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Schlagwort: Kolonialismus

Interview zu James Bond: „Die Filme dieser Zeit sind schamlos sexistisch“

"Höhepunkte am laufenden Band, Mädchen, die wie Siamkatzen schnurren" - eine Anzeige zum 1973er Bond "Der Mann mit dem Goldenen Colt". Foto: Archiv SZ

„Höhepunkte am laufenden Band, Mädchen, die wie Siamkatzen schnurren“ – eine Anzeige zum 1974er Bond „Der Mann mit dem Goldenen Colt“. Foto: Archiv SZ

 

Schurken, die in Vulkanen wohnen, Frauennamen wie „Pussy Galore“ und James Bond, der immer wieder die Welt rettet. Der Kulturwissenschaftler Wieland Schwanebeck hat ein sehr vergnügliches Buch über die Welt von 007 geschrieben. Ich habe mit ihm gesprochen – unter anderem über das alte Thema: Wie sexistisch sind die Bond-Filme, wie rassistisch die alten Romane?

Das British Film Institute BFI versieht jetzt auch Bond-Filme in einer John-Barry-Reihe mit einem Warnhinweis, dass man sich auf Stereotypen einstellen soll und auf einen Zeitgeist von gestern. Wie sinnvoll ist das?  

SCHWANEBECK Ich finde diese Hinweisangebote ganz sympathisch und ziehe sie in jedem Fall der Zensur oder nachträglichen Retuschierung vor. Eine kurze Einblendung vor Filmbeginn tut niemandem weh, sie ersetzt aber natürlich keine gründliche Auseinandersetzung mit den Filmen – mit den ganzen ethnischen Stereotypen und dieser ganzen Playboy-Fantasiewelt, die eigentlich schon damals niemand mit der Realität verwechselt haben dürfte. Die alten Filme sollten ansonsten intakt bleiben dürfen, als Zeitdokumente oder eben auch, um die Weiterentwicklung von heute messen zu können. Damals gab es in den Filmen Frauen, die zum Beispiel Pussy Galore heißen, als wären sie Offerten zum Geschlechtsverkehr, und besonders schurkischen Schurken. Das würde niemand mit der Realität verwechseln. Die neueren Filme bedienen solche Stereotypen nicht mehr, es gibt etwa kein „Yellowfacing“ mehr wie im ersten Kino-Bond „Dr. No“, wo ein kanadischer weißer Schauspieler zu einem asiatischen Bösewicht umgeschminkt wird. Und Bond schießt auch nicht mehr dutzendweise gesichtslose chinesische Handlanger über den Haufen.

Ich habe vor einiger Zeit meinen liebsten Roger-Moore-Bond, „Der Spion, der mich liebte“ von 1977, mit dem Unterwasserauto und einem Handlanger mit Stahlgebiss, meiner Tochter gezeigt – damals ihr erster Bond. Und mir war es ziemlich peinlich, weil ich diesen Altherren-Sexismus gar nicht in Erinnerung hatte. Mit elf, als ich den Film zum ersten Mal sah, fand ich das alles ziemlich witzig – und eigentlich auch ganz normal.

SCHWANEBECK Die Filme dieser Zeit sind schamlos sexistisch, das zieht sich mindestens durch die 1960er und 1970er. In „Goldfinger“ verabschiedet Bond seine Gespielin mit einem Klaps auf den Hintern, weil jetzt „Männergespräche“ anstehen – dass uns das heute so fremdschammäßig peinlich vorkommt und wir beim Schauen mit den Augen rollen, zeigt aber, dass sich die Kultur gewandelt hat. Auch Jugendliche wissen, wie sie das einsortieren müssen: als Opa-Humor von gestern, so wie einen Witz von Fips Asmussen. Den Schauwert dieser Filme kann man ja trotzdem genießen. Und eigentlich zwinkern uns diese Filme, gerade die mit Roger Moore, immer zu, um uns klarzumachen, dass sie gar kein Abbild der Realität sein wollen. In der Bond-Forschung gibt es auch feministische Lesarten, die die Filme als überzogenes Zerrbild unserer sexistischen Gesellschaft sehen – so dass man eigentlich mit Bond lachen muss, nicht über ihn.

 

Kulturwissenschaftler Wieland Schwanebeck.

Kulturwissenschaftler Wieland Schwanebeck.

 

Haben die Macher der frühen Filme das beabsichtigt? Sozusagen Bond als Sexismus-Satire?

