Film und dieses & jenes

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„Heinz Rühmann war definitiv Teil des Systems“ – Interview über das Kino der Nazis​

 

Heinz Rühmann in „Die Feuerzangenbowle“ von 1944 – zugleich deutscher Komödienklassiker und ein Propagandafilm des Nazi-Regimes. Er mokiert sich über die Weimarer Republik und präsentiert mit einem schneidigen Junglehrer einen NS-Pädagogen. Foto: ARD

 

Wie hat die Propaganda des NS-Kinos funktioniert – auch in scheinbar unpolitischen Filmen? Wie haben die Nationalsozialisten ihre Filmindustrie kontrolliert? Und wie liefen die Karrieren von NS-Regiestars wie Leni Riefenstahl oder Veit Harlan nach 1945 weiter? Das sind Themen des Vortrags „Das Kino unter dem Hakenkreuz“ von Martin Seng in Saarbrücken. Der 29-Jährige hat in Trier Politikwissenschaft und Anglistik studiert, arbeitet als Bildungsreferent und als freier Journalist, unter anderem für Zeit Online und die taz.

Ärgern Sie sich, wenn an Weihnachten im Abendprogramm wieder „Die Feuerzangenbowle“ läuft – ein Komödienklassiker und doch auch ein Produkt der NS-Kino- und Propaganda-Industrie?​

SENG Es ist nicht so, dass ich mich unbedingt ärgere. Ich würde mir aber so etwas wie eine kommentierende Einführung wünschen. Das Problem dabei ist, dass die Aufführungsrechte für diesen Film aktuell bei einer ehemaligen Politikerin der AfD liegen, Cornelia Meyer zu Heide. Sie hat in der Vergangenheit mehrfach verhindert, dass dieser Film wissenschaftlich eingeordnet wird, etwa bei Vorstellungen bei Uni-Kinos. Bei TV-Ausstrahlungen hingegen gibt es keine Einordnungen.​

Im Kino der Nationalsozialisten waren Propagandafilme mit deutlicher politischer Botschaft seltener als scheinbar unpolitische Unterhaltungsfilme. Waren diese eskapistischen Filme harmloser und auch unpolitischer?

SENG Nein, es gab offene Propaganda wie etwa „Hitlerjunge Quex“ von 1933. Da wird ganz offensichtlich die Hitlerjugend glorifiziert, man soll sich ihr anschließen. Aber „Die Feuerzangenbowle“ etwa ist eher versteckte Propaganda, ein Unterhaltungsfilm während des Kriegs, um die Menschen von dem Krieg und den Zuständen in Deutschland abzulenken. Dadurch wird Eskapismus zu etwas Politischem. Genauso gibt es kolossale Durchhaltefilme wie „Kolberg“ von 1945, der die deutsche Gesellschaft zum Durchhalten bis zum angeblichen Sieg noch motivieren soll.​

Der Journalist Martin Seng. Foto: Seng

Der Journalist Martin Seng. Foto: Seng

„Kolberg“ wurde, wie auch der besonders berüchtigte „Jud Süß“, von Veit Harlan inszeniert. Der war Regie-Star unter den Nazis und hat nach 1945 rasch wieder als Filmemacher Fuß gefasst. Gab es im deutschen Kino keine Stunde Null?​

SENG Beim Kino sehe ich diese Stunde Null nicht, insbesondere nicht bei Veit Harlan. Seine NS-Vergangenheit war allgemein bekannt, aber das hat ihn nicht daran gehindert, weiter Filme zu machen. Im Zuge der Entnazifizierung wurde er entlastet, hat öffentlichkeitswirksam immer wieder versucht, seine Unschuld zu beteuern und sich als bloßer Mitläufer darzustellen. Aber er war ganz klar ein Mittäter und hat dennoch relativ groß Karriere nach ´45 gemacht, wie auch andere Schauspieler oder Regisseure, nicht zuletzt Leni Riefenstahl, wahrscheinlich die erfolgreichste Regisseurin überhaupt auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Entnazifizierung der NS-Filmindustrie ist massiv fehlgeschlagen.​

