Film und dieses & jenes

Schlagwort: Dominik Graf

„Das Ende der Wahrheit“ – Interview mit Regisseur Philipp Leinemann. Noch in der Arte-Mediathek

Regisseur Philipp Leinemann (rechts) mit Darsteller August Zirner. Foto Bernd Schuller

Regisseur Philipp Leinemann (rechts) mit Darsteller August Zirner. Foto Bernd Schuller

 

Der Polit-Thriller „Das Ende der  Wahrheit“ eröffnete vor 5 Jahren  in Saarbrücken das 40. Filmfestival Max Ophüls Preis. In dem Film kommt ein BND-Agent Machenschaften in der eigenen Behörde auf die Spur, was ihn in Todesgefahr bringt. Die Hauptrollen spielen Ronald Zehrfeld, Claudia Michelsen und Alexander Fehling; Philipp Leinemann ist der Autor und Regisseur des Films. 2014 wurde er mit dem vielgelobten Polizeifilm „Wir waren Könige“ bekannt und drehte zuletzt Episoden der Netflix-Serie „Das Signal“.

Die Hauptfigur von „Das Ende der Wahrheit“ gerät beim Bundesnachrichtendienst in ein Komplott um Terrorismus und Rüstungs-Lobbyismus. Wie kritisch sehen Sie den BND?

LEINEMANN Der Film soll keine Schelte des BND sein, sondern er erzählt davon, was geschieht, wenn  einzelne Akteure beim BND mit der Privatwirtschaft kungeln. Außerdem geht es darum, dass dem BND die Hände mehr und mehr gebunden sind, seinem eigentlichen Job nachzukommen – Informationen  sammeln,  analysieren und auch präsentieren. Aber wenn die politische Agenda derzeit so ist, dass Deutschland mit Ländern wie zum Beispiel Saudi-Arabien Geschäfte machen will, dann kann der BND schlecht laut sagen, dass dort die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Es geht mir im Film auch um eine generelle Entwicklung, von der ich im Gespräch mit mehreren BND-Mitarbeitern gehört und bei Recherchen gelesen habe: Dass sie nicht mehr wirklich genau wissen, was etwa in den Maghreb-Staaten oder im Nahen Osten passiert, weil sie von dort abgezogen wurden. Das führte dann zum Beispiel dazu, dass Ereignisse wie der Arabische Frühling und das Erstarken des IS gar nicht mehr wirklich frühzeitig erkannt wurden.

Woher kommt diese Entwicklung?

LEINEMANN Ich glaube, dahinter stecken Sparmaßnahmen, Borniertheit und Naivität. Bei den westlichen Geheimdiensten hat teilweise schon in den 1990ern die Entwicklung begonnen, dass sie aus Angst vor Maulwürfen die Verbindungen zu ihren Informanten vor Ort gekappt haben. Das war eine Art Paranoia, verbunden mit dem Irrglauben, dass man sich komplett auf Satellitentechnik verlassen kann. In einem Buch dazu bezeichnet ein CIA-Agent den Nahen Osten als Folge davon, aus Sicht des Westens, nun als „scheißweißen Fleck auf der Landkarte“.

Der BND-Agent im Film will der Tochter seine Arbeit und die Schwierigkeiten damit erklären. Er sagt „Es ist alles sehr kompliziert“ und korrigiert sich dann: „Es ist eigentlich ganz einfach.“ Aber das ist es eigentlich doch nicht, oder?

LEINEMANN Er meint die eigene moralische Haltung und den Blick, den man dann gewinnt, wenn man mal einen Schritt zurück geht – dann ist es einfach zu sehen, was moralisch richtig und was falsch ist. An sich ist aber natürlich nichts einfach in dieser Welt von Geheimdiensten, die so verwoben sind mit den Interessen der verschiedensten politischen Gruppen im Nahen Osten. Syrien ist ja das beste Beispiel, da kann kein Mensch den Überblick behalten, wie beim Krieg gegen den Terror. Ist der in letzter Zeit aussichtsreicher geworden? Oder weniger?

Haben Sie sich zur Recherche mit BND-Mitarbeitern getroffen?

LEINEMANN Es gab Treffen, die ziemlich konspirativ abliefen. Da war, wie auch bei den Recherchen zu „Wir waren Könige“ im Polizeimilieu,  viel Frustration über den eigenen Laden zu spüren. Beim BND, das hörte ich öfter, sind sie ständig damit beschäftigt, Akten herauszusuchen für Ausschüsse, die von der Opposition veranstaltet werden, so dass sie zu ihrer eigentlichen Arbeit kaum noch kommen. An einer Zusammenarbeit mit uns war der BND nicht interessiert, was natürlich in seiner Natur liegt. Deswegen haben wir ein Motiv im Film auch nicht bekommen: die Einfahrt des BND in Berlin.

Es gibt eine Actionszene im Film, als die Hauptfiguren in einen Hinterhalt geraten. Formal hat das US-Actionkino-Niveau, ist dann aber untypisch – eine Figur erleidet eine Panik-Attacke, eine andere übergibt sich aus Angst.

LEINEMANN Weil die Szene keineswegs heroisch sein sollte, eben nicht wie im üblichen Actionkino. Ich habe lange mit Ronald darüber diskutiert, ob seine Figur in dieser Szene überhaupt eine Waffe haben soll und zurückschießt. Für diese Szene hatten wir  nicht mal einen ganzen Drehtag. Das wollte mir niemand glauben, als ich den Film in Los Angeles gezeigt habe. Wir hatten wenig Zeit und  Geld für den ganzen Film.

Wie hoch war das Budget?

LEINEMANN Weit unter zwei Millionen Euro bei 27 Drehtagen. Das ist bei so einem Film sehr wenig, das funktioniert nur mit einem Team, das wirklich mitzieht – und dem ich viel Dank schulde. Die wenige Drehzeit ist manchmal frustrierend, man würde ja doch gerne mehr ausprobieren mit den Schauspielern, gerade wenn man so viele Hochkaräter hat wie hier, die gerne noch einen Take mehr machen würden, nochmal etwas versuchen wollen.

Regisseur Dominik Graf dreht seit langem immer wieder auch Krimis und Polizeifilme – gibt es da eine gewisse filmische Verwandtschaft?