SCHWANEBECK Das glaube ich nicht. Bücher, Filme und Musik haben ja oft eine unbewusste Ebene. Schauen Sie sich „Diamantenfieber“ mit Sean Connery von 1971 an – ein Film, in dem Bond durch enge Röhren kriecht, es viel Toiletten-Humor gibt und er es mit schwulen Killern zu tun bekommt. Da schreibt sich schon eine Art Anal- und Homophobie in den Film ein. Ob die jetzt vom Drehbuch kommt, von der Romanvorlage, von der Regie oder von Connery, der ein relativ reaktionäres Mannsbild gewesen sein soll, ist schwer zu sagen. Die späteren Filme sind da cleverer und intellektueller, da muss Bond ja auch mal zum Psychologen oder wird von seiner Vorgesetzten als sexistischer Dinosaurier bezeichnet.

Was fasziniert Sie als Kulturwissenschaftler generell am Thema Bond?

SCHWANEBECK An Bond kann man zum Beispiel das Verhältnis zur britischen Monarchie behandeln oder fragen, wie sich die britische Gesellschaft sieht. Die Filme lassen sich gut als Statement zum Zeitgeist lesen.

Zum Beispiel?

SCHWANEBECK Besonders deutlich ist das bei Roger Moore. Er verkörpert ja mit seinen Safari-Anzügen die Leichtigkeit des verspäteten Kolonialherren, der eine große Playboy-Party feiert. Aber als er Mitte der 1980er abtritt, kommt gerade das böse Erwachen mit Aids – und entsprechend muss sich sein Nachfolger Timothy Dalton verhalten. Er ist relativ monogam und versucht ein bisschen Seriosität herzustellen – so gesehen hat sich da bei Bond etwas verändert, so wie die Welt auch.

 

Wie groß sind die Unterschiede zwischen dem literarischen Bond von Ian Fleming und dem Kino-Bond?

SCHWANEBECK Autor Fleming war ein ganz großer Freund der amerikanischen Krimischule, seine Vorbilder kamen nicht aus dem verknöcherten Dunstkreis britischer klassischer Abenteuerliteratur. Deswegen sind die Männer bei Fleming meist versoffen, abgebrüht und zynisch. Er bietet auch „femmes fatales“ auf, die ein falsches Spiel spielen, weswegen Bond am Ende von „Casino Royale“, als seine Freundin stirbt, ja auch „Die Schlampe ist tot“ sagt – sehr prägend für das Frauenbild des literarischen Bond. In Flemings Büchern finden sich Antisemitismus, dazu Vorurteile etwa über Asiaten, denen man meist nicht trauen kann – nicht direkt aus der Erzählersicht, sondern gebrochen durch Bonds Perspektive. Bond steckt voller Vorurteile, für ihn sind alle Frauen, Juden, Schwarzen, Asiaten auf ihre Weise gleich. Das ist in den Filmen abgemildert, auch schon in den frühen, denn in den 1960ern, als die ersten Kino-Bonds entstanden, ging alles etwas spielerischer zu, in Richtung einer etwas offeneren Gesellschaft und auch einer „Playboy“-Kultur.

Ist der literarische Bond ohnehin nicht eine eher langweilige Figur? Ein etwas spießiger Snob mit Vorliebe für edle Marken-Waren, die Fleming höchst liebevoll immer und immer wieder herunterbetet?

SCHWANEBECK Spießer trifft es ganz gut, Flemings Bond ist ein ziemlich reaktionärer Knochen, vor allem der häusliche Bond, den man in den Filmen ja selten sieht: Er braucht seine Rituale, seine morgendlichen Rühreier, seinen Kaffee und seine vertraute Zigarettenmarke.

Ihr Buch enthält sich der üblichen, meist nutzlosen Listen, etwa wer der beste Bond-Darsteller oder was sein schönstes Auto ist – aber einen Film bezeichnen Sie als den mitreißendsten, auch meinen Lieblings-Bond: „Im Geheimdienst ihrer Majestät“. Was macht den Film so besonders?