„Opfergang“ und „Immensee“ von Veit Harlan

Wie schwer ist das Verhalten von Filmschaffenden insgesamt zu beurteilen? Regisseur Wolfgang Liebeneiner etwa war eine sehr mächtige Figur in der NS-Filmindustrie, doch Ende 1945 holte ihn die jüdische Theaterleiterin Ida Ehre an ihre Bühne – nach dem Krieg hatten einige Jüdinnen und Juden gesagt, er habe ihnen während der NS-Zeit geholfen.​

SENG Die Beurteilung ist wahnsinnig schwer. Nehmen Sie jemand ambivalenten wie Gustaf Gründgens. Er hat in NS-Propagandafilmen sehr prominent mitgespielt, war ein Mitläufer, hat Harlan vor Gericht entlastet – gleichzeitig hatte er seine jüdischen Liebhaber vor dem NS-Regime gerettet. Die Einordnung ist also generell schwierig, manchmal aber auch einfach: Leni Riefenstahl, Regisseurin von „Triumph des Willens“ und „Olympia“, etwa war kein NSDAP-Mitglied, sie war aber trotzdem sehr eng mit der NS-Führungsriege verbandelt. Sie kann man keinesfalls entlasten.​

Und Heinz Rühmann, der im Film der Nazis ebenso ein Star war wie im Nachkriegskino?​

SENG Rühmann war definitiv Teil des Systems, er hat auch „Die Feuerzangenbowle“ damals Hitler persönlich vorgeführt, weil er unbedingt erreichen wollte, dass dieser Film gezeigt wird. Ich würde ihn als einen klassischen Mitläufer sehen, als einen Opportunisten.​

 

Regisseurin Leni Riefenstahl (1902-2003) bei der Arbeit an ihrem Dokumentar- und Propagandafilm „Triumph des Willens“ über den Nürnberger Parteitag der NSDAP 1934. Foto: dpa

Wie mächtig sind die offensichtlichen Propagandafilme heute noch? Sieht man „Jud Süß“ heute, hat man nicht den Eindruck, dass er einen zum Antisemiten macht, wenn man nicht schon vorher einer war.​

SENG Das ist eine lange diskutierte Frage. „Jud Süß“ ist einer von den sogenannten Vorbehaltsfilmen – Produktionen, die von der Friedrich Wilhelm Murnau Stiftung in Wiesbaden quasi unter Verschluss gehalten werden, weil sie als volkverhetzend, rassistisch oder kriegsverherrlichend gelten. Sie dürfen nur bei Veranstaltungen gezeigt werden mit historischen Einordnungen oder Diskussionen. Grundsätzlich kann ich den Gedanken dahinter verstehen, aber es wäre gelogen, wenn man sagt, man könne nicht anders an diese Filme herankommen – insbesondere, wenn man sich im Internet auskennt.​

Interview mit Rüdiger Suchsland zu „Hitlers Hollywood“

„Jud Süß“, „Heimkehr“, „Der ewige Jude“ sind die klassischen, sehr offensichtlichen Hetzfilme der Nazis. Welche Filme würden sie heute für gefährlich halten, weil sie subtiler sind?​

SENG Generell glaube ich, dass die heutige Wirkungskraft vieler dieser Filme überschätzt wird. Aber es gibt auch Ausnahmen: „Ich klage an“ von 1941, inszeniert vom besagten Wolfgang Liebeneiner. Das ist ein Film, der die Euthanasie der Nationalsozialisten vorbereitet. Dieser Film ist relativ subtil in seiner Botschaft, aber unfassbar perfide, so dass man von dieser Botschaft leicht manipuliert werden kann. Deswegen würde ich gerade so einen Film nicht im regulären Fernsehprogramm zeigen. Bei einem Streaming Dienst würde ich mir wünschen, dass man mit einer Texttafel oder einer anderen technischen Möglichkeit eine Einordnung zur Verfügung stellt.​

