Film und dieses & jenes

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„Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ von Claudia Müller


Elfriede Jelinek in einer alten TV-Sendung, ein Ausschnitt ist auch im Film zusehen. Foto: Plan C

Egal, ob es nun ein Ziel dieser Dokumentation ist oder nicht: Hat man den Film gesehen, möchte man im nächsten Buchladen nach Werken der Schriftstellerin schauen. „ Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ ist ein packendes, dichtes Porträt – literarisch, biografisch und politisch, voller Texte und Sprachlust, voller klug montierter Bilder und Szenen. Man ist sofort mittendrin im Thema Jelinek, wenn der Film einen alten TV-Mitschnitt zeigt, in dem die Schriftstellerin die wenige Zeit in einer Literatursendung für Autorinnen kritisiert (50 Minuten für Männer contra zehn für Frauen), dann die Verkündung des Literaturnobelpreises 2004 gezeigt wird und Jelinek aus dem Off kommentiert: „Ich kann da nicht hinfahren“, wegen einer Angststörung. „Rausgehen, das kann ich nicht mehr.“ Darüber, wie weit diese Angststörung, an der sie seit ihrer Jugend leidet, auch weiter befeuert wird vom Hass, der Jelinek in ihrer österreichischen Heimat entgegenschlägt, spekuliert der Film nicht. Das kann man selbst tun. Der Film will nicht psychologisieren.

„Mutters einziges Kind, das in der Spur bleiben soll“

Mit Zitaten und Archivaufnahmen zeichnet Regisseurin Claudia Müller die Jugend Jelineks nach, Jahrgang 1946, ein „Nichtlebendürfen“ – der Vater ist laut Jelinek „verrückt geworden“, die Mutter fördert und überfordert die Tochter in allerlei musischen Disziplinen. Sie dominiert die Tochter, die sie im Film als manchmal „gefährliches Tier“ bezeichnet, durch die sie das Lügen gelernt habe, um sie zu besänftigen, als „Mutters einziges Kind, das in der Spur bleiben soll“.

Elfriede Jelinek in einer Archivszene des Films. Foto. Plan C

Elfriede Jelinek in einer Archivszene des Films. Foto: Plan C

Die junge Jelinek „rettet sich in die Sprache“, wie sie sagt, weil das der einzige Bereich gewesen sei, in dem die Mutter sie nicht zur Leistung antrieb. Früh erhält sie Preise, begreift sich als Autorin, die etwas bewegen will, die eine „größere Effektivität im politischen Sinne“ erreichen will – feministisch und als Kritikerin politischer Zustände in ihrer Heimat Österreich, an denen sie leidet. Exemplarisch für sie ist etwa die Schauspielerin Paula Wessely (1907-2000); im NS-Kino war sie ein Star, ab den 1950ern war sie ein Star am Wiener Burgtheater – der Film zeigt einen grausigen Auftritt Wesselys im perfiden Propagandawerk „Heimkehr“ aus dem Jahr 1941.

„Wut und Hass“

Jelineks Kritik unter anderem an Wessely im Stück „Burgtheater“ (1985 nicht in Wien, sondern im fernen Bonn uraufgeführt) ist ein Wendepunkt in der Rezeption der Schriftstellerin, sagt Jelinek selbst. Seitdem habe sie „polarisiert“, das sei, vielleicht meint sie das etwas ironisch, „der Beginn meines Abstiegs“ – in jedem Fall spätestens der Beginn der Anfeindungen gegen sie: als „Nestbeschmutzerin“. Jelinek wird (und bleibt) Hassfigur vieler Konservativer, vor allem männlicher, wegen ihres kritischen Blicks auf Österreich und auf männlich geprägte Strukturen. Ein Ausschnitt zeigt auch eine Szene des seligen „Literarischen Quartetts“ zur Zeit von Marcel Reich-Ranicki. Der wundert sich über so viel „Wut und Hass“ und darüber, dass bei Jelinek „das Sexuelle demontiert“ wird – fast wirkt es, als sorge er sich um das Seelenheil der Autorin.

Interview mit Buchpreisträger Tonio Schachinger

Interview mit Iris Wolff

Der Film lässt viel Raum für die Texte Jelineks mit ihrer kunstvollen Sprache und oft einem sehr dunklen Humor. Mal werden die von ihr in alten Mitschnitten gelesen, vor allem aber von Sophie Rois, Martin Wuttke, Maren Kroymann und Sandra Hüller. Das alleine ist schon eine Wonne, während der Film das nicht brav inhaltlich, sondern eher assoziativ illustriert – mit Bildern aus Österreich, ebenso mit prächtigen Bergpanoramen wie mit hässlichen Après-Ski-Momentaufnahmen und Super-8-Aufnahmen aus den 1950ern (Montage: Mechthild Barth).

Nach dem Nobelpreis hat sich Jelinek noch weiter zurückgezogen, auch wenn sie für diesen Film mit der Regisseurin viel Kontakt hatte und ihr 2021 ein Interview gab, das im Film zum Teil verwendet wird. Aber erklären will sie ihre Werke nicht mehr, es sei alles gesagt. Gut, dass es dennoch diesen Film gibt.

 

Termin: 13.5., 22.15, Arte und ab dann in der Mediathek.
DVD bei Farbfilm Verleih.
„Die Klavierspielerin“ nach Jelinek ist ebenfalls in der Mediathek.

 

„Das Ende der Wahrheit“ – Interview mit Regisseur Philipp Leinemann. Noch in der Arte-Mediathek

Regisseur Philipp Leinemann (rechts) mit Darsteller August Zirner. Foto Bernd Schuller

Regisseur Philipp Leinemann (rechts) mit Darsteller August Zirner. Foto Bernd Schuller

 

Der Polit-Thriller „Das Ende der  Wahrheit“ eröffnete vor 5 Jahren  in Saarbrücken das 40. Filmfestival Max Ophüls Preis. In dem Film kommt ein BND-Agent Machenschaften in der eigenen Behörde auf die Spur, was ihn in Todesgefahr bringt. Die Hauptrollen spielen Ronald Zehrfeld, Claudia Michelsen und Alexander Fehling; Philipp Leinemann ist der Autor und Regisseur des Films. 2014 wurde er mit dem vielgelobten Polizeifilm „Wir waren Könige“ bekannt und drehte zuletzt Episoden der Netflix-Serie „Das Signal“.

Die Hauptfigur von „Das Ende der Wahrheit“ gerät beim Bundesnachrichtendienst in ein Komplott um Terrorismus und Rüstungs-Lobbyismus. Wie kritisch sehen Sie den BND?

LEINEMANN Der Film soll keine Schelte des BND sein, sondern er erzählt davon, was geschieht, wenn  einzelne Akteure beim BND mit der Privatwirtschaft kungeln. Außerdem geht es darum, dass dem BND die Hände mehr und mehr gebunden sind, seinem eigentlichen Job nachzukommen – Informationen  sammeln,  analysieren und auch präsentieren. Aber wenn die politische Agenda derzeit so ist, dass Deutschland mit Ländern wie zum Beispiel Saudi-Arabien Geschäfte machen will, dann kann der BND schlecht laut sagen, dass dort die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Es geht mir im Film auch um eine generelle Entwicklung, von der ich im Gespräch mit mehreren BND-Mitarbeitern gehört und bei Recherchen gelesen habe: Dass sie nicht mehr wirklich genau wissen, was etwa in den Maghreb-Staaten oder im Nahen Osten passiert, weil sie von dort abgezogen wurden. Das führte dann zum Beispiel dazu, dass Ereignisse wie der Arabische Frühling und das Erstarken des IS gar nicht mehr wirklich frühzeitig erkannt wurden.

Woher kommt diese Entwicklung?

LEINEMANN Ich glaube, dahinter stecken Sparmaßnahmen, Borniertheit und Naivität. Bei den westlichen Geheimdiensten hat teilweise schon in den 1990ern die Entwicklung begonnen, dass sie aus Angst vor Maulwürfen die Verbindungen zu ihren Informanten vor Ort gekappt haben. Das war eine Art Paranoia, verbunden mit dem Irrglauben, dass man sich komplett auf Satellitentechnik verlassen kann. In einem Buch dazu bezeichnet ein CIA-Agent den Nahen Osten als Folge davon, aus Sicht des Westens, nun als „scheißweißen Fleck auf der Landkarte“.

Der BND-Agent im Film will der Tochter seine Arbeit und die Schwierigkeiten damit erklären. Er sagt „Es ist alles sehr kompliziert“ und korrigiert sich dann: „Es ist eigentlich ganz einfach.“ Aber das ist es eigentlich doch nicht, oder?

LEINEMANN Er meint die eigene moralische Haltung und den Blick, den man dann gewinnt, wenn man mal einen Schritt zurück geht – dann ist es einfach zu sehen, was moralisch richtig und was falsch ist. An sich ist aber natürlich nichts einfach in dieser Welt von Geheimdiensten, die so verwoben sind mit den Interessen der verschiedensten politischen Gruppen im Nahen Osten. Syrien ist ja das beste Beispiel, da kann kein Mensch den Überblick behalten, wie beim Krieg gegen den Terror. Ist der in letzter Zeit aussichtsreicher geworden? Oder weniger?