SCHWANEBECK Inhaltlich unterscheidet er sich sehr stark von den anderen – er ist eher melodramatisch, zwischendurch gibt es eine ganze Stunde ohne Actionsequenz, der Film baut eine Beziehung auf, Bond heiratet am Ende. Das ist alles sehr untypisch. Auch gestalterisch ist der Film eine Klasse für sich. Regisseur Steven Soderbergh meinte einmal, das sei der einzige Bond, von dem man sich jede Kamera-Einstellung gerahmt übers Bett hängen möchte. Da ist was dran. Das geht auch über diesen Postkarten-Exotismus hinaus, den man sonst so bei Bond findet. Vielleicht ist es Zufall, aber es ist auch die werkgetreuste Verfilmung eines Fleming-Romans. Und die Vorlage ist ein später Fleming – Bond gewinnt in den letzten Romanen deutlich an charakterlichem Profil.​

 

Eine alte Anzeige zu "Im Geheimdienst ihrer Majestät". Foto: Archiv SZ

Eine alte Anzeige zu „Im Geheimdienst ihrer Majestät“. Foto: Archiv SZ

 

Hätten Sie sich gewünscht, dass Lazenby als Darsteller länger drangeblieben wäre?​

SCHWANEBECK Ach, dieses „was wäre wenn“ finde ich meistens müßig – es hätte der Serie vielleicht nicht geschadet, weil es dann, als Connery in „Diamantenfieber“ unerwartet zurückkam, viele Kontinuitätssprünge gab. Aber hätte seine Präsenz die Filme wesentlich verändert? Ich weiß es nicht. Die Filme entstanden bis zum Ende des Kalten Krieges relativ beständig im Zwei-Jahres-Takt und wurden meist auch unabhängig von der Besetzung entworfen und geplant.​

Lazenby hat einen Film gedreht, Timothy Dalton 1987 und 1989 auch nur zwei, der zweite war ein relativer Flop. Warum hat es mit ihm nicht funktioniert?​

SCHWANEBECK Für das damalige Publikum kann ich nicht sprechen, aber es wird oft ins Feld geführt, dass Dalton kein großer Frauenmagnet gewesen sein soll. „Lizenz zum Töten“ ist einer der am wenigsten erfolgreichen Bond-Filme, er musste 1989 aber auch antreten gegen Blockbuster wie„Batman“, „Zurück in die Zukunft 2“, „Indiana Jones 3“ – übrigens mit Sean Connery. Der Film ist gut gemacht und nimmt mit seiner Härte und Nüchternheit ja einiges von dem vorweg, was später bei Daniel Craig Erfolg hatte.​

Wie konservativ ist der klassische Bond-Fan? Auffällig ist in vielen Foren und Facebook-Gruppen: Sobald jemand erwähnt, Bond könnte doch mal von einer Frau gespielt werden oder von einem Nicht-Weißen, ist die Empörung riesengroß.

SCHWANEBECK Ich mache keine empirische Rezeptionsforschung, aber die Forschung stellt sich die Bond-Fans meines Erachtens etwas zu konservativ vor. Wenn nur Bond-Puristen die Kinokarten für Bond gelöst hätten, dann wären die Filme nicht derart erfolgreich. Da gehen auch Leute ins Kino wie meine Eltern, denen egal ist, wer Bond spielt, welche Hautfarbe der Darsteller hat oder welche Haarfarbe – selbst da gab es übrigens bei konservativen Bond-Fans einst Diskussionen und Proteste, weil manchen die blonden Haare von Daniel Craig nicht gefallen haben.

Die Bond-Filme waren lange aus der Hochkultur ausgeschlossen, auch seitens der Filmkritik – die war in den 60ern bis 80ern eher etwas hämisch und naserümpfend. Mittlerweile ist das anders – was ist da passiert?

SCHWANEBECK Die linksliberale Filmkritik der 60er und 70er hat Bond als faschistische Figur abgetan – nicht ganz zu Unrecht. Ernst genommen wurde Bond dann später, als er sich auch der realen Welt mit ihren realen Problemen zugewandt hat, als der Plot mehr bot als „Schurke entführt Atomsprengkopf und erpresst die Welt um zig Millionen Dollar“. Bond ermittelt im Drogenmilieu, Bond mischt sich in den Kampf um Ressourcen ein.

 

Die Figur Bond gilt ja gerne als Trost für Briten, die dem Empire und der bestimmenden Rolle Englands in der Welt nachtrauern – der Brite Bond rettet stellvertretend für das Empire die ganze Welt. Haben die jüngsten Bond-Filme irgendwo Stellung zum Brexit bezogen?

