralf Beil und dem Publikum. Der Eintritt ist frei. Infos: Weltkulturerbe Völklinger Hütte.

Die Doku ist in der Mediathek von Arte zu sehen.

Kontakt zu Sabine Jainski: www.jaunski.de

Dux-Kino 68 – Das erste Heimkino aus der Kindheit

Bevor Jahre später der klobige Super-8-Projektor von Bauer ins Haus kam, war dies die erste Berührung mit Heimkino: das selige Dux-Kino 68 von der Firma Markes & Co. aus Lüdenscheid.  Der Filmbetrieb funktionierte per Kurbel, man konnte die Bilder an die Pseudo-Leinwand im Verpackungsdeckel strahlen – oder einfach vorne reinschauen. Dazu gab es (sehr kurze) Filme wie „Bugs Bunny und die Marsmenschen“ oder auch „Tweety in Nöten“.  Im alten Kinderzimmer liegt noch fast alles, nur das Herzstück ist verschwunden – der alte, batteriebetriebene Mini-Projektor.

Das erste Kino der Kindheit

 

Der Projektor Dux-Kino 68

Neulich beim Aufräumen gefunden.

 

Verpackung des Spielzeugs Dux-Kino 68

Vorne reinschauen – fertig ist das „Tageslicht-Kino“

Dux-Kino 68

Die Leinwand im Deckel.

 

Dux-Kino 68

Zwei Filme, die die Zeit überlebt haben.

„Lola“ von Andrew Legge – England im NS-Gleichschritt

Die Schwestern und ihre Maschine: Thomasina Hanbury (Emma Appleton, links) und Martha (Stefanie Martini) vor dem Apparat Lola, mit dem man in die Zukunft schauen kann. ​ Foto: Neue Visionen

Die Schwestern und ihre Maschine: Thomasina Hanbury (Emma Appleton, links) und Martha (Stefanie Martini) vor dem Apparat Lola, mit dem man in die Zukunft schauen kann. ​ Foto: Neue Visionen

Es ist ein alter Traum, ein ewiges „Was wäre wenn“: Könnte man doch in die Zukunft schauen. Erfahren, was Schicksal (oder Zufall, je nach persönlicher Philosophie) für einen in petto hat. Wissen, wie sich die Weltgeschichte entwickelt. Die Hanbury-Schwestern Thomasina (Emma Appleton) und Martha (Stefanie Martini)  müssen nicht mehr mutmaßen – in ihrem leicht verlotterten britischen Landhaus haben sie eine Maschine namens Lola zusammengeschraubt; die mag aussehen wie ein transparenter Teller plus Schreibmaschinentastatur, hat es aber in sich. Lola  zeigt den Schwestern Fernseh- und Radio-Schnipsel aus der Zukunft, Wochenschauen, Videoclips. Die Gegenwart der Schwestern ist das Jahr 1938 – entsprechend überrascht sind sie, als Lola ihnen eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1973 zeigt: einen schmalen Engländer mit ungewöhnlicher Frisur, der etwas von einem „Major Tom“ singt. Sie erblicken David Bowie, hören „Space Oddity“ und wissen: „Wir sehen in die Zukunft“. Nur: Was fängt man an mit dieser Gewissheit? Und mit dieser Maschine?​

Die Luftschlacht um England​

Der irisch-englische Film „Lola“ ist ein Geheimtipp, eine kleine, schwarzweiß schimmernde Kinoperle. Der Dubliner Regisseur Andrew Legge, der hier seinen ersten Spielfilm vorlegt, interessiert sich offenbar für das Phänomen Zeit. In seinem 2009er Kurzfilm „The Chronoscope“ entwickelt eine Wissenschaftlerin einen Apparat, mit dem man in die Vergangenheit blicken kann;  in „Lola“ öffnet die Maschine den Schwestern einen Blick in die Zukunft, was finanziell ein Segen ist – da sie wissen, welches Tier beim Pferderennen die Nüstern vorne hat, können sie ihren Lebensunterhalt mit Wett-Gewinnen bestreiten. Doch als Deutschland ab 1940 mit Bombenangriffen versucht, England in die Knie zu zwingen, wird Lola auch historisch wichtig: Die Schwestern schauen sich Wochenschauen über die Attacken aus der Zukunft an, wissen, wo die Bomben einschlagen werden und informieren das Militär, sodass die Menschen dort rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. Die Schwestern werden schnell zu einer Sensation, sind dem Militär aber ein Dorn im Auge, da sie unerkannt bleiben und sich bloß per Funkspruch melden. Die Uniformträger versuchen, die Schwestern zu finden.​