Haben Sie sich zur Recherche mit BND-Mitarbeitern getroffen?

LEINEMANN Es gab Treffen, die ziemlich konspirativ abliefen. Da war, wie auch bei den Recherchen zu „Wir waren Könige“ im Polizeimilieu,  viel Frustration über den eigenen Laden zu spüren. Beim BND, das hörte ich öfter, sind sie ständig damit beschäftigt, Akten herauszusuchen für Ausschüsse, die von der Opposition veranstaltet werden, so dass sie zu ihrer eigentlichen Arbeit kaum noch kommen. An einer Zusammenarbeit mit uns war der BND nicht interessiert, was natürlich in seiner Natur liegt. Deswegen haben wir ein Motiv im Film auch nicht bekommen: die Einfahrt des BND in Berlin.

Es gibt eine Actionszene im Film, als die Hauptfiguren in einen Hinterhalt geraten. Formal hat das US-Actionkino-Niveau, ist dann aber untypisch – eine Figur erleidet eine Panik-Attacke, eine andere übergibt sich aus Angst.

LEINEMANN Weil die Szene keineswegs heroisch sein sollte, eben nicht wie im üblichen Actionkino. Ich habe lange mit Ronald darüber diskutiert, ob seine Figur in dieser Szene überhaupt eine Waffe haben soll und zurückschießt. Für diese Szene hatten wir  nicht mal einen ganzen Drehtag. Das wollte mir niemand glauben, als ich den Film in Los Angeles gezeigt habe. Wir hatten wenig Zeit und  Geld für den ganzen Film.

Wie hoch war das Budget?

LEINEMANN Weit unter zwei Millionen Euro bei 27 Drehtagen. Das ist bei so einem Film sehr wenig, das funktioniert nur mit einem Team, das wirklich mitzieht – und dem ich viel Dank schulde. Die wenige Drehzeit ist manchmal frustrierend, man würde ja doch gerne mehr ausprobieren mit den Schauspielern, gerade wenn man so viele Hochkaräter hat wie hier, die gerne noch einen Take mehr machen würden, nochmal etwas versuchen wollen.

Regisseur Dominik Graf dreht seit langem immer wieder auch Krimis und Polizeifilme – gibt es da eine gewisse filmische Verwandtschaft?

LEINEMANN Ich habe das in Kritiken zu „Wir waren Könige“ oder auch in Gesprächen oft gelesen oder gehört.  Aber ich glaube, ich bin da eher unbewusst vom US-Kino beeinflusst, von Scorsese etwa oder von Coppola. Ich schätze und respektiere Dominik Graf sehr, er hat mir nach „Könige“ auch eine sehr liebe Mail geschrieben, aber ich eifere ihm nicht nach. Es ist immer interessant, wie andere Leute einen beschreiben, was für eine Art Filmemacher man ist. In Los Angeles wurde ich als „hard-driven action director“ beschrieben, was ich selbst etwas merkwürdig fand. Ich weiß ja selber nicht, was ich für ein Filmemacher bin, ich stehe noch ganz am Anfang, mich interessiert noch so viel und so viel anderes. Aber wenn man zwei, drei Filme gemacht hat, steckt man schnell in einer Schublade, auch als Schauspieler oder Kameramann. Deswegen habe ich immer sehr zögerlich reagiert auf Angebote vom „Tatort“ oder dem „Polizeiruf“, weil man dann schnell nur noch das macht.

Der Film ist noch bis 24. April in der Mediathek von Arte zu haben; DVD bei Studiocanal.

 

Der Tatort „Der Fluch des Geldes“ – eine Enttäuschung

Wieder im Einsatz: Leo Hölzer (Vladimir Burlakov, links) und Kollege/Freund/Schicksalsgenosse Adam Schürk (Daniel Sträßer). Foto: SR/Manuela Mayer

Wieder im Einsatz: Leo Hölzer (Vladimir Burlakov, links) und Kollege/Freund/Schicksalsgenosse Adam Schürk (Daniel Sträßer). Foto: SR/Manuela Meyer

„Der Fluch des Geldes“ ist der fünfte Fall des aktuellen Saarbrücker „Tatort“-Teams. Den Vorgänger „Die Kälte der Erde“ mochte ich sehr – leider ist der neue Fall, aus meiner Sicht, der bisher schwächste: Die Geschichte funktioniert nicht, die Figuren sind schwer nachvollziehbar – und die beiden Kommissarinnen haben so gut wie nichts zu tun.

Hier im Saarland gehen die Meinungen ja besonders weit auseinander, wenn es um den „Tatort“ aus Saarbrücken geht – wobei es oft zum guten Ton zu gehören scheint, ihn schlecht zu finden, Lieblingsvokabel in den sozialen Medien: „zum Fremdschämen“. Bei der Handlung wird gerne Realismus eingefordert, bei der Beschreibung des Saarlands nicht unbedingt – das soll doch bitte immer schön aussehen, wenn sich einmal im Jahr per „Tatort“ das TV-Fenster in Richtung „Reich“ öffnet.​

2020 ging nach dem Abschied von Devid Striesow als Kommissar Stellbrink (2013-2019) das neue Team an den Start. Nun ist dessen fünfte Episode fertig, gerade ist sie beim Saarbrücker Filmfestival Max Ophüls Preis gelaufen, am Sonntag in der ARD. „Der Fluch des Geldes“ nun könnte besonders stark polarisieren, denn die bewährte Team-Struktur wird aufgebrochen.​

Über weite Strecken ist das ein Solo-Fall für Leo Hölzer (Vladimir Burlakov); Kollege/Freund Adam Schürk (Daniel Sträßer) wird zur Nebenfigur und zum Beobachter, Pia Heinrich (Ines Marie Westernströer) und Esther Baumann (Brigitte Urhausen) werden zu Randfiguren. Wie man diesen Film nun findet, wird sich auch daran entscheiden, ob man die von Anfang an als Schurken identifizierten Figuren, mit denen man hier mehr Zeit verbringt als mit drei Vierteln der Ermittler, als glaubhaft empfindet – oder als enervierend und arg konstruiert von einem Drehbuch, das vor allem im letzten Drittel einige mitunter wilde Wendungen macht, so dass selbst Schürk sagt: „Erklär mal, um was es geht.“​

 

Ein Foto vom Dreh in Saarbrücken. Foto: tok

„Der Fluch des Geldes“ schließt direkt an den Vorgänger „Die Kälte der Erde“ an (die jüngeren SR-„Tatorte“ haben einen Hang zu sympathisch prätentiösen Titeln). Eben noch hatte sich Schürk mit einem Hooligan geprügelt, nun steht er mit Hölzer an einem See, zwischen ihnen eine Tasche voller Geld aus dem Bankraub von Schürks kriminellem, mittlerweile totem Vater (man sollte da den in der ersten Folge begonnenen Handlungsbogen noch etwas im Kopf haben).​

Dass Schürk das Geld hat, ist neu für Hölzer – und möglicherweise das Ende einer Freund- und Schicksalsgemeinschaft. „Leo, ich bin ein Arschloch – ich hätte es Dir sagen sollen“, sagt Schürk und meint, in seiner typischen Art der Realitätsbeugung: „Ist das nicht ein bisschen egal?“ Egal ist Hölzer das ganz und gar nicht: „Es macht keinen Sinn, Dir zu vertrauen.“ Da bleibt Schürk nur übrig, ein dramatisches „Fuck!“ über den See zu schreien, während Hölzer zu Fuß nach Hause stapft, entlang der „B17, stadteinwärts“.​

„Vier Insassen, einer fett“​

Dort nun beginnt der Fall: Hölzer wird von einem vorbeirasenden schwarzen SUV fast in die Leitplanke gerammt. Seine Beobachtung in aller Eile: „Vier Insassen, einer fett. Goldene Halskette.“ Was man als Zuschauerin oder Zuschauer weiß: Im Auto sitzen zwei Frauen und zwei Männer, die das Wetten und Spielen anscheinend zur Lebensphilosophie erhoben haben – um Geld geht es auch. Die Herausforderung bei diesem lebensgefährlichen Spiel: die Landstraße entlangrasen, während einem die Augen zugehalten werden.​

Hölzer überlebt das, das Quartett ohnehin, aber kurze Zeit später sieht er das rauchende Wrack eines anderen Autos – er vermutet, dass der Tod der Fahrerin mit den Landstraßenrasern zusammenhängt. Als er in der Gerichtsmedizin bei der möhrenschnippelnden Dr. Wenzel (Anna Böttcher) den trauernden Witwer der Fahrerin sieht, wird der Fall für ihn persönlich. Abseits des Dienstweges ermittelt er nun alleine. Vielleicht nicht die schlechteste Idee, denn im Büro hängt der Haussegen ohnehin bedrohlich schief wegen des Zerwürfnisses zwischen ihm und Schürk, so dass Kollegin Baumann fragt: „Was ist denn mit Euch BFFs los?“ – das Band dieser „best friends forever“ scheint zerrissen.​

 

Regisseur Christian Theede beim Dreh an der IHK in Saarbrücken. Foto: tok

 