LEINEMANN Ich habe das in Kritiken zu „Wir waren Könige“ oder auch in Gesprächen oft gelesen oder gehört.  Aber ich glaube, ich bin da eher unbewusst vom US-Kino beeinflusst, von Scorsese etwa oder von Coppola. Ich schätze und respektiere Dominik Graf sehr, er hat mir nach „Könige“ auch eine sehr liebe Mail geschrieben, aber ich eifere ihm nicht nach. Es ist immer interessant, wie andere Leute einen beschreiben, was für eine Art Filmemacher man ist. In Los Angeles wurde ich als „hard-driven action director“ beschrieben, was ich selbst etwas merkwürdig fand. Ich weiß ja selber nicht, was ich für ein Filmemacher bin, ich stehe noch ganz am Anfang, mich interessiert noch so viel und so viel anderes. Aber wenn man zwei, drei Filme gemacht hat, steckt man schnell in einer Schublade, auch als Schauspieler oder Kameramann. Deswegen habe ich immer sehr zögerlich reagiert auf Angebote vom „Tatort“ oder dem „Polizeiruf“, weil man dann schnell nur noch das macht.

Der Film ist noch bis 24. April in der Mediathek von Arte zu haben; DVD bei Studiocanal.

 

„Die Theorie von allem“ gewinnt drei Lola-Filmpreise

 

Wie man sich nach dem Besuch dieses Films fühlt, wird sich wohl daran entscheiden, ob man Rätsel vor allem dann schätzt, wenn sie aufgedröselt und gelöst werden. Oder ob man gerne mangels Erklärung weiterbrütet, ohne Garantie, des Rätsels Lösung schließlich zu ergründen. „Die Theorie von allem“ kann einen beglückt zurücklassen oder auch etwa frustriert. Oder beides zugleich. In jedem Fall ist der Film von Timm Kröger (Regie und Ko-Drehbuch mit Roderick Warich), der im Wettbewerb von Venedig seine Premiere feierte, ein ambitionierter Brocken. Mit Wendungen, Kurven und Fährten, die in die Irre führen können – oder doch mitten ins Herz der Erkenntnis?​

In welcher Welt leben wir?​

Mit einem farbigen Prolog beginnt dieser eigenwillige, ambitionierte Film, dessen Bilder danach schwarzweiß sind, abgesehen von einem kurzen Farbblitz in einer zentralen Szene. 1974 sitzt ein bärtiger Physiker in einer TV-Show und wird von einem betont launigen Moderator befragt (und bloßgestellt). Denn des Physikers Buch über die Frage, in welcher von vielen möglichen parallelen Welten wir gerade leben, ist für ihn und das Publikum ein Quell des Amüsements, kein Denkanstoß. Der kollektiv Belächelte nimmt das kaum zur Kenntnis, er schaut in die Kamera und richtet sich an eine Karin, „egal wo Du bist“.​

 

 

Zwölf Jahre zurück springt der Film, nun schwarzweiß: Der Physiker von Beginn, Johannes Leinert (gespielt von Jan Bülow), ist bartlos und rattert in einem Zug den Schweizer Bergen entgegen – begleitet von seinem Doktorvater Julius Strathen (Hanns Zischler). In einem Hotel ist ein Physikerkongress geplant, die akademische Berggesellschaft wartet auf einen Wissenschaftler, dessen jüngste Theorie nichts weniger erwarten lässt als die Erklärung von dem, was unsere Welt (oder Welten?) im Innersten zusammenhält. Nur: Der Wissenschaftler lässt auf sich warten. So vertreibt man sich die Zeit bei ein wenig Ski, viel mondänem Après Ski und manchen akademischen Eifersüchteleien.​

Warum weiß Karin das alles?​

Derweil arbeitet Leinert weiter in seiner Bruchbude eines Hotelzimmers an seiner eigenen, von seitenweise Formeln anscheinend gestützten Theorie, dass wir viele Leben parallel leben, ohne es zu wissen.  (Nichts wissen will davon allerdings der Doktorvater.) Trost für den ignorierten Jung-Physiker ist die junge Jazzpianistin Karin Hönig (Olivia Ross), die von Johannes Dinge weiß, die sie eigentlich nicht wissen kann. Kennt sie ihn aus einem früheren Leben? Oder aus einem parallel ablaufenden? Und was hat es mit einem toten Physiker auf sich, den man bestialisch zugerichtet im Schnee findet? Und welche Rolle spielt ein mysteriöser Stollen tief im Berg?​

Kritik zu „Wild wie das Meer“

Fragen über Fragen, die der Film kunstvoll auftürmt. Die breiten, fast brutal kontrastreichen Schwarzweißbilder von Kameramann Roland Stuprich sind kolossal – die Schweizer Berge wirken wie eine andere Welt, die Innenräume atmen bedrohliche Film-Noir-Atmosphäre. Eine Fahrstuhlfahrt wird hier zu einem kontrollierten Absturz in die Hölle.​

Die Musik – ein Reiz oder ein Problem des Films?​

In dieser Welt stolpert der Jung-Physiker umher, kann sich keinen rechten Reim machen auf das, was vor sich geht. Filmisch untermalt wird diese Sinnsuche von einer Musik, die in diesem Film der Eigenwilligkeiten besonders eigenwillig ist: Diego Ramos Rodríguez hat eine opulente symphonische Musik geschrieben, mit vielen Verweisen auf Alfred Hitchcocks Hauskomponisten Bernard Herrmann, auf den französischen Filmkomponisten Georges Delerue, auf US-Musiker Leonard Rosenman. „Pathetisch und lärmend und naiv, aber auch komplex und filigran und widerspenstig“ nennt der Regisseur diese Klänge, die in vielen Kritiken zum Film sehr gelobt werden – aber sie bergen ein Risiko: Oft scheinen sie mit ihrem Pomp und Pathos die Bilder zu konterkarieren oder zu ironisieren; ob nun absichtlicher Verfremdungseffekt oder nicht, betonen sie doch nicht das Gesehene, sondern schaffen eine Distanz, als Zuschauerin oder Zuschauer wird man oft auf Abstand gehalten.​