Collage von „fake news“​

Die Geschichte von „Lola“ ist wendungsreich, die Machart wunderbar eigenwillig: Wie das Militär die Schwestern findet, die Maschine in ihre Kriegstaktik einbindet, wie das Schwesternverhältnis rissig wird, als sich ein Soldat besonders für Martha interessiert, wie die eigene Verantwortung wächst – das erzählt Legge in Form einer großen, grobkörnigen Collage aus Spielszenen, oft mit Wackelkamera eingefangen, aus realen und aus fingierten Zeitungsseiten und Wochenschauen, die mal unbearbeitet, mal sehr geschickt verfälscht sind – filmische fake news. Etwa wenn Großbritannien feiert, dass Hitlerdeutschland seine Angriffe einstellt, weil die Royal Air Force, wie bei Fuchs und Hase, immer schon da ist, wo die Luftwaffe hinfliegt. Aus der Zukunft entlehnen die Schwestern den Song „You really got me“ von den Kinks aus dem Jahr 1964 – in ihrer angeswingten Version wird das Stück zur britischen Hymne auf den (scheinbaren) Sieg gegen Nazi-Deutschland.​

 

Szene aus dem Film "Lola" mit Martha (Stefanie Martini) und dem britische Offizier Holloway (Rory Fleck Byrne). Foto: Neue Visionen

Martha (Stefanie Martini) und der britische Offizier Holloway (Rory Fleck Byrne). Foto: Neue Visionen

Doch das Verändern der Gegenwart hat seine Tücken. Als sich die Schwestern wieder mal Bowie in den 1970ern anschauen wollen, sehen sie auf dem Lola-Bildschirm nur einen Mann namens Reginald Watson, der ein Loblied auf Füße und Stiefel anstimmt, die im Gleichschritt marschieren – eine Art Synthie-Fascho-Pop, auf absurde Weise witzig wie gleichermaßen erschreckend (geschrieben und gespielt von Neil Hannon von der britischen Band The Divine Comedy). Und da Lolas Aufzeichnungen aus der Zukunft nicht ganz zuverlässig sind, kommt es dazu, worüber etwa Len Deighton im Roman „SS-GB“ oder die TV-Serie „The man in the high castle“ spekuliert haben – NS-Deutschland erobert England. Davon erzählt Regisseur Legge, dem schmalen Budget zum Trotz, meisterlich, mit beängstigenden Bildern – unter anderem mit Wochenschau-Aufnahmen, die deutsche Kriegsschiffe auf der Themse zeigen, die das Parlamentsgebäude beschießen. Und „der Führer“ schwebt per Flugzeug auch noch ein. Das alles ist packend und trickreich inszeniert.​

Die ungleichen Schwestern​

Was „Lola“ nicht ganz so gut gelingt, ist die Charakterzeichnung der Schwestern – die hat einen ziemlich groben Strich. Da ist die eher liebliche, moralisch stabile Mars, wie ein gutes Gewissen; und da ist Thom, die eine gewisse Bitterkeit mit sich herumträgt, bei militärischer Taktik wenig zimperlich ist (ein US-Passagierschiff als Köder für deutsche U-Boote) und schließlich der Macht erliegt, die sie durch ihre Erfindung erlangt – in NS-England. Aber diese Schwäche nimmt „Lola“, diesem eigenwilligen „Was wäre wenn“, nichts von der filmischen Frische.​

In Saarbrücken gerade in der Camera Zwo zu sehen.

« Ältere Beiträge

© 2024 KINOBLOG

Theme von Anders NorénHoch ↑