Wie haben sich die populären Filmschaffenden der NS-Zeit danach zu ihrer Rolle geäußert?​

SENG Zum Teil gar nicht. Vieles wurde auch klein geredet – man habe ja nur als Schauspielerin oder Schauspieler vor der Kamera gestanden und so weiter. Dabei wurde dann immer gerne übersehen, wie viel Wirkung dieses Medium Film und seine Stars hatten. Hitler und Goebbels haben das ja auch gewusst. Interessant ist, wie nach 1945 mit „Jud Süß“ umgegangen wurde. Dieser unfassbar antisemitische Film, auch Harlans „Kolberg“, wurde in den 1950er und 1960er Jahren im Nahen Osten von vielen arabischen Gruppen in Syrien, Ägypten und Irak gezeigt. Das wird gerne mal vergessen. Und die deutsche Regierung wusste auch, dass zum Beispiel im Ministerium für Nationale Erziehung in Kairo noch viele NS-Filme lagen und noch eine Kopie von „Jud Süß“. Man hat sich aber nicht die Mühe gemacht, die Objekte zu bergen, weil man keine schlafenden Hunde wecken wollte. Zu groß war die Sorge, einen Protest im arabischen Raum zu provozieren. Dazu empfehle ich sehr das Buch „Jud Süß: Das lange Leben eines Propagandafilms“ des US-Filmhistorikers Bill Niven. Er verfolgt die Geschichte des Films auch lange nach 1945 hinaus. Das Traurige ist, dass dieser Film nicht tot zu kriegen ist und und eben auch von komplett anderen Gruppen wie im Nahen Osten für Propaganda-Zwecke missbraucht wird. Man unterschätzt gerne die Reichweite dieses Films.​

Es ist die alte Frage – kann man die Kunst vom Künstler oder der Künstlerin trennen? Und die Gestaltung mancher NS-Filme bewundern, auch wenn die Botschaft schrecklich ist? Filmemacher Quentin Tarantino nannte, in einer offensichtlich sehr engen filmhistorischen Sicht, Leni Riefenstahl wegen ihres Olympia-Films „die beste Regisseurin, die jemals lebte“.​

SENG Ich halte die Idee dieser Trennung von Kunst und den Schaffenden im Fall der Nationalsozialisten für einen Mythos. Im Bezug zu Leni Riefenstahls Parteitagsfilm „Triumph des Willens“ sprach Walter Benjamin von einer „Ästhetisierung der Politik“. Die Botschaften, die Ideologie des NS-Regimes werden hier mit Bildern eins zu eins transportiert. Riefenstahl wusste das und hat die Bilder entsprechend angeordnet und der NS-Politik eine Ästhetik verliehen. Da kann man Kunst und Künstlerin gar nicht mehr voneinander trennen.​

Sie werden bei Ihrem Vortrag Ausschnitte aus NS-Filmen zeigen, aber auch Neueres, unter anderem das Musikvideo von Rammstein für den Song „Stripped“ – warum?​

SENG Weil die Band dort die originalen Aufnahmen aus dem Riefenstahl-Film „Olympia“ verwendet. Rammstein spielt ja immer mit einer gewissen NS-Ästhetik.​

Ist das reine Provokation oder mehr?​

SENG Rammstein bezeichnet sich selbst gerne als unpolitisch, was definitiv nicht der Fall ist. Man kann nicht mit einer solchen Ästhetik kokettieren und sich dann als unpolitisch bezeichnen. Die Band provoziert gerne, ich würde in diese Provokation selbst dann aber nicht unbedingt einen politischen Standpunkt hineinlesen. Ich sehe Rammstein nicht als rechtsextreme Band, auch wenn mir da einige Leute widersprechen würden. Ich sehe aber diese Provokation sehr kritisch. Natürlich kann man das machen, aber dann muss die Band mit entsprechender Kritik leben und dem berechtigen Vorwurf, dass sie so auch Rechtsextreme anlockt.