Dominik Graf als Gast-Rauner​

Diese Distanz hebt sich im letzten Drittel allerdings auf, wenn der Film nach einer dramatischen Begegnung im Stollen auf das weitere Leben von Johannes blickt: mittels einer kunstvollen Montage, mit galligem cineastischem Humor (wenn sich Johannes in einem Kino eine italienische B-Filmversion seiner eigenen Geschichte anschaut) – und mit einer wunderbaren raunenden Erzählerstimme: Regisseur Dominik Graf.​

Interview mit Dominik Graf

Wenn es nun parallele Leben geben sollte, dann könnte es doch auch parallele Versionen dieses Films geben für möglicherweise simplere Geschmäcker? Vielleicht eine Version von „Die Theorie von allem“, die im etwas zu langen Mittelteil konventioneller an ihr Thema herangeht? Formal vielleicht weniger Stilwillen besitzt, dabei die Spannungsmöglichkeiten seiner Geschichte aber stärker herauskitzelt? Wie dem auch sei – vor allem sollte man dankbar dafür sein, was hier filmisch gewagt wird. Eine lohnenswerte Kino-Erfahrung ist dieser Film, der sich einiges traut, in jedem Fall.​

 

Drei deutsche Filmpreise hat der Film gewonnen:

Kamera/Bildgestaltung: Roland Stuprich
Szenenbild: Cosima Vellenzer und Anika Klatt
Visuelle Effekte: Kariem Saleh und Adrian Meyer

DVD bei Good!Movies

Arbeit in der Kino-Nische: Die 50. Ausgabe des Magazins „35 Millimeter“

Jörg Mathieu, Gründer von „35 Millimeter“

Jörg Mathieu, Gründer von „35 Millimeter“, als Freund der Kino-Klassik stilecht mit einem T-Shirt zum Film „Svengali“ aus dem Jahr 1931. Foto: Layoutist

Ein ambitioniertes Konzept: Die saarländische Filmzeitschrift „35 Millimeter“ widmet sich bewusst nur den ersten 70 Jahren Kino. Das Heft feiert jetzt seine 50. Ausgabe – wie funktioniert das Ganze?

„Wir sind die Nische in der Nische“, gibt Jörg Mathieu zu. Aber dort fühlen sich einige Leserinnen und Leser sehr wohl – genug Kino-Anhänger jedenfalls, dass das saarländische Magazin mit seinem ambitionierten Konzept nun seine 50. Ausgabe feiern kann: „35 Millimeter“ widmet sich den ersten 70 Jahren klassischer Kinogeschichte, zwischen 1895 und 1965. Um Klassiker geht es ebenso wie um heute Vergessenes und Ausgrabenswertes, man liest Texte über einfarbige Stummfilme oder knallbunte Musicals, Western, Krimis, Science-Fiction. Jedes Genre ist dabei – aber im Jahr 1965 ist eben Schluss. Um das aktuelle Kino kümmert sich übrigens das St. Ingberter Magazin „Deadline“, das gerade seine 100. Ausgabe herausgebracht hat. „Es geht ja nicht um alte Schinken“, sagt Mathieu über das „35 Millimeter“-Magazin, „sondern um das Bewahren von Filmkultur“. Natürlich ist da Nostalgie im Spiel, „aber wir verweigern uns nicht der Moderne“. Vor allem geht es um filmische Entdeckungen oder um neue Sichtweisen, nicht um das Wiederkäuen des filmischen Kanons. Selbst Mathieu, 54, Kenner der klassischen Kino-Ära, gibt zu: „Ich weiß höchstens die Hälfte von dem, was bei uns in einem Heft steht.“

An Geldverdienen ist nicht zu denken

Vor neun Jahren ist die erste Ausgabe erschienen, Mathieu war damals Chefredakteur, Herausgeber und Gestalter zugleich. Das Debüt war ein Testballon, „mit einem noch nicht ganz professionellen Layout“ und mit Texten von Film-Enthusiastinnen und -Enthusiasten, die aus Spaß an der filmischen Freude schreiben, ehrenamtlich. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Denn, so abgedroschen es klingen mag, „es geht der Redaktion tatsächlich um die Sache“, sagt Mathieu. Mit einem derart spezialisierten Magazin sei an Geldverdienen nicht zu denken, „noch dazu im Medium Print, das immer weniger wird“. Vor einigen Jahren habe das Heft „auch einen Durchhänger gehabt“, sagt er, es war damals fraglich, ob es sich weiterhin tragen würde. Und das ist die Mindestbedingung. „Sobald man privates Geld reinstecken muss, hat es keinen Sinn mehr. Wir hätten aufgehört.“

 

Die Jubiläumsausgabe.

 

Doch die Lage hat sich stabilisiert, unter anderem durch das Coronavirus, das sonst viel Kultur bedroht und zum Teil zerstört hat. „Wir sind in gewisser Weise Pandemiegewinner – die Menschen waren zu Hause, haben mehr gelesen, unsere Zahlen sind gestiegen.“ Die Auflage des Magazins, das viermal im Jahr erscheint, liegt bei um die 500 Stück, sagt Mathieu, die Zahl der Abos bei 186. Eine Nische eben, klein, aber fein – so zählt etwa Regisseur Dominik Graf („Fabian“, „Die Katze“, „Die geliebten Schwestern“) zu den Abonnenten und bezeichnete das Magazin zum fünften Geburtstag als „eine Art kleines Wunder“, als „schriftliches Filmmuseum“, sogar als „warmen Pool der cineastischen Wollust“. Ähnlich sah es der renommierte Filmwissenschaftler und Autor Hans Helmut Prinzler, der kurz vor seinem Tod Mitte Juni zur 50. Ausgabe per Grußwort gratulierte, das Heft „vorbildlich“ nannte, „einen Traum für einen Filmhistoriker“. Für Mathieu „ein Ritterschlag“.

Zu Besuch bei der Heimkinofirma „Pidax“

Viel Lob also für das Magazin, das dennoch mit der Überalterung seines Publikums kämpfen muss. „Wir haben immer noch zu wenige junge Leserinnen und Leser“, sagt Mathieu, „die größten Gruppen sind 45 plus und dann 60 plus“. Manchmal bekomme er Briefe, in dem ihm Angehörige vom Tod eines Abonnenten schrieben und auf weitere Hefte verzichteten.