Inszeniert hat wieder Christian Theede, das Drehbuch stammt von Hendrik Hölzemann – das bewährte Duo der ersten beiden Episoden „Das fleißige Lieschen“ (2020) und „Der Herr des Waldes“ (2021) – Hölzemann hatte zudem das Buch für „Das Herz der Schlange“ (2022) geschrieben.​ „Der Fluch des Geldes“ entstand an 21 Tagen, gedreht wurde an der Congresshalle, auf dem Saarbrücker Flughafen, in der Pathologie der Winterberg-Klinik, im Ludwigsparkstadion sowie in Dudweiler und Neunkirchen, wo eine alte Fabrik eine reizvolle Kulisse bietet für einige Wetten des Quartetts.​

„Full House, geil, Bitch“​

Erzählt wird, wie Hölzer versucht, sich der Spielerbande anzudienen, die er ziemlich schnell in einem Saarbrücker Casino namens „All In“ findet, wo die Vier lautstark an einem Spieltisch Sätze rufen wie „Full House, geil, Bitch“. Mit dieser Struktur entgeht der Film zwar der „Wo waren sie gestern zwischen 20 und 21 Uhr?“-Krimiroutine; aber die Handlung um die Wetten und Psychospielchen wirkt oft gestelzt, die Figuren des Wett-Quartetts bleiben rätselhaft – ganz klar wird nicht, warum sie das tun, was sie tun.​

Interview mit Autor Andreas Pflüger

Da wird kurz angerissen, dass eine Heroinkonsumentin (Jasmina Al Zihairi) durch die oft gefährlichen Spiele „endlich etwas fühlt“; der edel gewandete Kopf des Quartetts (Omar El-Saeidi) ohrfeigt seine Freundin (Susanne Bormann), wenn sie ihn „Loser“ nennt, beteuert zugleich aber „Ich tu das alles nur für uns“; der Wohlbeleibte (Daniel Zillmann), im Film schon mal „fette Kröte“ oder „Moppelchen“ genannt, wirkt noch am normalsten – vergleichsweise. Sein Eingangssatz zu einer Wette: „Ich bin fett und habe einen kleinen Pimmel. Aber jetzt mach ich Dich fertig.“​

Schürk, das schlechte Gewissen​

Hölzer, bisher der weichere und gesetzestreuere Ermittler im Vergleich zum Kollegen Schürk, kann hier eine gewisse Härte und Entschlossenheit zeigen – von einer originellen kleinen Szene untermauert, in der ihm Schürk wie das schlechte Gewissen in einem Spiegel erscheint und ihn fragt, was dieser Alleingang denn eigentlich soll. „Nichts“, sagt Hölzer in Richtung Spiegel, „ich mache es jetzt einfach so wie Du.“​

Wenig zu tun für die Tatort-Ermittlerinnen​

Schade ist, wie wenig die Ermittlerinnen Baumann und Heinrich beziehungsweise ihre Darstellerinnen Urhausen und Westernströer zu tun haben. Nach sieben Minuten „Tatort“ sieht man sie kurz im Fußballstadion jubeln – wie wir aus der Vorgänger-Episode wissen, ist vor allem Baumann Fan eines fiktiven Saarbrücker Vereins namens „1925 TRS“. Weitere sieben Minuten später sprechen sie mit einem Mann, dem für die Irrfahrt auf der B17 der Wagen gestohlen wurde. Dann verschwinden sie für über 20 Minuten aus dem Film, tauchen kurz buchlesend am Saarbrücker Schloss (Baumann) oder am Büroschreibtisch schlafend (Heinrich) wieder auf, um dann nochmal für 20 Minuten absent zu sein.​

Und wenn im Finale die Männer ins Auto springen, um zum Saarbrücker Flughafen zu rasen, bleiben die Frauen im Büro und werden nicht mehr gesehen. Schade und kein Vergleich zum auch formal unkonventionelleren Vorgänger „Die Kälte der Erde“, in dem Autorin Melanie Waelde und Regisseurin Kerstin Polte den beiden Figuren und Schauspielerinnen mehr Raum gaben. Wie steht es nun mit Schürk und Hölzer? Am Ende, so viel darf man verraten, sind sie sich wieder näher gekommen, diese „bromance“ hat eine Zukunft, eingeläutet vom schönen Satz „Wenn’s schief läuft, bist Du da.“ Gerne in einem Fall, der wieder mehr Interaktion im ganzen Team bietet.​

In der ARD-Mediathek.

„Die 2050er – Everything will change“ – Interview mit Regisseur Marten Persiel

Der Filmemacher Marten Persiel. Foto: Christopher Flaering / Flare Film

Filmemacher Marten Persiel. Foto: Christopher Flaering / Flare Film

Im Jahr 2054 ist die Welt am Ende. Drei junge Menschen wollen erkunden, wie es so weit kommen konnte ; der Schlüssel dazu liegt in der Vergangenheit – unserer Gegenwart.
Vor zwei Jahren hat „Everything will change“ das 43. Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken eröffnet, jetzt ist der Spielfilm unter dem Titel „Die 2050er – Everything will change“ in der Mediathek der ARD zu sehen.  Ein Gespräch mit Regisseur Marten Persiel über seinen Film, Artensterben und den Hass auf Klima-Aktivisten.

 

 Im Hintergrund ist viel Vogelgezwitscher zu hören – wo sind Sie denn gerade?​

PERSIEL Ich bin in Lissabon, im botanischen Garten. Ich wohne hier in der Nähe auf dem Land. Bei der Recherchezeit für den Film habe ich in einer kleinen Hütte gelebt und das Artensterben, um das es im Film geht, miterlebt: Wenn man einen Naturort immer wieder über Jahre besucht, merkt man, wie sich vieles verändert, wie plötzlich keine Frösche mehr am Teich sind, wie keine Schmetterlinge dort herumfliegen, wo früher tausende waren. Das ist schockierend – und war auch ein Motor für den Film.​

Ihr Film verbindet eine fiktive Handlung mit  Dokumentarmaterial – wie würden Sie den Film selbst einordnen?​ Spielfilm? Doku?

PERSIEL Am liebsten gar nicht. Diese Unterscheidung sehe ich eher als Hilfe für den Zuschauer, für  Filmemacher finde ich sie weniger gut. Das ist wie bei einem Album von Jimi Hendrix, wo man nicht genau weiß, ob man es unter „Rock“ einordnen soll oder unter „Soul“. Auch bei meinem ersten Langfilm „This ain’t California“ gab es diese Frage, ob nun Spielfilm oder Doku – aber eigentlich stellt sie sich mir als Filmemacher nicht.​

Wie lange haben Sie sich schon mit dem Thema Artensterben beschäftigt?​

PERSIEL Seit meiner Kindheit. Mein Vater Heinz-Werner Persiel ist ein Naturschutz-Urgestein aus Niedersachen. Da bin ich sehr früh mit dem Thema in Berührung gekommen. Naturliebe ist tief in mir verwurzelt und bringt mich um den Schlaf – als Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde, habe ich heiße Tränen geweint, weil ich wusste, wer sein Naturschutzbeauftragter ist. Wir haben mit dem Klimawandel und Covid andere Probleme, so dass das Artensterben ignoriert wird, was mir unglaublich viel Sorgen macht. Deswegen habe ich mich in den Film so reingekniet, sechs Jahre an ihm geschrieben.​

Interview mit Steffen Greiner zu Verschwörungstheorien

Welche Rolle bei der Produktion hatte Wim Wenders? „Everything will change“ hat ja das Wenders-Stipendium der Medienstiftung NRW erhalten.​

PERSIEL Das Stipendium unterstützt neue Formen des Erzählens, da passen wir gut hinein mit dem erzählerischen Kniff, dass es sozusagen ein Dokumentarfilm aus der Zukunft über uns ist. Dieser Blick auf uns selbst, als wäre unsere Gegenwart „die gute alte Zeit“, hat ihm gut gefallen. Er hat auch zugesagt, im Film aufzutreten. Dass er ganz früh hinter dem Projekt stand, hat uns sehr geholfen, andere Künstler und die wichtigsten Wissenschaftler ins Boot zu bekommen.​

Wie tief haben Sie in den Archiven geforscht für die spektakulären Naturbilder, die ebenso den Schrecken der versehrten Natur zeigen wie ihre atemberaubende Schönheit?​

PERSIEL Da gebührt der größte Dank unserer Cutterin Maxine Goedicke, die Haupt-Cutterin von Wim Wenders – sie hat auch meinen ersten Langfilm „This ain’t California“ geschnitten und dafür den deutschen Kamerapreis gewonnen. Sie hat ein großes Talent für eine emotionale Montage. Am Anfang des Films zeigen wir viele Tiere, die in gewisser Weise aussehen wie Menschen – das ist in der ernsten Wissenschaft sehr verpönt, da soll man Tiere ja nicht anthropomorphisch darstellen. Wir tun das aber mit Absicht, weil wir keine wissenschaftliche Betrachtung im Sinn haben, sondern eine emotionale.​

Doku „Die Geschichte der Kriegsberichterstattung“ von Marcel Ophüls

Der Film ist in mehreren Ländern entstanden, Sie mussten für ihn also einige Male ins Flugzeug steigen. Mit einem schlechten Gefühl, wo Flüge doch Klimawandel und Artensterben beschleunigen?​