 

Interview zu Verschwörungstheorien​

 

Gab es in der NS-Filmindustrie auch Beispiele für subversive Filme, in denen Filmemacher regimefremde Botschaften eingeschmuggelt haben? Oder war das unmöglich?​

SENG Unmöglich würde ich nicht sagen, aber es war sicher unfassbar schwierig. Der Film „Paracelsus“ von 1943 von Georg Wilhelm Pabst etwa hat eine ambivalente Lesart. Man kann ihn als linientreu lesen oder als leisen Widerstandskommentar, denn Pabst wollte noch vor Kriegsbeginn fliehen. Aber so etwas wie eine große filmische Untergrund- oder Widerstandsbewegung hat es nicht gegeben. Das war gar nicht möglich in dieser gleichgeschalteten Filmindustrie.​

Termin: Donnerstag, 27. Juni, 19 Uhr, im Kino Achteinhalb in Saarbrücken.
Eine Veranstaltung zusammen mit der Rosa Luxemburg Stiftung Saar und der Peter Imandt Gesellschaft.​

„Stars at Noon“ von Claire Denis

Eine Szene aus "Stars at Noon" mit Joe Alwyn als Daniel und Margaret Qualley als Trish.

Der Brite Daniel (Joe Alwyn) und die Amerikanerin Trish (Margaret Qualley) – gestrandet in Nicaragua. Foto: Weltkino

Da mag sich der Mann noch so abmühen – die nackte Frau unter ihm betrachtet gelangweilt die Fotos neben dem Bett, sieht Männer in grünen Uniformen und sagt: „Junge Rebellen waren mal so sexy.“ Die Frau ist die Amerikanerin Trish, der Mann ist ein Leutnant der Militärdiktatur, das Land ist Nicaragua.​ Dort spielt „Stars at Noon“ der jüngste Film der französischen Regisseurin Claire Denis. Vage könnte man ihn einen „romantischen Thriller“ nennen, würde ihm dabei aber nicht ganz gerecht; und „Thriller“ ließe klassischen Spannungsaufbau erwarten, an dem Denis aber weniger interessiert ist – mehr an Stimmungen, Atmosphäre, am Rätselhaftem.

„Für Dollars und für die Klimaanlage“

Trish (Margaret Qualley) ist eine Journalistin, die für Hochglanzreiseberichte engagiert ist, aber über Korruption der Regierung berichtet hat und nun festsitzt: Ihr Pass ist konfisziert, ihr Chefredakteur (John C. Reilly in einem Zoom-Gastauftritt) lässt sie fallen; ihr bleibt nur die politisch-taktische Prostitution mit Männern des Militärapparates, um sich Protektion zu erschlafen; und für die so wichtigen Dollars verkauft sie sich an internationale Gäste des Landes. Darunter ist auch der Brite Daniel (Joe Alwyn) im weißen Kolonialisten-Anzug, ein Berater einer Ölfirma. So sagt er zumindest. Ihre erste Begegnung in seinem Hotelzimmer ist von ihrer Seite her klar verabredet („für Dollars und für die Klimaanlage“); doch schnell lösen sich die Grenzen zwischen bezahltem Sex und Zuneigung auf. Möglicherweise auch dadurch, dass beiden klar ist, dass sie in diesem Land der permanenten Bedrohung, der patrouillierenden Soldaten nur sich haben, niemanden sonst. Bald sind beide in Gefahr, da Daniel wohl doch etwas anderes ist als ein Berater in Sachen Energiegewinnung. Das Paar versucht die Flucht.

Kritik zu „In der Nacht des 12.“ von Dominik Moll

Das hätte man flott inszenieren können, mit Verfolgungsjagden garnieren – aber Denis geht es um anderes. Sie erzählt von Machtausübung, von Hierarchien, von zwangsweisem Opportunismus und von brüchigem Vertrauen. Hier ist nur wenig so, wie es scheint, und kaum jemand sagt offen, was er meint. Selbst bei dem Liebespaar auf den durchgeschwitzten Laken spürt man Distanz; vielleicht ist beiden nicht ganz so wichtig, ob alles stimmt, was sie sich gegenseitig erzählen — möglicherweise  bleibt ihnen ohnehin nicht viel gemeinsame Zeit.