Eine Schwesternzeitschrift

Über die Jahre hat sich die Welt von „35 Millimeter“ erweitert. Neben den regulären Magazinen sind Sonderausgaben erschienen – zu den Genres Western, Gangsterfilm und Melodram etwa, über Filmstar und Gruselmythos Vincent Price (Mathieu hatte 2016 dessen Tochter Victoria zu einer Veranstaltung ins Saarbrücker Filmhaus geholt). Und nebenbei ist eine Schwesterzeitschrift entstanden: „70 Millimeter“ heißt sie und widmet sich in bisher vier Ausgaben – im handlich quadratischen Format – den Filmjahren 1966 bis 1975.

Buch von „35 Millimeter“ über Regisseur Victor Sjöström

100 Seiten hat die Jubiläumsausgabe Nummer 50, sie kostet 10,40 Euro; den stark gestiegenen Papierpreis spüre man bei den Druckkosten schmerzhaft, sagt Mathieu – ab Heft 51 soll der Preis bei 7,20 Euro liegen. Die Jubiläumsausgabe ist wie die Vorgänger aufgeteilt in ein Hauptthema und die üblichen Rubriken. Schwerpunkt ist das Filmstudio 20th Century Fox (2019 von Disney einverleibt): Da geht es unter anderem um Filmemacher Frank Borzage, einst Regie-Star und oscarprämiert, heute vergessen, auch über die „Charlie Chan“- und „Mr. Moto“-Filmreihen um asiatische Detektive (jeweils gespielt von den Nicht-Asiaten Warner Oland und Peter Lorre), um die „Film Noir“-Krimis des Fox-Studios und, in einer Einzelbetrachtung, um John Fords Klassiker „Die Früchte des Zorns“.

Buster Keaton und die KI

Abseits des Schwerpunkts kann man Texte lesen über neue Heimkinoveröffentlichungen, Filmbücher, über die Filmstoffe von James M. Barrie abseits „Peter Pan“ – und ein Interview mit ChatGPT über das frühe Filmerbe. Ganz faktensicher ist die Künstliche Intelligenz nicht, erwähnt sie doch einen Film von Buster Keaton, den es nicht gibt, der aber einen charmanten fiktiven Titel hat: „Der goldene Windbeutel“; auf die Frage, wie der Vampirfilm „Nosferatu“ aussähe, hätte ihn statt Friedrich Wilhelm Murnau eine Frau inszeniert, reagiert die ChatGPT mit angestaubten Geschlechterklischees: Eine Regisseurin hätte „vielleicht eine sanftere, poetischere und zugleich melancholische Ästhetik bevorzugt“. Soso. Mit Kathryn Bigelows Vampirfilm „Near Dark“ scheint die Künstliche Intelligenz nicht vertraut zu sein.

DVD-Ausgrabung „Tragödie in einer Wohnwagenstadt“

Mathieu, der neben „35 Millimeter“ mit der Agentur Indiera Promo Konzerte organisiert hat und das jetzt unter dem Banner Artificial Impertinenz weiterführt, hat die Chefredaktion von 35 Millimeter mittlerweile abgegeben; Clemens Gerhard Williges leitet die ehrenamtliche Redaktion mit einem Dutzend Schreiberinnen und Schreibern. Mathieu kümmert sich um das Geschäftliche, um die Layout-Gestaltung („das dauert so zwei bis drei Wochen pro Heft“) – und den Eigenvertrieb: Zuhause in Dudweiler arbeitet er Einzelbestellungen und Abos ab, tütet Hefte ein und verschickt sie. „Da schleppt man mehrfach die Woche schon einige Zentner zur Post.“ Für das klassische Kino ist eben nichts zu schwer.

Kontakt und Informationen:
https://35mm-retrofilmmagazin.de

„Was heißt hier Ende?“ Dominik Grafs Film über Michael Althen

Der Filmjournalist Michael Althen (1962-2011). Foto: Good!Movies

Seine Texte seien ja schön gewesen, sagt Michael Althens Vater im Film, „aber die Nachrufe – die waren wunderschön“. Das gilt auch für diesen filmischen Nachruf „Was heißt hier Ende?“ von Dominik Graf, der 2015 erstmals im Kino lief. Graf hat neben seinen Spielfilmen („Die Katze“, „Geliebte Schwestern“, „Fabian“) immer wieder auch Filmessays gedreht – einige auch zusammen mit dem Filmkritiker Michael Althen, der ihm ein Freund wurde und 2011 starb, im Alter von 48 Jahren.​

Grafs Film ist ein mosaikartiges Porträt, gefühlvoll, aber nicht sentimental – um einen Kino-Liebenden geht es, dessen Bild Graf aus vielen Teilen zusammensetzt: Da sind Ausschnitte aus Althens eigenen Filmen, vor allem über den Maler Nicolas de Staël, der ihn faszinierte; Texte Althens übers Kino, die Graf wundervoll raunend liest; da sind die Kinder, die Witwe, die Freunde und Kollegen, die Anekdoten erzählen – Kritiker wie Andreas Kilb, Tobias Kniebe, Harald Pauli, Filmemacher wie Christian Petzold und Caroline Link.​

Die Angst um Antonionis Nachruf​

Von dem Nachtschwärmer Althen hören wir da, der erst schrieb, wenn alle um ihn herum ins Bett gegangen waren; der kaum etwas mehr fürchtete, als dass Regisseur Michelangelo Antonioni stirbt, wenn Althen in Urlaub ist und er deshalb keinen Nachruf schreiben kann. Althen schrieb den Text dann doch, nach jahrelangem Zögern vorab, „für die Schublade“ sozusagen – einen Tag später starb Antonioni. Und Althen gab sich eine gewisse Mitschuld, erzählt seine Frau lächelnd.​