PERSIEL Ja klar, das ist ein extremes Problem. Wir haben getan, was man tun kann – wir haben entsprechend der C02-Produktion Geld an Klima-Initiativen gezahlt, wollten aber weitergehen als das und haben noch 3500 Bäume pflanzen lassen. Es bleibt eine paradoxe Situation. Aber diese These „Man kann ja eh nix machen“ stimmt nicht. Man kann viel vermeiden, man kann viel tun, und das haben wir auch bei der Produktion gemacht –  sie sollte möglichst grün sein.​

Die Doku „Speer goes to Hollywood“

Würde man selbst mehr gegen Artensterben und Klimawandel tun, wenn man unsterblich wäre? So aber kann man, je nach Alter, denken, dass das Ganze einen ja eh nicht mehr so richtig trifft.​

PERSIEL Das ist ein finsterer Gedanke, aber ich glaube auch, dass es so ist. Man merkt ja seit drei, vier Jahren, dass die Lage ernst ist. Aber viele Leute meines Alters, ich bin jetzt über 40, tun nichts, weil sie glauben, bis zum Ende mit einigermaßen trockenen Ohren durchzukommen. Aber bei den jungen Leuten ist das eine ganz andere Stimmung – die werden mit dem Ganzen klarkommen müssen.​

Wie erklären Sie sich da den teilweisen Hass auf Klima-Aktivisten?​

PERSIEL Die kann ich mir gar nicht erklären. Vielleicht ist es einfach Dummheit. Vielleicht passt dazu auch, wenn Leute mit Lust Insektengift auslegen und Tiere töten. Möglicherweise ist da etwas ganz Archaisches versteckt, ein Absetzen vom Rest der Schöpfung durch diese „Ich darf alles zerstören“-Attitüde.​

Und Klimawandel-Leugner, die wissenschaftliche Studien ignorieren?​

PERSIEL Ich glaube, dass es die gar nicht mehr gibt – vielleicht schreiben Leute solche Thesen noch in irgendwelche Blogs, um zu provozieren, aber sie wissen es selbst mittlerweile besser. Beim Artensterben liegt der Fall anders: Es ist viel weniger bekannt als es sein sollte.​

 

Verdorrt und feuerrot: Die Welt des Jahres 2054. Foto: Flare Film

Die Welt des Jahres 2054. Foto: Flare Film

Ihr Film zeigt die verwüstete Welt der Zukunft, indem die Natur feuerrot strahlt – war das ein komplizierter Filmtrick?​

PERSIEL Kompliziert war es, aber keine Computertrick, sondern die Arbeit einer Infrarotkamera, wie sie seit den 50ern schon eingesetzt wird  – dieses Prinzip wurde häufig von der US-Armee im Vietnamkrieg eingesetzt, um in Bildern aus der Luft das reale Grün des Dschungels zu unterscheiden von grün getarnten Wegen. Die Kamera kann Chlorophyll-Grün von grüner Farbe unterscheiden. Wir haben einen neuen Filter eingesetzt, der die Kamera alle Farben normal wiedergeben lässt, nur das grüne Chlorophyll wird zu Rot.​

In Ihrem Film, ohne dessen Ende vorweg zu nehmen, gibt es trotz allem Optimismus. Wie optimistisch sind sie, was die Realität angeht?​

PERSIEL Das Paradies der Vergangenheit ist verloren. Wir können das Artensterben und den Klimawandel nicht mehr aufhalten, die Situation nicht mehr zurückdrehen. Die Welt wird sich sehr verändern, Ökosysteme werden auseinanderfallen – aber die Natur hat die Kraft, sich zu fangen. Vielleicht gibt es eine Natur der Zukunft nach 200 schlimmen Jahren, mit vielleicht nur noch einem Viertel der Menschen. Es wird geschätzt, dass es vor der industriellen Zeit neun Millionen Tierarten gab. Die haben wir jetzt schon stark dezimiert – und das wird weitergehen, selbst wenn wir jetzt versuchen würden, umzukehren. Wir verlieren die Arten tausendfach schneller als wir dürften. Wir werden sie so oder so um mindestens die Hälfte dezimieren. Ich bin Pessimist, was das Paradies angeht, das es mal gab – das ist für immer verloren. Ich bin aber Optimist im Sinne der Heilkraft der Natur, dass es irgendwann mal wieder schön sein wird auf der Welt – aber so vielfältig wird sie nie wieder sein.​

Ihr Film packt emotional – soll er auch zum Aktivismus bewegen?​

PERSIEL Ja, aber diesen Aspekt habe ich gar nicht so gesehen, als ich mit der Arbeit begonnen hatte. Der Film sollte erstmal berühren und ein Kinoerlebnis sein. Aber das alleine ist eben nicht genug, deshalb will der Film den Zuschauer auch dazu bringen, etwas zu tun. Ich kann jedem nur empfehlen, nicht zuhause rumzusitzen, sondern in den Wald zu gehen und dort etwas zu erfühlen, was schwer zu beschreiben ist. Man ist draußen, die Tierinstinkte werden wach, man spürt den Ort und die Kraft, die man für diesen Kampf braucht. Das geht beim Rumsitzen zuhause nicht. Man muss raus in die Natur.​

 

 

Interview über Loriot: „Das Material ist einfach sagenhaft gut“

Zu sehen sind Evelyn Hamann und Loriot auf dem Gründerzeitsofa. Der Text ist ein Interview über Loriot mit dem Kulturwissenschaftler Wieland Schwanebeck. Dessen Buch über Loriot ist bei Reclam erschienen.

Ein klassisches Foto (von 1989): Evelyn Hamann und Loriot auf dem Gründerzeitsofa.      Foto: dpa

Weihnachten bei der Familie Hoppenstedt, der Streit in der Badewanne zwischen Herrn Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner, die Nudel an der Oberlippe bei einer versuchten Liebeserklärung („Sagen Sie jetzt nichts!“): Solche Szenen von Loriot sind ebenso humoristisches Kulturerbe wie Sätze à la „Ich möchte nur hier sitzen!“, „Früher war mehr Lametta“, „Ein Klavier, ein Klavier“ und „Ach was!“. Über das Werk von Vicco von Bülow (1923-2011), der am 12. November 100 Jahre alt geworden wäre, hat der Kulturwissenschaftler Wieland Schwanebeck ein vergnügliches Buch geschrieben. Wir haben mit Schwanebeck gesprochen.​

Ihr Buch bietet nebenbei ein Rezept zum legendären Kosakenzipfel – jener Köstlichkeit, die bei Loriot zwischen den Familien Pröhl und Hoppenstedt einen bitteren Streit auslöst, an dessen Ende Beschimpfungen wie „Jodelschnepfe“ und „Winselstute“ stehen. Haben Sie das Rezept schon mal nachgebacken?​

SCHWANEBECK Leider nein – der Mokkatrüffel ist ja ein unverhandelbarer Bestandteil, und dem Geschmack von Mokka kann ich nichts abgewinnen. Ich hätte mich eher für die Crème Caramel entschieden, die von den Damen bestellt wird.​

Gibt es überhaupt ein definitives Rezept für den Kosakenzipfel?​

SCHWANEBECK Das Rezept, das wir im Buch abdrucken durften, stammt von dem Physiker Thomas Vilgis, und es steht meines Wissens nicht in Konkurrenz zu anderen Zubereitungsvorschlägen. Übrigens ist auch der Weinklassiker „Oberföhringer Vogelspinne“ erst ein paar Jahrzehnte nach dem entsprechenden Loriot-Sketch gekeltert worden.​

 

Wieland Schwanebeck Loriot James Bond Reclam

Der Kulturwissenschaftler Wieland Schwanebeck – bei Reclam hat er auch einen sehr vergnüglichen Band über James Bond veröffentlicht.

Was am „Kosakenzipfel“-Sketch ist besonders typisch für Loriot? Die schnell bröckelnde Fassade der bürgerlichen Höflichkeit? Die Schwierigkeit der Kommunikation?​

SCHWANEBECK Ja, das ist das gute, alte Freud-Argument vom dünnen Schleier der Zivilisation. Die meisten Loriot-Nummern spielen im gutbürgerlichen Milieu, man geht in die Oper oder zur Dichterlesung, man putzt sich heraus und repräsentiert – und dann braucht es manchmal nur einen kleinen Stupser, damit diese Fassade kaputtgeht. Das umständlich angebotene „Du“ wird wieder zurückgenommen, der Herr Direktor lässt den Casanova raus, die großbürgerliche Elite kriegt sich in die Haare, weil die Gummi-Ente nicht mit in die Badewanne darf.​

Loriot starb 2011, seine beiden Kinofilme sind über 30 Jahre alt – wieso ist sich seine Popularität derart stabil?​

SCHWANEBECK Da gibt es natürlich umfangreiche soziologische und kulturhistorische Erklärungen – Loriot blickt ganz tief in die deutsche Seele, Loriot ist unser aller Psychoanalytiker. Ich finde eine wesentlich knappere Erklärung viel einleuchtender: Das Material ist einfach sagenhaft gut, und es ist handwerklich fabelhaft umgesetzt. Deswegen müssen wir auch keine langen Fußnoten studieren, aus denen hervorgeht, wieso die Menschen das vor ein paar Jahrzehnten komisch fanden – wir lachen ja selber immer noch drüber, Erwachsene genauso wie die Kinder, die den ganzen Zitatenschatz weitergereicht bekommen. Wenn das Mini-Atomkraftwerk am Heiligabend ein Loch in den Fußboden sprengt, ist das immer noch genauso lustig wie ein Stunt von Buster Keaton oder ein Wortwitz von Shakespeare.​