Ruhiger Erzählfluss

Erst nach einer halben Stunde Film weiß man halbwegs, wer Trish ist und warum sie tut, was sie tut. Diesen Erzählrhythmus, der an Albert Serras meisterlichen Film „Pacifiction“ erinnert, kann man als arg langsam empfinden –  oder sich von ihm mitnehmen lassen. Darstellerin Margaret Qualley („Once upon a time in Hollywood“) jedenfalls ist den Kinobesuch schon alleine wert; sie gibt eine exzellente, rastlose, sehr emotionale Vorstellung als opportunistisches Opfer der Umstände, als Überlebenskünstlerin, die sich manchmal dann doch für cleverer hält als sie es ist.

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„Ennio Morricone – Der Maestro“ von Giuseppe Tornatore

Ennio Morricone

Ennio Morricone beim Dirigieren imaginärer Musik in seinem Arbeitszimmer.     Foto: Plaion Pictures

 

Erstaunlich ist einiges an diesem Film über Ennio Morricone: Zum Beispiel, dass dieses Porträt eines so unkonventionellen Künstlers formal so  überraschend konventionell gemacht ist; erstaunlich ist aber zugleich, dass der Film seine elefantöse Länge von zweieinhalb Stunden nicht spüren lässt – zu mitreißend ist der Film, zu berührend. Und erstaunlich ist ebenso, dass man den Maestro, eher ein Mann der Zurückhaltung und Diskretion, bei der Morgengymnastik auf seinem römischen Wohnzimmerteppich sehen kann.​

Übermotivierter Beginn

Damit beginnt die Dokumentation „Ennio Morricone – Der Maestro“ von Giuseppe Tornatore. Für dessen Film „Cinema Paradiso“ hatte Morricone 1988 die Musik geschrieben – der Beginn einer langen Arbeitsbeziehung plus Freundschaft. Basis des Films sind Interviews, die Tornatore mit Morricone (1928-2020) führte, dazu viele Filmausschnitte, Sätze von Kolleginnen und Kollegen, Filmemachern. Zum Einstieg von „Ennio“ prasseln deren lobende Mini-Zitate etwas hektisch herab, als müsse man die Bedeutung des Musikers nochmal betonen; dann aber findet der Film schnell zu einem ruhigen Rhythmus und zeichnet Morricones Leben nach, das der Maestro aus seinem Wohnzimmersessel heraus kommentiert.​

Die Karriere beginnt ungewöhnlich und konträr zu anderen Musikerbiografien: Der junge Ennio möchte Arzt werden, aber der Vater will, dass er Trompeter wird – wie er selbst. Morricone fügt sich, findet Gefallen am Instrument, studiert Trompete und Chormusik am Konservatorium von Santa Cecilia unter dem Komponisten Goffredo Petrassi. Der interessiert sich erstmal wenig für den jungen Musiker;  der wiederum empfindet das Konservatorium als „elitär“, wie er im Film sagt.​

„Schuldgefühl“ wegen Filmmusik?​

Schon damals ist Morricone ein Mann der Avantgarde, besucht die „Internationalen Ferienkurse für Neue Musik“ in Darmstadt (der Film zeigt einen wundersamen Auftritt von Neutöner John Cage) – zugleich ist er aber Pragmatiker, der seine Miete zahlen muss: Als Arrangeur arbeitet er, durchaus mit ungewöhnlichen Ideen, fürs italienische Fernsehen, für Pop-Produktionen, schreibt erste Filmmusiken. Damit etabliert sich bei Morricone ein merkwürdiger Schuldkomplex: Eigentlich empfindet er die Filmmusik als Kompositionsarbeit zweiter Klasse. Er ist sich auch nur zu bewusst, dass die ehemaligen Kollegen am Konservatorium und vor allem sein früherer Lehrer Petrassi das auch so sehen. Das gibt dem Film neben dem Musikalischen und Filmhistorischen auch eine bittersüße biografische Note mit. Dieser Komplex habe ihn bei der Arbeit angetrieben, sagt Morricone, „ich wollte siegen – gegen das Schuldgefühl“.​