„Schon 20 Mal gesehen hat – und davon 18 Mal besser“​

Natürlich erzählen die Freunde vor allem Nettes über Althen, auch wenn die Kollegin Doris Kuhn dessen manchmal etwas gefühlsbeladenen und bedeutsamen Stil sanft veräppelt: wenn Althen etwa von den „Pfützen der Erinnerung“ spricht. Dabei schlägt der Film einen thematisch weiten Bogen – ist die Filmkritik langweilig geworden? Hat sie nur noch Service-Charakter? Wie kann man sich eine Begeisterung fürs Kino erhalten, wenn man sich 30 Jahre lang berufsmäßig Filme anschaut? Und alles, wie Andreas Kilb es beschreibt, „schon 20 Mal gesehen hat – und davon 18 Mal besser“? Auch darum geht es in diesem schönen Nachruf.​

Ein Interview mit Dominik Graf: „Naja, ich war halt Anfänger“

Dominik Graf Die Katze Der Fahnder Tatort Polizeiruf John Carpenter Harms

Regisseur Dominik Graf.                                                          Foto: dpa

1982 kamen Sie mit „Das zweite Gesicht“ nach Saarbrücken zu Ophüls. Wie war Ihr Eindruck vom Festival?

Das war, ähnlich wie Hof damals, ein aufstrebendes junges Festival abseits der Kino-Zentren, das sich aber vorrangig um die nachkommende Generation gekümmert hat. Junge Leute mit einem jungen Kino.

Dem „Zweiten Gesicht“ attestieren Sie in Ihrem Buch „Schläft ein Lied in allen Dingen“ eine „quälende Länge“ – ist das nicht etwas harsch?

Naja, ich war halt Anfänger und hatte nicht sehr viel Praxis. Die Filmhochschüler heute drehen viel mehr Filme, kleine Produktionen schnell nebenher an der Hochschule und kommen so mit mehr Erfahrung in ihren ersten Spielfilm hinein. Ich war komplett überfordert als Regisseur und Autor. Ich hatte den fabelhaften Kameramann Helge Weindler, der später für Doris Dörrie gedreht hat, was mich aber vor Probleme gestellt hat, denn Ich konnte einige Fragen, die er hatte, gar nicht beantworten. Ich habe angefangen mit Studentenfilmen, in denen ich immer nur Großaufnahmen von einem Gesicht gefilmt habe, weil ich mehr als einen Schauspieler im Bild beim Inszenieren gar nicht beurteilen konnte. Mein Glück war, dass man damals längere Zeit die Möglichkeit hatte, Mist zu bauen. Aber ich weiß noch, dass Regisseur und Filmjournalist Eckhart Schmidt mich ein paar Jahre und ein paar Filme weiter warnte: „So, jetzt muss es aber mal klappen.“ In der Zeit der Fernsehserien bei der Bavaria habe ich mir dann immerhin eine gewisse Professionalität und ein schnelles Urteil am Set bilden können.

Sie schreiben im Buch auch, dass Sie sich früh vorgenommen haben, „keine Handschrift haben“ zu wollen. Wie ist das gemeint?

Ja, das war gegen das Autorenkino gerichtet. Vor der Generation, zu der ich gehöre, standen Fassbinder und Wenders im Rampenlicht. Und bei deren Generation hatten wir immer das Gefühl, dass der unbedingte Willen zur eigenen Handschrift den Filmen manchmal ein bisschen schadete. Wir waren eher auf der Suche nach Genrefilmen, nach Erzählkino und einer Normalität, auch in der Schauspielerführung – was mir lange überhaupt nicht gelungen ist. Es gibt diesen schönen Satz von Jean Cocteau, dass man keine künstlerische Handschrift haben wollen darf – aber dass einem das dann auf keinen Fall gelingen sollte. Insofern kann es natürlich absurderweise auch sein, dass gerade in den Defiziten und Fehlern, die „Das zweite Gesicht“ hat, doch eine eigene Handschrift vorgeprägt ist.

Haben Sie früher mit einem gewissen Neid nach Frankreich geschaut, wo man ein Starsystem hat und keine Berührungsängste mit dem Genrefilm, anders als hier?

Allerdings. Gerade beim Genrefilm ist der Unterschied arg. Die Franzosen hatten in den 1990ern ja mal ein paar Jahre Pause beim Polizeifilm, aber seit den 2000ern kommt bis heute wieder ein fantastisches Ding nach dem anderen. Kleine, oft unglaublich rabiat gedrehte Gangster- und Polizeifilme fürs Kino. Uns fehlen auch die Stars, die ein Genrekino dringend braucht. Jemand wie Götz George etwa hat bei „Die Katze“ damals allein schon mal eine Million Zuschauer mobil gemacht.

Verhindert bei uns nicht aber der allgegenwärtige „Tatort“ im Fernsehen, dass auch Krimis fürs Kino produziert werden?

In gewissem Sinn schon. Ich drehe ja auch „ Polizeirufe“ und „Tatorte“, das sind für mich die billigeren,die einfach zu finanzierenden Thriller. Wenn man dieses Genre nochmal ins Kino übertragen will, dann muss man die Filme über ein gewisses ästhetisches Level heben, damit das Publikum weiß, dass hier etwas anderes läuft als das, was jeden Tag im Fernsehen zu sehen ist. Eine hohe Finanzierung von Genrekino ist aber bei uns schwierig, weil es kein Zutrauen gibt, das war schon bei „Die Katze“ so und bei „Die Sieger“ noch mehr. Seither habe ich mich dann nicht mehr wirklich darum bemüht. Es ist schwer zu sagen, wie sich heute ein Kino-Genrefilm unterscheiden müsste von einem Genrefilm im Fernsehen. Die Versuche, die andere Leute seit den 1990er unternommen haben, so spannend sie waren, haben nicht wirklich die Schallmauer der Anti-Genre-Haltung durchbrechen können. Sogar Til Schweiger mit seinem Kino-„Tatort“, seinem Actionfilm „Schutzengel“ und mit seinem so großen Publikumsreservoir hat es nicht wirklich geschafft – wenn auch mehr als alle anderen. Es ist halt so: Nur die Komödie läuft noch in Deutschland. Andererseits gibt mir aber auch das Fernsehen die Chance, auf hohem Niveau zu erzählen, wie zum Beispiel bei „Im Angesicht des Verbrechens“.

Liefe solch eine Reihe heute bei Netflix? Sind die Streamingdienste eine Chance gerade für junge Filmemacher?