Interview über Alfred Hitchcocks Selbstinszenierung

Vieles bei Loriot ist zeitlos – aber alles? Was halten Sie für schlecht gealtert?​

SCHWANEBECK Über etwas leichtfertigen Sexismus hier und da kann man streiten. Loriot hat in seiner ersten Sendung „Cartoon“ zum Beispiel als einer der Ersten nackte Frauen im Fernsehen gezeigt. Das sind aber eher Irritationsmomente als Schlüpfrigkeiten. Es gibt ein paar Ausrutscher bei seinen frühen Karikaturen, die heute ein bisschen altväterlich wirken – Politessen, die sich lieber schminken, statt für Sicherheit im Straßenverkehr zu sorgen. Aber die hat Loriot zum Teil schon selbst von späteren Wiederveröffentlichungen ausgenommen.​

Bedeutet der Konsens der Beliebtheit, dass Loriots Komik und Kritik niemandem wirklich wehgetan hat? Und falls ja – wäre das überhaupt ein Argument gegen ihn?​

SCHWANEBECK Humoristen und Satiriker müssen es sicher nicht allen Recht machen, und das hat Loriot auch nicht. Aber er stößt auch niemanden direkt vor den Kopf. Und da bei ihm eigentlich alle Vertreter des politischen Spektrums eins übergebraten bekommen, hat am Ende auch niemand Grund, beleidigt zu sein. Seine Satire zielt auf allgemeinmenschliche Schwächen, wie die Satire von Wilhelm Busch, oder sie zeigt, wie uns unsere Institutionen, unsere Benimmregeln und unsere Fachjargons über den Kopf wachsen. Loriot kann auch böse sein, zum Beispiel in seinen frühesten Fernsehsendungen – aber die sind nicht so dauerpräsent wie die späteren Sketche, die in der bürgerlichen Wohnstube spielen.​

Wird Loriot für harmloser gehalten, als er es war? Hat er seine Botschaften gut getarnt? Seine beiden Kinofilme „Ödipussi“ und „Pappa ante Portas“ etwa sind bei aller Komik auch Filme, die unter anderem von Beklemmung und Einsamkeit erzählen, auch vom gelegentlichen Horror des Alltags.​

SCHWANEBECK Das finde ich auch. „Ödipussi“ hat ja nicht nur aufgrund seines Titels Anleihen in der Tragödie. Ich finde es ganz bezeichnend, dass er in „Pappa ante Portas“ die subjektive Stalker-Kamera aus dem Horrorfilmgenre verwendet, um das Eindringen des Familienvaters in den häuslichen Wohnraum zu zeigen. Beim Wiederschauen war ich auch überrascht, wie sehr gerade die Kinofilme an die Schmerzgrenze gehen. Viel davon geht schon in Richtung des in den letzten Jahren boomenden Fremdscham-Humors.​

Lost Place: Ein vergessenes Waldschwimmbad in der Eifel

Trägt zu dieser Tarnung auch Loriots gediegenes Bildschirm-Image bei – der Bildungsbürger auf dem Sofa?​

SCHWANEBECK Dieses Bild hat sich natürlich eingebrannt – der feine Herr auf dem Sofa, der niemals aus der Rolle fällt und nie die Beherrschung verliert. Aber in den Sketchen ist Loriot umso ausgelassener und macht sogar richtigen Klamauk. Vor falschen Zähnen, schlechten Toupets und angeklebten Nasen hatte er keine Berührungsängste, und vor groteskem oder schwarzem Humor erst recht nicht.​

 

 

 

Wie verwunderlich ist es, dass er Sätze wie „Es saugt und bläst der Heinzelmann, wo Mutti bloß noch saugen kann“ plus „wo Mutti sonst nur blasen kann“ im Hauptabendprogramm unter bekam – und dann noch in einer Weihnachtsepisode…​

SCHWANEBECK … die sogar noch immer alljährlich wiederholt wird und bei der sich Große wie Kleine vor dem Fernseher versammeln. Vielleicht passt es ja gerade zum Anlass, dass auch die beliebteste Weihnachtssendung ein wenig über die Stränge schlägt. Weihnachten ist ja ein sehr karnevalhaftes, körperbetontes Fest, man isst und trinkt mehr, als man sich im Alltag zumuten würde. Warum soll nicht auch der Humor da ein bisschen unter die Gürtellinie zielen dürfen?​

Hatte er also auch Freude an der deftigen Zote, nicht nur am feinsinnigen Witz für und über Bildungsbürger?​

SCHWANEBECK Absolut, Loriot hat die Zote privat sehr geschätzt und auch immer wieder selbst darauf zurückgegriffen. Allein die Weihnachtsfolge bietet ja noch viele andere Beispiele – da streiten die beiden Herren darum, wer das größte Stück vom (Kosaken-)Zipfel abkriegt, und Opa Hoppenstedt verweigert hartnäckig die Aussage, ob sein Enkelkind ein „Zipfelchen“ hat oder nicht. Ich halte nichts davon, Loriot nur auf seine feinsinnigen Dialoge zu beschränken. Es gibt ausgelassene, derbe Nummern von ihm, und sogar Slapstick.​

Ein Hauch Loriot: der Kinofilm „Da kommt noch was“

Auf wen hatten es seine Satiren eher abgesehen – auf das sogenannte Kleinbürgertum oder den klassischen, gerne selbstgefälligen Bildungsbürger?​

SCHWANEBECK Würde ich gar nicht unbedingt gegeneinander ausspielen. Kleinbürgerlichkeit bezeichnet ja vor allem eine etwas kurzsichtige Haltung, eine Engstirnigkeit und Rückwärtsgewandtheit, und die Unfähigkeit, mit der Zeit zu gehen. Das schließt bildungsbürgerliche Ambitionen nicht aus, aber es fehlt eben an Reflexionsfähigkeit. Und sobald der Mensch sich selbst und seine Gewohnheiten nicht mehr hinterfragt, handelt er fremdbestimmt – und wird zum potenziellen Lachobjekt. Die beiden Loriot-Figuren, die sich im Flugzeug gegenseitig Rilke zitieren, während sie sich völlig mit dem Essen bekleckern, geben sich zwar bildungsbürgerlich aus, aber als eingepferchte Passagiere stellen sie eben auch Kleinbürgerlichkeit aus.​

Es ist reine Spekulation – aber wie hätte sich Loriots Arbeit und Karriere entwickelt, wenn er nicht Evelyn Hamann engagiert hätte?​

SCHWANEBECK Ich glaube, die Fernseharbeiten hätten sich nicht wesentlich unterschieden – Loriot schrieb und inszenierte sein Material ja ohnehin im Alleingang, spielte den Schauspielern zum Teil sogar vor, wie sie es umsetzen sollen. Aber mit Evelyn Hamann ist eine so vertrauensvolle Arbeitsbeziehung herangewachsen, dass die beiden Kinofilme letztlich auch ihre Handschrift tragen. Renate Lohse in „Pappa ante Portas“ ist, glaube ich, die dreidimensionalste Figur im ganzen Werk von Loriot – und ist ganz sicher für Evelyn Hamann geschrieben worden.​

Loriot war drei Jahre lang Soldat in Russland, sein jüngerer Bruder ist im Krieg umgekommen – inwieweit hat er sich in seiner Kunst mit Krieg und Militarismus beschäftigt?​

SCHWANEBECK Loriot hat erst spät über seine eigenen Erlebnisse im Krieg und über seine Erinnerungen an die Nazi-Zeit gesprochen, aber ein Verdränger war er nicht. In seinen Zeichnungen werden ganz oft Uniformgehabe und Kriegstreiberei auf die Schippe genommen, etwa zur Zeit der Flower-Power-Bewegung. Ein Hippie war Loriot deswegen aber nicht, schon weil er Preuße aus Überzeugung war.​

Antike Serie „Die Journalistin“

Sehen Sie aktuell hiesige Komiker oder Komikerinnen in seiner Tradition – oder in seinem Geist?​

SCHWANEBECK Ja, Loriot hat viele Spuren in der Sketch-Comedy und in der Sitcom hinterlassen. Das ist natürlich nicht allein sein Vermächtnis. Die Frage des richtigen Benimms in Situationen, die allen Beteiligten allmählich entgleiten, hat vor Loriot schon eine große Rolle in der Komik gespielt und tut es immer noch – aber man sieht das in Deutschland dann eben automatisch durch die Loriot-Brille. Ich denke da an Bastian Pastewkas Sitcom oder die beliebten Boulevardstoffe, die es manchmal auch ins Kino schaffen, wie zum Beispiel „Das perfekte Geheimnis“. Auch da beginnt es so gesittet wie beim Kosakenzipfel-Dinner, aber am Ende liegen die Zimmer in Schutt und Asche, und die Beziehungen sind im Eimer.​

Hätte er heute als junger Humorist überhaupt Chancen, im Fernsehen unterzukommen?​