 

Mit der Musik zu Sergio Leones Western „Für eine Handvoll Dollar“ beginnt 1964 die große Karriere – Morricone operiert mit verzerrter E-Gitarre, lässt pfeifen, lässt Chöre Kojoten imitieren; fortan werden ihn viele vor allem als Italowestern-Komponisten sehen, auch wenn er bloß um die 30 Filme dieses Genres untermalt hat (und um die 470 andere Produktionen). Allein im Jahr 1969 ist er an 21 Filmen beteiligt, „er schreibt Musik so schnell, wie andere einen Brief schreiben“, sagt eine Kollegin im Film. Das Verhältnis zur eigenen Arbeit scheint bisweilen zwiespältig: Morricone bekennt, dass er sich jeweils 1970, 1980, 1990 (und so weiter) vornahm, nach zehn Jahren mit den Filmen aufzuhören, um danach wieder ganz seriös zu komponieren. Bei dem Vorsatz blieb es dann.​

Machen Experimente arbeitslos?​

Parallel zu konventionelleren Arbeiten wagt er sich gerne an Experimente: Einige Ausschnitte aus Elio Petris Film „Das verfluchte Haus“ von 1968 mit Franco Nero zeigen, wie Morricone mit Geräuschen und Klangeffekten operiert, die Grenzen zwischen Musik und Sounddesign auflöst. Auch römische Krimis wie „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“ untermalt er experimentell – mit dem Ergebnis, dass ihm Kollegen ankündigen: „Wenn Du so weitermachst, bist Du bald arbeitslos“. Das wird er dann doch nicht.​

Kubrick wollte Morricone

Im Film erfährt man manch Überraschendes: Etwa, dass Stanley Kubrick Morricone für seinen Film „Uhrwerk Orange“ engagieren wollte, was aber wohl Regisseur Sergio Leone intrigant und mit etwas Wahrheitsbeugung verhinderte – möglicherweise wollte er nicht, dass sein liebster Komponist (und Klassenkamerad) nicht für einen anderen Kinogiganten schreibt. Morricone lästert im Film ein wenig über Regisseur Brian DePalma, für den er 1987 „The Untouchables“ komponierte; er habe immer gewusst, welche seiner Ideen den Filmemacher am meisten begeistern würden – jene, die er selbst am schwächsten fand. Die Doku illustriert das mit einem Ausschnitt aus dem Kevin-Costner-Mafiakrimi, der zeigt, dass Morricone manchmal durchaus Edelkitsch und Pathos produzierte.​

Ein paar „talking heads“ zu viel

„Ennio Morricone – Der Maestro“ erzählt konventionell: Der Komponist spricht, man sieht Filmausschnitte, hört Musik und Statements von Wegbegleitern und prominenten Fans. Die sind manchmal so kurz und nichtssagend, wirken so, als sollten sie vor allem demonstrieren, wen man alles vor die Kameras bekommen hat: Hans Zimmer, John Williams, Bruce Springsteen, Joan Baez, James Hetfield von Metallica sind dabei, sagen aber kaum mehr, als dass sie Morricone bewundern. Selbst Clint Eastwood, den wegen seiner Italowestern-Phase einiges mit Morricone verbindet, ist bloß mit einem nichtssagenden Satz vertreten. Aber geschenkt: Der Film lässt auf ein ungemein fruchtbares Künstlerleben blicken (das Private bleibt außen vor), führt durch ein großes Stück Filmgeschichte – und lässt in wunderbarer Musik schwelgen.  ​

Auf DVD und Bluray bei Plaion Pictures.