Ich kann die Streaming-Plattformen nicht einschätzen. Was ich dort sehe, zeigt mir bei den deutschen Produkten bislang keine Richtung, die mich interessiert. Es wird zwar gerade wie verrückt produziert, nachdem die Deutschen nach nur 20 Jahren internationalem Serienhype gemerkt haben, dass Serien interessant sein könnten. Aber jetzt ist der Hype schon fast wieder vorbei – ich sehe die Serie an sich eher schon auf dem absteigenden Ast.

Wie ist Ihr Verhältnis zur Filmkritik? Bei „Die Katze“ etwa wurde viel gemäkelt, das sei alles zu amerikanisch. Heute wird das ganz anders gesehen. Wie ernst nehmen Sie Filmkritik?

Das ist personenabhängig. Die Film- und vor allem die Fernsehkritik als Ganzes kann man zur Zeit nicht wirklich ernst nehmen, weil überwiegend filmisch ignorante Leute schreiben. Aber es gab immer und es gibt natürlich in Zeitungen und in sehr speziellen Internet-Blogs Leute, die einen mit ihren Kommentaren Kritiken zum Nachdenken bringen, auch wenn sie einem auf die Finger klopfen. Und wenn sie einen loben, hat es Hand und Fuß. Aber bei vielen Kritikern ist ja sogar das Lob blind, es werden inhaltliche Banalitäten belobigt. Das kann man nicht annehmen.

Sie sind seit 2012 in der Jury des Michael-Althen-Preises, der an den Filmjournalisten Michael Althen erinnert, mit dem Sie unter anderem den Filmessay „München – Geheimnisse einer Stadt“ gedreht haben. Da muss es doch bessere Texte geben?

Letztes Jahr gab es einen tollen Text von Oliver Nöding über Rolf Olsens Krimi „Blutiger Freitag“ von 1972, dem hätte ich so sehr einen Preis gegönnt . Das ist eine schöne Art von Schreiben über Film, temperamentvoll, leidenschaftlich, frech, modern, persönlich, mit viel Wissen über die Filmgeschichte, obwohl Nöding 30 Jahre jünger ist als ich. Das macht Hoffnung.

Sie haben viele Preise gewonnen – ist das nicht auch gefährlich? Zementieren Preise nicht das, was man tut, und hemmen die Experimentierlust?

Nein, man muss sich immer bewusst sein, dass Preise aufgrund der Jurybesetzungen häufig so gut wie nichts bedeuten – die Preis-Kriterien sind heute meistens themen- und nicht wirklich filmorientiert, und da muss man sich eher schämen wenn man was gewinnt.

Sie haben in Ihrer Zeit bei der Bavaria lange mit dem Produzenten Günter Rohrbach gearbeitet, der aus Neunkirchen stammt – wie ist Ihr Blick auf ihn heute?

Er ist eine ganz große Figur. Wir haben uns über die Jahre und ein halbes Dutzend Filme lang ja auch heftig aneinander gerieben, aber ich habe ihm viel zu verdanken, weil er mich aus dem Vorabendserien-Dasein zum Kinofilm gebracht hat. Der Vorschlag, dass ich „Die Katze“ machen sollte, kam von ihm. Er hat schwierige Finanzierungen zusammenbekommen, und wenn die zu knapp waren, hat er sich trotzdem getraut, den Film zu machen. Er wollte Publikumsfilme und hohe Qualität zusammenbringen, wie bei Petersens „Boot“, da war er bahnbrechend, nicht nur bei der Bavaria. Man hatte damals ja die Vorstellung und den Wunsch, dass kommerzielle Filme auch möglichst gut werden sollen. Ich stelle Günter Rohrbach ebenbürtig neben Bernd Eichinger – mindestens.

Ihr Polizeifilm „Die Sieger“ war 1994 für einen deutschen Film sehr teuer, hat dann kein Publikum gefunden, und die Kritiken waren auch schlecht. Wie weh tut das?

Das war ein Niederschlag, aber da müssen die meisten Regisseure im Laufe ihrer Karriere ja durch. Ich wollte in jeder Hinsicht hoch hinaus damit, da kriegt man – nicht immer zu Unrecht- was auf die Ohren. Und vielleicht war es auch überraschend, dass der Film quasi nur zum Schein ein Polizeifilm st, gleichzeitig eher ein Gespensterfilm über die schaurige „Hoch die Tassen“-Bundesrepublik der 1990er. Ich habe „Die Sieger“ immer sehr geliebt wie ein widerborstiges Kind, und ich halte vieles daran für gelungen – aber nicht alles. Auf der Berlinale läuft er jetzt in der „Classics“-Reihe nochmal in einem Director’s Cut, zwölf Minuten länger, mit unter anderem zwei grossen Szenen, die sehr wichtig, aber jetzt erstmals im Film zu sehen sind.

Vielleicht ein gewagter Spagat – aber mich hat die Rezeption an die von John Carpenters „Das Ding aus einer anderen Welt“ erinnert: vernichtende Kritiken, ein Flop – und Carpenter war, anders als Sie, danach nicht mehr ganz derselbe.

Ich wusste nicht, dass die Kritiken damals so schlecht waren. Ich finde den Film fantastisch, das ist einer seiner allerbesten. Aber es ist oft so bei sehr guten, bei großen Regisseuren, dass die Filme, die den größten Erfolg hatten, gar nicht unbedingt ihre besten sondern eher die -für ihre Verhältnisse-mittelmäßigen waren. Und dass die untergegangenen, beschimpften Film auf Dauer die stärksten sind.

Sehen Sie das bei sich auch so?

Nein, das will ich auf mich nicht anwenden, weil ich mich eher in so einem cineastischen Mittelmaß verorte. Ich tue, was ich kann, und lerne immer noch dazu.

Vor 20 Jahren haben Sie mit Heiner Lauterbach den Film „Der Skorpion“ gedreht, für viele einer ihrer besten Arbeiten – werden Sie mal wieder zusammenarbeiten?

Wir hatten das geplant – eine sehr gute Kiez-Serie, die Nikolai Müllerschön geschrieben hat. Das wollten wir machen, aber im Moment ist die Finanzierungslinie etwas abgeschnitten.