SCHWANEBECK Seine Qualität würde sich durchsetzen, das glaube ich schon. Die Frage wäre wohl eher, ob jemand von den Fernsehanstalten noch einmal vergleichbare Freiheiten und Gestaltungsspielraum bekäme, um ohne größere Einmischung nach seinen Vorstellungen zu drehen. Außerdem ist Loriot, der ja in den 1920er-Jahren zur Welt kam und den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, so sehr ein Produkt seiner Zeit, vor allem der Adenauer-Jahre, dass man sich kaum vorstellen kann, wie jemand Vergleichbares heute an den Start geht.​

„Buba“ mit Bjarne Mädel

Er selbst soll ja einst einen Sketch von den britischen Kollegen von Monty Python geklaut haben…​

SCHWANEBECK Monty Python waren es nicht, aber in der Tat gibt es einen frühen Sketch von John Cleese, noch aus den Zeiten vor Monty Python, den Loriot – sagen wir mal – paraphrasiert zu haben scheint. Bei Cleese interviewt ein Fernsehreporter einen Versicherungsvertreter, im Glauben, er sitze einem Tiefseetaucher gegenüber – Loriot hat daraus den „Astronauten“ gemacht. Vielleicht ist es auch ein Fall von Kryptomnesie, so nennt man die unbewusste Übernahme einer Idee. Er hatte es sicher nicht nötig, zu klauen – auch nicht von Monty Python, denen er mit ein paar seiner Einfälle sogar voraus gewesen ist.​

Sie haben vor dem Band über Loriot ein Buch über James Bond veröffentlicht. Gibt es da Parallelen?​

SCHWANEBECK Ja, eindeutig. James Bond hat 1983 „Octopussy“ ins Kino gebracht, Loriot ein paar Jahre später „Ödipussi“ – das kann in meinen Augen kein Zufall sein.​

Eine nahezu unvermeidliche Frage zum Schluss – welcher ist Ihr liebster Loriot-Moment?​

SCHWANEBECK Einerseits mag ich sehr die Momente, in denen uns Loriot im Alltag überfällt – neulich sagte jemand in meinem Beisein, als übers Wetter geplaudert wurde, den Satz: „Man muss ja auch an die Landwirtschaft denken“, und ich war mir nicht sicher, ob das ein bewusstes Loriot-Zitat war. Ansonsten halte ich den in „Pappa ante Portas“ vorgetragenen Vierzeiler „Melusine“ mit „Kraweel! Kraweel!“ für den Höhepunkt der modernen Lyrik und liebe die besonders albernen Stellen bei Loriot, weil das Herumalbern uns Deutschen manchmal so schwerfällt. Wir sind halt leider Gottes ein Volk von Witze-Erzählern. Loriot als Weinvertreter, der sich im Wohnzimmer der Hoppenstedts an seinem eigenen Sortiment betrinkt – das scheint mir schwer zu toppen.

Wieland Schwanebeck: Loriot.
Erschienen bei Reclam, 100 Seiten, 10 Euro.​

"Petrovs Flu"

Petrova (Chulpan Khamatova) auf der Jagd.   Foto: Farbfilm Verleih

 

Donnerlittchen, was für ein Film. Viel Wahl lässt einem „Petrov’s Flu – Familie Petrow hat die Grippe“ nicht: Entweder wird einem dieser rastlose, überbordende Film an und auf die Nerven gehen. Oder man lässt sich mitnehmen von diesem reißenden Bewusstseinsstrom der grotesken Bilder und der bizarren Ideen. Wie auch immer, nach den 145 Minuten wird man in jedem Fall gerne erst mal frische Luft schnappen wollen – genau so wie jene vermeintliche Leiche im Film, die aus einem Sarg steigt, in diesem knallbunten Personal-Panoptikum damit aber nicht einmal als besonders ungewöhnlich auffällt. Irgendwann wundert man sich über nichts mehr.​​

Inszeniert hat das der russische Bühnen- und Filmregisseur Kirill Serebrennikov, ebenso international preisgekrönt wie verhasst beim Putin-Regime in Moskau und der russisch-orthodoxen Kirche. Die protestierte etwa gegen seine Ballett-Inszenierung über den legendären Tänzer Rudolf Nurejew (1938-1993), der homosexuellund in den Westen geflüchtet war. Serebrennikow inszenierte unter anderem am Bolschoi-Theater und war ab 2012 künstlerischer Leiter der Moskauer Avantgarde-Bühne „Gogol- Zentrum“; das wurde 2017 von Strafverfolgungsbehörden durchsucht, ebenso wie Serebrennikows Wohnung. Der Vorwurf: Veruntreuung von Staatsgeldern, ein Vorwurf, den der Regisseur als „irrsinnig“ bezeichnete. Serebrennikow wurde im August 2017 verhaftet, im Juni 2020 zu einer dreijährigen Haft auf Bewährung verurteilt.​

Ein Bus voller Volkszorn

Es überrascht nicht, dass der Regisseur in „Petrov’s Flu“ Russland in dunklen Farben zeichnet. Nach der literarischen Vorlage, Alexei Salnikows „Petrov hat Fieber. Gripperoman“ (verlegt bei Suhrkamp), erzählt der Film vom Comiczeichner/Autor/Autoschlosser Petrov, der zu Anfang in einem Bus unterwegs ist. Draußen rieselt leise der Schnee, innen wird laut gehustet (vor allem von Petrov), gerempelt und gemault – nicht zuletzt über den Zustand des Landes. „Gorbatschow hat das Land verkauft, Jelzin hat es versoffen“, heißt es da; zu dieser Kurzanalyse des postsowjetischen Russlands gesellen sich noch Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Dieser Bus voll brodelnden Volkszorns hält an, Petrov wird herausgeholt, Männer drücken dem Hustenden und Torkelnden eine Kalaschnikow in die Hand – er muss mal eben bei der Hinrichtung einer gut gekleideten Abendgesellschaft mitschießen. Deren Forderung nach einer ordentlichen Verhandlung wird durch einen kurzen Feuerstoß abgerissen, Petrov darf zurück in den Bus, weiter geht die Fahrt.​

Roadmovie „Abteil Nr. 6“ in der ARD-Mediathek

Träumt Petrov? Oder suchen ihn Erinnerungen heim? Oder durchdämmert und durchschwitzt er längst einen wahnwitzigen Fiebertraum – mit uns an seiner Seite? Wie auch immer: Technisch ist das virtuos gemacht, mit einer minutenlangen Einstellung ohne Schnitt (oder ohne sichtbaren Schnitt), die einen unweigerlich und unmittelbar mit ins Geschehen hineinzieht. Serebrennikow gibt bei seinen langen Sequenzen nur selten Signale (oder Warnungen), wenn er uns auf unerwartete Erzähl-Ebenen lockt.​

Prügelei im Lyrik-Zirkel

Weiter geht es in eine öffentliche Bibliothek, in der Petrovs Frau Petrova arbeitet. Sie wundert sich über einen männlichen Kunden, der sich erst Bücher über den Marquis de Sade leiht, dann über Konzentrationslager und dann über Gynäkologie; nebenan tagt ein Lyrikzirkel, bei dem sich die Diskussion über Versrhythmen in eine Schlägerei hineinsteigert. Da werden Petrovas Augen nachtschwarz, den aggressivsten Diskutanten verprügelt sie, bis Blut auf die Lyrikbände spritzt. Realität? Oder Gewaltfantasien einer äußerlich eher stillen Bibliothekarin? Steht hier ein ganzes Land vor dem kollektiven Nervenzusammenbruch?​​

Interview zu Verschwörungstheorien

Es bleibt undurchsichtig, wenn der Film uns zwischendurch und erstmal unmerklich in die Handlung eines Romans führt, den Petrov bei einem Verlag unterzubringen versucht; später engt sich das sehr breite Format der Filmbilder rechts und links ein, mutmaßlich bei Erinnerungen Petrovs an seine Jugend, im letzten Filmdrittel wird es schwarzweiß für eine weitere Geschichte mit Bezug zu Petrov, in der sich Serebrennikov mit einem gewissen Genuss auch über das eigene Metier lustig macht: Da probt eine Theatertruppe mit großer Künstlergeste, als bringe sie Tschechovs Gesamtwerk auf die Bühne – letztlich geht es um Kinderbespaßung.​​

In dieser buchstäblich fiebrigen Gesellschafts-Groteske verbinden sich schwarzer Humor mit Melancholie und Traurigkeit, Resignation angesichts der gesellschaftlichen Zustände mit einem gewissen Trotz der Hoffnung. Alles wirkt muffig und ranzig, die Welt (beziehungsweise Russland) ist, wenn denn mal die Sonne scheint, meist graubraun. Dass ein Film wie dieser in Russland entstehen konnte, überrascht schon – allerdings als Koproduktion mit Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Ein Werk wie eine Antithese zum „Arthouse-Wohlfühlfilm“ – eine enorme filmische Erfahrung.​

„Buba“ von Arne Feldhusen mit Bjarne Mädel

Buba Bjarne Mädel Netflix

Bjarne Mädel als Jakob Otto alias „Buba“. Foto: Netflix

Merkwürdig – warum zündet das Ganze nicht so richtig? Warum ist „Buba“ nie so gelungen, wie man anhand der Beteiligten erwarten dürfte, eigentlich müsste? Trotz Darsteller Bjarne Mädel, von dem man sich ja ziemlich alles ohne Risiko anschauen kann. Trotz Regisseur Arne Feldhusen, der mit Mädel die TV-Perlen „Der Tatortreiniger“, „Stromberg“, „Mord mit Aussicht“ und „Der kleine Mann“ gedreht hat.  „Buba“, ihre jüngste Zusammenarbeit, hat zwar ihre Momente, aber insgesamt enttäuscht diese Netflix-Tragikomödie.