Das Buch „Tarantino“

Quentin Tarantino Uma Thurman "Kill Bill" "Pulp Fiction" Harvey Weinstein Reservoir Dogs

Quentin Tarantino mit Uma Thurman bei der Arbeit an „Kill Bill“.  Foto:  Alamy – AF Archive

Auf Seite 11 ist die Welt noch in Ordnung zwischen Quentin Tarantino und Harvey Weinstein. Da posieren der Regisseur und der Produzent Schulter an Schulter: Weinstein als Förderer und Nutznießer von Filmemacher Tarantino, der wiederum in dem Studiomogul über Jahrzehnte einen mächtigen Unterstützer gefunden hatte. Heute ist die Lage eine andere: Weinstein ist in einem Skandal um, unter anderem, Vergewaltigungsvorwürfe untergegangen; Tarantino dreht seinen nächsten Film für ein anderes Studio und hat gerade Weinsteins nun bankrotte Firma auf in seinen Augen noch ausstehende Gewinne verklagt.

Weinsteins Sturz ist im jetzt bei uns erscheinenden Buch „Tarantino“ kein Thema, denn es stand in den USA schon im Oktober 2017 in den Läden, als der Skandal erst ruchbar wurde. Tarantino gab danach zu, er habe genug von Weinsteins Taten gewusst, um mehr zu tun, als er getan habe. Die nächste Entschuldigung folgte, als ein Interview mit ihm von 2003 auftauchte, in dem Tarantino  Roman Polanskis Missbrauch einer 13-Jährigen damit kommentierte, das Mädchen habe es ja so gewollt. Auch beinharte Tarantino-Fans müssen eingestehen, dass sein Image als Filmemacher mit dem Herzen auf dem rechten Fleck und einer Vorliebe für starke Frauenfiguren Risse bekommen hat. Um die kann es nun wegen der Entstehungszeit in Tom Shomes Buch nicht gehen, vielleicht aber in einer zweiten Auflage?

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Foto: Alamy – Everett Collection

Allerdings ist das Buch auch so lesens- und auch schauenswert, denn der schwere Band im Großformat ist opulent bebildert (250 Farbfotos auf 256 Seiten). Filmjournalist Shome zeichnet Tarantinos Karriere und Leben nach, auch die Jugend mit der Mutter (Ex-Schwesternschülerin) und ohne den abwesenden Herumtreiber-Vater. Oder wie Tarantino es ausdrückt: „Meine Mutter Arthouse, mein Vater B-Movie.“ Vom enthusiastischen Videothekshelfer mit enormem Filmwissen wird er zum Regisseur, schockt mit der Härte seines Debüts „Reservoir Dogs“, mischt das US-Kino mit der schwarzhumorigen Erzähllust von „Pulp Fiction“ auf und bleibt bis heute ein eigenwilliger Kopf, an dem sich die Geister fast schon traditionell scheiden.
„Vermutlich mein schlechtester Film. Dafür war er gar nicht so übel.“

Das lässt das Buch ebensowenig aus wie Enttäuschungen und Flops. Tarantino selbst sagt hier etwa über seine Stuntman-B-Movie-Hommage „Death Proof“: „Vermutlich mein schlechtester Film. Dafür war er gar nicht so übel.“Interviewsätze wie diese, hier gerne groß auf blutrotem Hintergrund gedruckt, führen durch das informationssatte Buch, deren Bilder prägnante Szenenmotive zeigen und immer wieder Tarantino bei der Arbeit. Ob er die nach dem nächsten oder übernächsten Film tatsächlich einstellt, wie er schon lange ankündigt, um lahme Alterswerke zu vermeiden? Vorstellen kann man es sich nicht so recht.

Tom Shome: Tarantino – Der Kultregisseur und seine Filme.
Knesebeck, 256 Seiten, 40 Euro.

 

Quentin Tarantino Uma Thurman "Kill Bill" "Pulp Fiction" Harvey Weinstein Reservoir Dogs

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