Müllerschön hat mit Lauterbach den rauen Krimi „Harms“ gedreht – ist das eine Art Kino, von dem Sie sich wünschen, es gäbe mehr davon?

Natürlich, „Harms“ fand ich absolut herausragend. Ein Film, der plötzlich da war – im Grunde habe ich ihn nur auf DVD wahrgenommen, weil er so schnell aus dem Kino wieder verschwunden war. Furchtbar. Auch da haben sich leider einige Filmkritiker wenig mit Ruhm bekleckert, weil sie nicht gemerkt haben, was für eine Kraft und Melancholie in diesem schönen Film steckt. Es kann aber auch sein, dass das Schauen aufs Kino sich verändert hat. Dass bestimmte Qualitäten, die man in einem Film lesen könnte, sogar eher störend wirken. Das Publikum möchte den denkbar schlichtesten Flow. Niemand will sich mehr Mühe machen im Kino, das Leben ist schon zu schwierig. Und wenn ein Film dann auch noch maue Kritiken bekommt, dann hat er schnell gar keine Chance mehr.

Wie schauen Sie sich eigentlich Filme an? Vor allem im Kino?

Nein. Im Kino interessiert mich momentan wenig wirklich vital. Ich schaue DVD. Einen großen Beamer habe ich nicht, ich muss gestehen, dass ich manche Filme sogar am Laptop schaue. Als Student hatte ich einen winzigen Schwarz-Weiß-Fernseher, auf dem habe ich Kavallerie-Western von John Ford gesehen – ich bin so nahe rangekrochen, bis das Monumental Valley wieder groß war.

„Offene Wunde deutscher Film“ von Dominik Graf und Johannes F. Sievert

Offene Wunde deuscher Film Wolfgang Petersen Dominik Graf Jürgen Goslar Robert Sigl Das Boot Arte WDR

Wolfgang Petersen erinnert sich an  seine Produktion „Das Boot“. Foto: WDR

Blickt man nur höchst flüchtig auf das deutsche Nachkriegskino, kann sich dieser Eindruck einstellen: In den 1950ern und -60ern füllen Heimatschnulzen, Winnetou und Wallace die Filmtheater. Dann erklären langmähnige Jungfilmer „Opas Kino“ 1968 für tot und rufen den „Neuen Deutschen Film“ aus; fortan regiert der Autorenfilm, wenn auch manchmal in leeren Sälen.

So weit, so klischeehaft zugespitzt. Diesem Klischee wirken seit Jahren einige rührige Kinoforscher entgegen und werben für vergessene Perlen des deutschen Films und einen differenzierteren Blick auf das hiesige Kino: etwa die Herausgeber der Zeitschrift  „Sigi Götz Entertainment“ und nicht zuletzt Dominik Graf. Der Regisseur („Die geliebten Schwestern“), dessen „Tatorte“ und „Polizeirufe“ stets herausragen, schreibt über Kino und dreht auch immer wieder Filme zum Thema. 2016 legte er zusammen mit Johannes F. Sievert die Doku „Verfluchte Liebe deutscher Film“ über vergessene Perlen des deutschen Kinos vor. Morgen läuft deren Fortsetzung zum ersten Mal im Fernsehen: „Offene Wunde deutscher Film“ – eine Liebeserklärung an Querköpfe, die sich beherzt zwischen alle filmischen Stühle setzen, weder den reinen Kommerz noch das Arthaus-Kino bedienten und es entsprechend schwer hatten oder haben.

Interview mit Dominik Graf

Wolfgang Petersen, der erste Gesprächspartner im Film, fällt da  mit seiner US-Karriere zwar heraus; mit einigen anderen zu Wort kommenden Regisseuren verbindet ihn aber die Liebe zum US-Kino, über die man damals an der Filmhochschule besser nicht redete, erzählt er, sonst galt man als unpolitischer „Kuchenfilmer“; Klaus Lemke („Rocker“) etwa träumte ebenfalls nicht vom europäischen Kino, sondern „vom US-Jungensfilm“. Lemke (77) dreht bis heute, so wie der gleichaltrige Kollege Rudolf Thome – wenn auch meist ohne jede Filmförderung.

Von der fühlt sich auch Robert Sigl ignoriert – trotz des frühen Erfolgs mit dem stilvollen Gruselfilm „Laurin“ vor 29 Jahren müht er sich seit Jahren um Förderung und Finanzierung. Kollege Wolfgang Büld, der einst „Gib Gas, ich will Spaß“ mit Nena drehte, hatte es etwas besser – in London realisierte er einige blutig-erotisch Filme, „bis der DVD-Markt dann zusammenbrach“.

 

Offene Wunde deuscher Film Wolfgang Petersen Dominik Graf Jürgen Goslar Robert Sigl Das Boot Arte WDR

Filmemacher Jürgen Goslar spricht über seine Zeit und Filme in Rhodesien, dem heutigen Simbabwe, und Südafrika. Foto: WDR

Interessante Einblicke in meist schwierige Karrieren sind das. Schade nur, dass der 90-MinutenFilm sich wenig Zeit gönnt: Vieles wird kurz angeschnitten, schon geht es weiter zum nächsten Film und Gesprächspartner. Die Musiker Klaus Doldinger, Eberhard Schoener und Irmin Schmidt von Can tauchen kurz auf, Filmjournalisten wie Olaf Möller und Rainer Knepperges – oft mit wenigen Sätzen. Mehr Zeit nimmt sich der Film immerhin bei Jürgen Goslar, einer festen Darsteller/Regie-Größe im „Kommissar“, bei „Der Alte“ und „Derrick“: Mitte der 1970er Jahre inszenierte er im damaligen Rhodesien zwei knallig-brutale, filmisch radikale  Abenteuerfilme – einen mit Horst Frank als schwarzem Albino.

In seiner Rastlosigkeit mag „Offene Wunde deutscher Film“ manchmal frustrieren – die enorme Materialfülle aber fasziniert, die  offensichtliche Liebe zum Thema ist ansteckend,  und man erhält viele Anregungen für den nächsten Heimkino-Abend.