Bierbauch und schlechte Laune

„Buba“ ist eigentlich eine Nebenfigur aus der Neflix-Serie „How to sell drugs online (fast)“: Jakob Otto alias Buba (Bjarne Mädel), ein blondierter Kleinkrimineller mit schlechter Laune und Bierbauch, der im fiktiven Städtchen Rinseln seinen Geschäften nachgeht. Diese Figur überlebt allerdings die erste Staffel der Reihe nicht, wegen eines Arbeitsunfalls sozusagen – er erschießt sich aus Versehen mit einer Pistole aus einem 3D-Drucker. „Buba“ erzählt nun, als neudeutsch „Prequel“, die Vorgeschichte: Wie der kleine Jakob zum großen Jakob wird und schließlich, in einer kleinen Rahmenhandlung, zum toten Jakob.

Das real existierende Fremdsprachen-Akzent-Syndrom

Die Kindheit in den 1980ern ist traumatisch: Denn während Jakob es sich bei einem Breakdance-Wettbewerb gut gehen lässt, bei dem auch Leonardo DiCaprio mitwirbelt (der 1984 tatsächlich bei einem Deutschland-Besuch bei einem Wettbewerb dabei war), sterben seine Eltern bei einem Unfall. Sein Bruder mit dem schönen Namen Dante überlebt mit einer Kopfverletzung, die ihn a) zum täglichen Schlucken einer Pillen-Kollektion zwingt und b) ihn fortan ein wunderbar schmieriges Österreichisch sprechen lässt – eine Folge des real existierenden Fremdsprachen-Akzent-Syndroms.

Netflix Buba

Bjarne Mädel (links) und Georg Friedrich.

Ob die Drehbuchautoren Sebastian Colley („Kroymann“, „How to sell…“) und Isaiah Michalski („King of Stonks“) diese skurrile Idee bemüht haben, um den Wiener Darsteller Georg Friedrich verpflichten zu können, oder ob erst die Rollen-Idee kam und dann die Besetzung, ist unwichtig: Friedrich, der mit Michael Haneke und Ulrich Seidl drehte, zuletzt im Kino in „Die große Freiheit“ zu sehen war, ist gewohnt exzellent. Kaum jemand spielt das liebgewonnene, wenn auch nicht mehr allzu originelle Klischee vom schmierigen Halbwelt-Ösi besser als er; der fleckige Bademantel, den er hier gerne trägt, ist bei ihm ebenso eine zweite Haut wie beim „Dude“ aus „The Big Lebowski“.

Kritik zu „Die Theorie von allem“

Das Verhältnis der mittlerweile erwachsenen Brüder ist so innig wie angespannt – denn Jakob hat aus seinem Schuldkomplex heraus die Theorie entwickelt, dass es ihm möglichst schlecht gehen muss, damit es dem Rest der Welt, vor allem seinem Bruder, gut geht. Eine Prämisse wie aus einem Märchen – und als solches bezeichnet sich auch selbst der Film, in dessen Welt sich Provinz-Mafiosi tummeln, die zwar aus dem heimischen Hinterland kommen, sich aber als Albaner ausgeben, „weil die Leute dann mehr Angst haben“. Bei diesen Pseudo-Albanern heuern die Brüder an und erpressen zum Einstand Schutzgeld, mit mal weniger, mal mehr Brutalität.

Zu viel Guy Ritchie?

Da wirkt es so, als hätten sich die Drehbuchautoren Guy Ritchies schräge Gangsterfilme wie „Bube, Dame, König, Gras“ und „Snatch“ ein oder zweimal zu oft angeschaut; ein Gefühl von Déjà-vu kommt auf. Wenn Gangster über rare Figuren aus Überraschungs-Eiern debattieren oder ihre Chefin (Maren Kroymann) in Seelenruhe und unter aller Augen ein Stück Torte ist, wirkt das manchmal bemüht skurril; die angestrebte Lässigkeit hat etwas Krampfiges. Und ob man die Szene vom Samenraub bei einem Pferd nun drollig oder lediglich derb findet, wird wohl davon abhängen, wie lange man die Pubertät schon hinter sich hat.

Lustige Kopfschüsse?

Natürlich schaut man Mädel und Friedrich gerne zu, wie sie in ihrer muffigen Wohnküche von einem besseren Leben träumen, wenn Dante grantelt, die Brüder müssten „jetzt mal groß denken“; wenn Jakob sich verliebt, weswegen ihn sofort die Sorge umtreibt, dass etwas Schreckliches passieren muss, da es ihm nun ausgesprochen gut geht. Eine Traumsequenz, untermalt von Georg Danzers „Weiße Pferde“ (das Wienerische verfolgt Jakob also auch in den Tiefschlaf), ist originell – aber das große Finale enttäuscht dann: mit hysterischen, neu hinzugekommenen Gangstern, einer bemühten Wendung und einer Schießerei, bei der man sich fragen darf, ob Kopfschüsse im Film so lustig sind, wie die Drehbuchautoren denken.

„Buba“ ist bei Netflix zu sehen, ebenso wie „How to sell drugs online (fast)“.
In der ARD-Mediathek kann man sich mit Bjarne Mädel einige „Tatortreiniger“-Folgen anschauen, außerdem „Sörensen hat Angst“ sowie „Sörensen fängt Feuer“ von und mit Mädel.

„Drive my car“ von Ryusuke Hamaguchi – ab 1. Mai bei Arte

Drive my car Oscars

Regisseur Yusuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) und die Fahrerin Misaki (Toko Miura).        Foto: REM

 

Eine große Überraschung war das schon. Ein japanischer Film, drei Stunden lang, erhält bei den Oscars 2022 vier Nominierungen: für das beste adaptierte Drehbuch, den besten internationalen (also nicht-nordamerikanischen) Film, für die beste Regie und als bester Film. Letztlich gewann „Drive my car“ den Oscar als besten internationalen Film. Das gab diesem wundersamen und wunderbaren Film von Ryusuke Hamaguchi Aufmerksamkeit und einen gewissen kommerziellen Rückenwind, den er gut brauchen kann – ist doch „Original mit Untertiteln“ und „179 Minuten Laufzeit“ für manchen Kinogänger eher abschreckend denn animierend. Nur: Ließ man sich abschrecken, brachte man sich um eine eigenwillige und beglückende Seh-Erfahrung.

Melancholie in Tokyo: „Perfect days“ von Wim Wenders

Nachts und nackt beginnt der Film, wenn die Drehbuchautorin Oto ihrem Mann Yusuke, einem Schauspieler und Theaterregisseur, eine Geschichte erzählt, die sie nach den gemeinsamen Liebesnächten immer weiter spinnt: Um eine Frau geht es, die ihrer ersten Liebe nachspioniert, regelmäßig in das Haus des Angebeteten einbricht, um Dinge zu hinterlassen. Yusuke hört fasziniert zu, ein enges Band der Vertrautheit scheint diese beiden Eheleute miteinander zu verbinden. Doch als Yusuke eines Tages unerwartet nach Haus kommt, sieht er seine Frau innigst zugange mit einem anderen Mann auf dem Sofa. Ohne bemerkt zu werden, verlässt er die Wohnung wieder, verschweigt das Ganze gegenüber Oto (ebenso wie sie es tut). Als er just an dem Abend nach Hause kommt, an dem seine Frau etwas mit ihm besprechen kann, ist sie an einer Hirnblutung gestorben. Yusuke bleibt erschüttert und trauernd zurück – und im Ungewissen darüber, was seine Frau ihm mitteilen wollte.

Der rote Saab in Hiroshima

Erst hier, nach 40 Minuten, läuft der Vorspann von „Drive my car“, er ist wie ein filmischer Raumteiler, der auch den Bruch in Yusukes Leben widerspiegelt – und auch einen Zeitsprung von zwei Jahren. Yusuke nimmt das Angebot eines Bühnenfestivals in Hiroshima an, dort Tschechows „Onkel Wanja“ zu inszenieren. Bei den ersten Besetzungsgesprächen taucht überraschend auch ein junger Schauspieler auf, von dem Yusuke glaubt, ihn damals mit seiner Frau auf dem Sofa gesehen zu haben. Das setzt dem Witwer zu, ebenso irritiert ihn die Vorgabe des Festivals, dass er in Hiroshima nicht selbst seinen alten roten Saab fahren darf, sondern dass ihm eine Fahrerin zugeteilt wird – die zurückhaltende Misaki, die für ihn wider Erwarten zu einer großen Stütze wird.