SCHWANEBECK Explizit nicht – aber das Motiv des Rückzugs, des Rückzugsgefechts, fällt schon auf. Auch die Tatsache, dass die jüngsten Filme England und London als Handlungsort entdeckt haben. „Spectre“ formuliert sehr deutlich ein Misstrauen in politische Entscheidungen und Entscheidungsträger im eigenen Land. Das hätte es in den alten Bonds nie gegeben – da hat Bond seine Pflicht erfüllt, weil er überzeugt war, für eine gute Sache zu kämpfen. Im eigenen Stall gibt es keine Korruption, der Auftrag ist eindeutig legitim – das hat sich in den letzten beiden Filmen verschoben.

Daniel Craig ist mittlerweile abgetreten. Wer könnte oder sollte ihm nachfolgen?

SCHWANEBECK Einen Tipp möchte ich ungern geben. Aber ich würde mich sehr freuen, wenn die Produzenten mal in eine andere Richtung gehen würden. Mir fallen da schon ein paar Leute ein, die durchaus interessant wären, aber mein Herz habe ich an niemanden verschenkt. Idris Elba hätte ich mir sehr gut vorstellen können, aber er ist fast schon 50 und damit womöglich zu alt – ein sehr guter und charismatischer Schauspieler. David Oyelowo wäre ebenfalls interessant, auch ein schwarzer Schauspieler. Dan Stevens aus „Downton Abbey“ wäre die klassische Wahl eines sehr gutaussehenden, sehr viel Englishness verströmenden Darstellers.

Und Tom Hardy, der immer mal wieder genannt wird?

SCHWANEBECK Da bin ich skeptisch. Er verströmt vielleicht zu viel von der wortkargen Härte, die wir schon von Daniel Craig kennen, aber er ist ein guter Freund von Regisseur Christopher Nolan – vielleicht kriegt man Nolan dann mal dazu, einen Bond-Film zu machen.

Ist Nolan nicht ein bisschen zu künstlerisch beziehungsweise manchmal etwas zu prätentiös für Bond? Die Reihe funktioniert ja gerade mit sogenannten „guten Regie-Handwerkern“ wie Martin Campbell etwa, der „GoldenEye“ und „Casino Royale“ gedreht hat, besonders gut. Nolans Filme wollen immer besonders clever wirken, cleverer, als sie manchmal sind.

SCHWANEBECK Den Eindruck würde ich teilen, und Nolan hat ja eigentlich seine Bond-Filme schon gedreht: „Inception“ und „Tenet“. Aber dennoch – warum nicht? Schön wäre, wenn nicht dasselbe Personal zehn, 15 Jahre Bond gestaltet, sondern dass sich da alle drei, vier Jahre jemand ausprobieren darf. Warum nicht mal ein Film von Nolan? Oder von Lynne Ramsay, einer tollen Regisseurin? Oder Phoebe Waller-Bridge, einer Autorin, die bei „Keine Zeit zu sterben“ den Dialog aufpoliert hat und bei der Serie „Killing Eve“ gezeigt hat, dass sie eine Bond-Geschichte auf sehr smarte und witzige Weise schreiben könnte. Warum nicht alle drei Jahre die Schlüssel fürs teure Familienauto mal jemand anderem geben? Dann wäre auch mehr Raum für verschiedene Perspektiven – mal ein witziger, mal ein sehr ernster, mal ein nostalgisch-verspielter, mal ein ultra-futuristischer. Die Marke würde es aushalten.

Wieland Schwanebeck: James Bond.
100 Seiten.
Reclam, 100 S., 10 Euro.

„Pacifiction“ von Albert Serra – die Insel und die Bombe

Pacifiction

Benoît Magimel (links) als Vertreter Frankreichs auf der Insel.   Foto: Filmgalerie 451

Welch ein schöner Kontrast. Jüngst zeigte das Kino Achteinhalb Kirill Serebrennikows „Petrovs Flu“, einen atemlosen, rasanten, fiebrigen Film, nach dem man erstmal durchschnaufen musste. Jetzt läuft ein ebenso eigenwilliger Film, der, formal gesehen, das Gegenteil ist: „Pacifiction“, zwei Stunden und 40 Minuten lang, ein Werk mit lange ausgespielten Szenen, mit einer Kamera, die sich zumindest in der ersten Filmhälfte sehr wenig bewegt, mit vielen Dialogen, aber immer wieder auch kontemplativen Blicken in die Landschaft Polynesiens. Das Resultat ist nahezu hypnotisch.​