 

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Regisseur Nikolai Müllerschön spricht über seinen Gangsterfilm „Harms“ von 2011. Foto: WDR

„Die Weibchen“ im Heimkino: Uschi Glas und die brennenden Büstenhalter

 

DVD-Hülle des Films "Die Weibchen" mit Uschi Glas.

Die Heimkino-Ausgabe von „Die Weibchen“. Fotos: Bildstörung

 

„Es sind die Nerven.“ Das ist, in aller Kürze, die Diagnose für die junge Chefsekretärin Eve (Uschi Glas). Eine Kur im schönen Bad Marein soll das Nervenkostüm wieder aufbügeln – doch hinter den Fassaden der edlen Sanatorien und schmucken Bürgerhäuser wartet eine ungeahnte Welt. Hier werden zur psychedelischen Beat-Musik von Peter Thomas halbnackte bis nackte Orgien zelebriert. Zwischendurch räsonniert Judy Winter über die bösen „Määäääääänner“, von denen es in diesem Kurort aber überraschend wenige zu geben scheint. Selbst die lokale Autowerkstatt ist fest in weiblicher Hand; jeder noch so kleine KFZ-Schaden scheint aus Mechanikerinnen-Sicht eine Sisyphus-Montage: Man kommt also einfach nicht weg von diesem scheinbar schönen Fleckchen Erde.

Uschi Glas und die brennenden Büstenhalter: "Die Weibchen" im Heimkino

Uschi Glas mit einer ihrer vielen verschiedenen Frisuren in diesem Film. Alle Fotos: Bildstörung

Welch schöne Heimkino-Ausgrabung der rührigen Firma „Bildstörung“: 1970 lief der Film „Die Weibchen“ kurz und schmerzlos in deutschen Kinos; er wäre wohl in kollektiver Vergessenheit versandet, gäbe es nicht ein paar Filmfans, darunter Regisseur Dominik Graf, die seit einiger Zeit ein Loblied auf den Autor/Regisseur des Werkes singen: Zbynek Brynych (1927-1995), tschechischer Filmemacher und ein bunter Vogel des deutschen Kinos und Fernsehens: In seiner Heimat war Brynych bekannt für schwere Stoffe wie „Transport aus dem Paradies“ (1963) über das Konzentrationslager Theresienstadt; in Deutschland drehte er die verspieltesten Episoden vom „Kommissar“ und „Derrick“.

Die bunte Geschichte von „Cannon Films“ 

 

 

Uschi Glas und die brennenden Büstenhalter: "Die Weibchen" im Heimkino

In „Die Weibchen“ ist Brynych nicht zu bremsen – die Geschichte eines merkwürdigen Ortes erzählt er mit einer extremen Bilddramaturgie, mal mit kalten, mal mit explodierend bunten Farben; sehr gerne benutzt Kameramann Charly Steinberger das verzerrende Fischauge-Objektiv. Ein traum- und albtraumartige Atmosphäre zieht sich durch den Film, der immer wieder Hinweise gibt, was in diesem Bad vor sich geht: Die Frauen lesen Valerie Solanas radikalfeministisches „Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer“, verbrennen in einer rauschartigen Szene ihre BHs und erfreuen sich an der Betrachtung der Gottesanbeterin, die ihre männlichen Artgenossen nach dem Liebesakt eher unromantisch auffrisst. Da dämmert es Eve langsam, warum es fast keine Männer in Bad Marein gibt – abgesehen von einem hünenhaften Gärtner/Faktotum und einem Kommissar, der am liebsten Kartenhäuser legt – gespielt von Hans Korte, in einem wahnwitzigen Auftritt.

Uschi Glas und die brennenden Büstenhalter: "Die Weibchen" im Heimkino

Ist „Die Weibchen“ nun ein Manifest des Feminismus? Oder eher die filmische Beschreibung von Angst vor Frauen? Oder ist Brynychs Film auch eine Komödie über radikale Damen und sehr begriffsstutzige Männer? Der Film lässt das humoristisch in der Schwebe – und ist eine große Entdeckung für Freunde eines freischwebenden Kinos.

 

Die Extras:

Langfassung, wohl eine Art Arbeitsversion, die vor dem Filmstart noch einmal umgeschnitten und verändert wurde – sagen kann ich dazu aber noch nichts, da ich nur die Kinofassung gesehen habe.

Interview mit Uschi Glas (15 Minuten).  Glas berichtet, dass der Film ein gutes Budget hatte und für Produzent Luggi Waldleitner etwas „ganz Besonderes war“. Den emanzipatorischen Ansatz des Film sieht sie etwas mit Augenzwinkern: „Ein bisschen Männerhass war total angesagt, irgendwie.“ Regisseur Brynych war „ein ganz Ruhiger“, anders als der Kameramann: „Der Charly hat geturnt mit der Kamera.“ Ein kommerzieller Erfolg wurde der Film dann nicht, „vielleicht wurde er falsch gestartet“.

Interview mit Kameramann Charly Steinberger (13 Minuten). Steinberger, mit Weizenbier in der Hand, erzählt einiges Biografisches, von  seinem frühen Berufswunsch („Fotografie, das ist es vielleicht als Ausweg“), dann von seiner Arbeit als Kamera-Assistent. Das Fischauge aus „Weibchen“ verdeutlicht für ihn die „Fahrt in eine verrückte Welt“. (…) „Ich habe nicht normal fotografiert.“ Brynych war ein „ganz ruhiger Typ“ und Uschi  Glas „nie besser als hier“ Judy Winter war für ihn „die Allerbeste“, und Giorgio Ardisson „ein  guter Kumpel“.

Statements von Regisseur Dominik Graf und den Filmjournalisten Olaf Möller und Rainer Knepperges über Brynych (39 Minuten).

Einen anderthalbminütigen Vorher-Nachher-Clip über die Restaurierung des Films gibt es auch noch.

Trailer

Booklet

 

Der Film ist zu haben bei: www.bildstoerung.tv

 

Uschi Glas und die brennenden Büstenhalter: "Die Weibchen" im Heimkino

Uschi Glas und Hans Korte als mäßig vertrauenerweckender Kommissar.

 

 

Uschi Glas und die brennenden Büstenhalter: "Die Weibchen" im Heimkino

Uschi Glas und Zbynek Brynych bei den Dreharbeiten.

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