77 Filme fürs Leben: Das Buch „Herzschlagkino“ von Andreas Pflüger

Was in der knappen Inhaltsangabe etwas simpel klingt, ist im Film ganz anders: Regisseur und Ko-Autor Hamaguchi gliedert „Drive my car“, entstanden nach einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami, in lange Szenen und Gespräche – es sind die Herzstücke des Films, wenn Yusuke mit seiner Fahrerin, mit dem mutmaßlichen Liebhaber seiner Frau, mit einem Kollegen und dessen Frau minutenlang spricht. Um Liebe geht es, um Trauer und Tod (die Tochter von Oto und Yusuke ist vor Jahren sehr jung gestorben), um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit extremer Nähe zwischen Menschen. Muss körperliche Untreue ein Beleg für mangelnde Liebe sein? Wie gut kann man seinen Partner kennen, wenn es schon schwer genug fällt, sich selbst einigermaßen zu kennen?

Interview mit Sandra Hüller

Hamaguchi erzählt davon mit exzellenten Darstellern, denen man trotz Zurückhaltung die Seelenlage ihrer Figuren anmerkt, mit gelungenen Verschränkungen mit der „Onkel Wanja“-Inszenierung (ohne ein selbstgefälliges Meta-Ebenen-Spiel zu beginnen) – und vor allem in aller Ruhe. Hier wird viel gesprochen, im roten Saab, an der nächtlichen Hotelbar, im Esszimmer, auf einem verschneiten Hügel. Gefühlvoll ist das alles, aber nicht sentimental, die Melancholie ist spürbar, aber sie drängt sich filmisch nicht auf. Sicher, ein wenig Sitzfleisch braucht man für den Film – aber er wird einen tief berühren.

 

Am 1 . Mai ab 22 Uhr bei Arte, danach in der Mediathek.

Blu-ray und DVD bei REM.

„Don’t look Up“ – warum so enttäuschend?

Jennifer Lawrence, Leonardo DiCaprio und Rob Morgan in einer Szene von „Don·t Look Up“. Foto: Niko Tavernise/Netflix/dpa

Die schwarze Komödie „Don‘t look Up“ erzählt vom Weltuntergang und verblödeter Politik, von hysterischen sozialen Medien und Wissenschaftsleugnung, garniert mit vielen Stars. Warum enttäuscht der Film dennoch? 

Sicher – es ist ein Film, der bestens in unsere Zeit passt und auch in diesen Coronawinter: Um Ignoranz und Wissenschaftsleugnung geht es, um die vielbeschworene „Spaltung der Gesellschaft“, um Hass und Hysterie in den sozialen Medien, um Celebrity-Kult, um eine korrupte US-Politik – und den Weltuntergang. Nur: Warum lässt einen die schwarze Komödie „Don’t look Up“ dann doch merkwürdig unberührt zurück? Trotz des sichtlichen Aufwands, trotz des enormen Star-Auftriebs, trotz der Themen?

99,78 Prozent sind eben nicht 100 Prozent

In den ersten Filmszenen entdeckt die Wissenschaftlerin Kate Dibiasky (Jennifer Lawrence) einen Kometen, der sich zielsicher der Erde nähert. Professor Randall Mindy (Leonardo DiCaprio) errechnet die Folgen – der Himmelskörper wird in sechs Monaten und 14 Tagen auf der Erde einschlagen und die Menschheit auslöschen. Eine Hiobsbotschaft, die die amtierende US-Präsidentin (Meryl Streep als weiblicher Trump) und ihren betont ungehobelten Sohn (Jonah Hill) nicht aus der Fassung bringt, sondern nur ein wenig beunruhigt: Denn schlechte Nachrichten wie diese könnten die wichtige Zwischenwahl in drei Wochen negativ beeinflussen. Und überhaupt: Eine Aufschlagswahrscheinlichkeit von 99,78 Prozent sei eben nicht hundertprozentig. Und 70 Prozent klinge dann gleich viel wählerfreundlicher und sei ja fast dasselbe.

„Dayshift“ mit Jamie Foxx bei Netflix

Ähnliche Ignoranz schlägt dem Wissenschafts-Duo seitens der Medien entgegen – als Dibiasky deshalb in einer Smalltalk-TV-Show die gezwungene gute Laune stört, indem sie die Prognose vom Ende der Welt herausschreit, ist ihr mediales Schicksal besiegelt: Das Foto ihres Ausbruchs rauscht durch die sozialen Netzwerke, fortan gilt sie als Kreisch-Hexe der Wissenschaft. Mindy dagegen wird zum „sexy Wissenschaftler“ erklärt und fortan eingeladen zu: a) weiteren Talkshows und b) ins Bett der Moderatorin mit dem käsigen Namen Brie Evantee (Cate Blanchett).

Steve Jobs plus Elon Musk

Derweil bastelt die US-Regierung dann doch noch an einem Plan, den Kometen per Raketenbeschuss aus der Bahn zu bringen, vor allem, um von einem innenpolitischen Skandal abzulenken – bis der milliardenschwere Technik-Guru Peter Isherwell (Mark Rylance als eine messianisch verehrte Mischung aus Steve Jobs und Elon Musk) eine andere Idee entwickelt: Da der Komet sündhaft teure Mineralien in sich trägt, die für die Produktion von Handys wichtig sind, soll er im Weltall nicht von seiner Bahn abgelenkt, sondern bloß zerkleinert werden, damit er nur in kleinen Stückchen auf die Erde schlägt. Sicher, viele Menschen würden dabei sterben, „aber damit kommen wir klar“.

Vieles wird angerissen, vieles bleibt an der Oberfläche

Autor, Regisseur und Ko-Produzent Adam McKay (53, Drehbuch-Oscar 2016 für die Kapitalismuskritik „The Big Short“) hat sich thematisch viel vorgenommen. In seinem Film ist der Kometeneinschlag Symbol für den Klimawandel, der von manchen Menschen ebenso geleugnet wird wie im Film der Komet, auch wenn man ihn schon längst am Himmel sehen kann. Den Schauspielprofis wie DiCaprio und Lawrence schaut man bei dieser filmischen Farce gewohnt gerne zu, wobei Cate Blanchett als zynische Gute-Laune-Moderatorin die vielleicht beste Rolle hat.

„The Killer“ von David Fincher bei Netflix

Doch das alles hilft nur bedingt, wenn McKays Drehbuch zwar enorm in die Breite geht – die zweieinhalb Stunden Laufzeit fühlen sich spürbar lange an –, aber doch an der Oberfläche bleibt; vieles wird angerissen, aber kaum etwas vertieft. Die Figuren bleiben Platzhalter für Stereotypen, exemplarisch der weibliche Trump – Meryl Streep hat zwar ihre komödiantischen Momente, aber die Figur besitzt keine Zwischentöne; zudem ist der Film wenig subtil, wenn er sie demonstrativ vor einem Porträtgemälde von Ex-Präsident Richard Nixon platziert oder sie mit großer Geste vor einem Treibstofftank rauchen lässt, an dem die Warnung „brennbar“ steht. Wirkt eine solche Warnung, abgesehen vom plumpen Symbolismus, nicht auch etwas zahnlos und verspätet angesichts einer erschreckenden Trump-Präsidentschaft und des Sturms eines rechten Mobs auf das Kapitol?

Subtil ist das nicht

Da scheint McKay seinem Publikum bei Netflix nicht viel Durchblick zuzutrauen, so wie er auch den Großteil Nordamerikas wohl für minderbemittelt hält – auch die Eltern der Wissenschaftlerin, die sie nicht mehr in ihr Haus lassen, weil sie nichts von Politik hören wollen und grundsätzlich jene Jobs befürworten, „die der Komet bringt“. Und dazu weht eine US-Flagge ins Bild – filmischer Populismus aus der linksliberalen Ecke und dabei so plump wie etwa der von wehenden Fahnen gestützte Patriotismus von rechts in Michael Bays Kometenfilm „Armageddon“. Zugleich aber findet der Film gelungene Bilder für die Ignoranz von Fakten – es gibt organisierte Kometen-Leugner, die unter dem Schlachtruf „Don’t look Up“ beschließen, einfach nicht in den Himmel zum heranrasenden Kometen zu schauen – was man nicht sieht, gibt es eben nicht. So wie man eben auch Corona-Fakten leugnen kann.

Man sollte den ganzen Abspann sehen

Bei seiner durchaus witzigen Geißelung von Medien-Irrsinn und Social-Media-Hysterie bleibt der Film aber stets plakativ an der Oberfläche, Hintergründe oder Erklärungen hat „Don’t look up“ nicht im Sinn. Zudem schleicht sich eine gewisse Selbstgerechtigkeit ein; es wirkt, als klopfe sich der Film dafür auf die Schulter, dass er naheliegende Ziele milde veräppelt. Sein Menschenbild ist dabei ziemlich finster; dieser Galerie von korrupten Politikern, oberflächlichen Influencern und tumben Trumpisten gönnt man den Weltuntergang schon ein wenig – abgesehen von den Wissenschaftlern und ihren Liebsten, die in einem Mittelklasse-Einfamilienhäuschen so etwas wie das letzte Abendmahl abhalten.

„Heart of Stone“ mit Gal Gadot bei Netflix

Den Film sollte man nicht während des Abspanns abbrechen – einen kleinen originellen Epilog in der Mitte gibt es noch. Dass der Film dann ganz am Ende des Abspanns noch mit einem Gag endet, der nicht recht zündet, passt gut zu „Dont‘ look Up“.

Der Film läuft bei Netflix.

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