Smalltalk-Pirouetten​

Zentrum des Films ist ein Mann namens De Roller (Benoît Magimel), der Hochkommissar auf Französisch-Polynesien, Repräsentant des französischen Staates. De Roller ist im Dauereinsatz, auch wenn es nicht immer so wirkt, etwa, wenn er abends auf Tahiti im Club mit dem blumigen (und reichlich einfallslosen) Namen „Paradise Night“ sitzt und an einem Cocktail nuckelt. Jeder will irgendetwas von ihm. Sei es Hilfe bei Investitionen, Ratschläge oder Unterstützung beim Knüpfen von Seilschaften. Er zeigt sich dabei als Meister der Smalltalk-Windungen und –Pirouetten, „bien sur“ scheint sein erster verbaler Reflex auf alles zu sein – die personifizierte Unverbindlichkeit im hellen Leinenanzug. Doch erfordert es die Situation, kann De Roller auch anders: Etwa, wenn der lokale christliche Geistliche gegen ein geplantes Casino opponiert – da macht ihm de Roller höflich, aber bestimmt klar, dass er kraft seines Amtes das Gotteshaus in eine Veranstaltungshalle umwidmen könnte, bestens geeignet für Töpferkurse. Oder Bingo.​

Neue Atombombentests?​

So wieselt sich De Roller durch seine Tage an diesem Ort, der paradiesisch scheint, in dem die Verhältnisse aber klar und ungleich sind – die Macht und die Mächtigen, die Politik und die Wirtschaft kommen von außen. Kein Wunder, dass der Film mit einer langen Kamerafahrt an europäischen Containern am Hafen beginnt und damit auch wieder, nach dem Abspann, endet. Die alten Kolonialherren und die Ur-Bewohner haben sich zwar arrangiert, doch unter der Oberfläche gibt es Spannungen, die von einem Gerücht noch verstärkt werden: Will Frankreich hier seine unterseeischen Atombombenversuche wieder aufnehmen? Jedenfalls zieht ein französisches U-Boot seine Kreise (und rekrutiert nachts lokale Frauen als Prostituierte).​

Kritik zu „In der Nacht des 12.“

Auch De Roller weiß erst einmal nichts. Aber er weiß, dass Bewohner massiven Widerstand planen, Demonstrationen, gerne auch das Streuen von „fake news“. Im Gespräch mit dem Anführer verliert er auch erstmals seine Smalltalk-Contenance und verbittet sich die Floskel „mon ami“, die er selber gerne nutzt, ob nun bei Freund oder Feind. Ungewohnt für ihn ist, dass er langsam den Überblick verliert – sind einige Neuankömmlinge nur übliche Zugereiste oder doch Repräsentanten fremder Mächte? Und falls ja, unterstützen die den lokalen Widerstand aus eigenen geostrategischen Interessen?

Pacifiction

Benoît Magimel (links) als Frankreichs Vertreter De Roller und Pahoa Mahagafanau als Shannah. Foto: Filmgalerie 451

 

Davon erzählt der katalanische Regisseur Albert Serra (47) äußerlich in aller Ruhe – abgesehen von einer spektakulären Szene auf dem Meer – und mit einer enormen Fülle an Dialogen voller Untertöne. Hier ist das Wenigste genau so gemeint, wie es geäußert wird; es wird verbal taktiert, sozusagen um den heißen Brei herumgeredet. Es ist ein Vergnügen, da zuzuhören. Dabei wirken die Szenen mit den doppel- bis dreifachbödigen Dialogen im besten Sinne un-inszeniert – als hätten die Mimen die Kamera längst vergessen. Benoît Magimel ist fabelhaft als rätselhafter Mittelpunkt des Films. Als Zuschauer erlebt man De Roller so oft beim Tricksen, dass man anfangs nie sicher sein kann, wann er das meint, was er sagt. So kommt man ihm nie ganz bei, fühlt sich ihm im Laufe des Films aber doch näher, wenn seine Fassade kleine Risse bekommt, weil er nicht mehr Herr der Lage ist.​

„Wild wie das Meer“ mit Cécile de France

Die Unbehaglichkeit im Paradies​

„Pacifiction“ schafft sich eine Atmosphäre des Vagen, des Verrätselten. Die Musik von Marc Verdaguer und Joe Robinson ist extrem sparsam eingesetzt, unterlegt sphärisch und nur sporadisch ein Gefühl der Unbehaglichkeit und der Bedrohung, die mit den bunten Bildern des scheinbaren Inselparadieses kontrastiert. Wird De Roller aus diesem Paradies vertrieben werden? Zumindest am Ende gibt es einen Moment, an dem man als Zuschauer mehr weiß als er.​

Auf DVD und digital bei  www.filmgalerie451.de

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