Wie man sich nach dem Besuch dieses Films fühlt, wird sich wohl daran entscheiden, ob man Rätsel vor allem dann schätzt, wenn sie aufgedröselt und gelöst werden. Oder ob man gerne mangels Erklärung weiterbrütet, ohne Garantie, des Rätsels Lösung schließlich zu ergründen. „Die Theorie von allem“ kann einen beglückt zurücklassen oder auch etwa frustriert. Oder beides zugleich. In jedem Fall ist der Film von Timm Kröger (Regie und Ko-Drehbuch mit Roderick Warich), der im Wettbewerb von Venedig seine Premiere feierte, ein ambitionierter Brocken. Mit Wendungen, Kurven und Fährten, die in die Irre führen können – oder doch mitten ins Herz der Erkenntnis?​

In welcher Welt leben wir?​

Mit einem farbigen Prolog beginnt dieser eigenwillige, ambitionierte Film, dessen Bilder danach schwarzweiß sind, abgesehen von einem kurzen Farbblitz in einer zentralen Szene. 1974 sitzt ein bärtiger Physiker in einer TV-Show und wird von einem betont launigen Moderator befragt (und bloßgestellt). Denn des Physikers Buch über die Frage, in welcher von vielen möglichen parallelen Welten wir gerade leben, ist für ihn und das Publikum ein Quell des Amüsements, kein Denkanstoß. Der kollektiv Belächelte nimmt das kaum zur Kenntnis, er schaut in die Kamera und richtet sich an eine Karin, „egal wo Du bist“.​

 

 

Zwölf Jahre zurück springt der Film, nun schwarzweiß: Der Physiker von Beginn, Johannes Leinert (gespielt von Jan Bülow), ist bartlos und rattert in einem Zug den Schweizer Bergen entgegen – begleitet von seinem Doktorvater Julius Strathen (Hanns Zischler). In einem Hotel ist ein Physikerkongress geplant, die akademische Berggesellschaft wartet auf einen Wissenschaftler, dessen jüngste Theorie nichts weniger erwarten lässt als die Erklärung von dem, was unsere Welt (oder Welten?) im Innersten zusammenhält. Nur: Der Wissenschaftler lässt auf sich warten. So vertreibt man sich die Zeit bei ein wenig Ski, viel mondänem Après Ski und manchen akademischen Eifersüchteleien.​

Warum weiß Karin das alles?​

Derweil arbeitet Leinert weiter in seiner Bruchbude eines Hotelzimmers an seiner eigenen, von seitenweise Formeln anscheinend gestützten Theorie, dass wir viele Leben parallel leben, ohne es zu wissen.  (Nichts wissen will davon allerdings der Doktorvater.) Trost für den ignorierten Jung-Physiker ist die junge Jazzpianistin Karin Hönig (Olivia Ross), die von Johannes Dinge weiß, die sie eigentlich nicht wissen kann. Kennt sie ihn aus einem früheren Leben? Oder aus einem parallel ablaufenden? Und was hat es mit einem toten Physiker auf sich, den man bestialisch zugerichtet im Schnee findet? Und welche Rolle spielt ein mysteriöser Stollen tief im Berg?​

Kritik zu „Wild wie das Meer“

Fragen über Fragen, die der Film kunstvoll auftürmt. Die breiten, fast brutal kontrastreichen Schwarzweißbilder von Kameramann Roland Stuprich sind kolossal – die Schweizer Berge wirken wie eine andere Welt, die Innenräume atmen bedrohliche Film-Noir-Atmosphäre. Eine Fahrstuhlfahrt wird hier zu einem kontrollierten Absturz in die Hölle.​

Die Musik – ein Reiz oder ein Problem des Films?​

In dieser Welt stolpert der Jung-Physiker umher, kann sich keinen rechten Reim machen auf das, was vor sich geht. Filmisch untermalt wird diese Sinnsuche von einer Musik, die in diesem Film der Eigenwilligkeiten besonders eigenwillig ist: Diego Ramos Rodríguez hat eine opulente symphonische Musik geschrieben, mit vielen Verweisen auf Alfred Hitchcocks Hauskomponisten Bernard Herrmann, auf den französischen Filmkomponisten Georges Delerue, auf US-Musiker Leonard Rosenman. „Pathetisch und lärmend und naiv, aber auch komplex und filigran und widerspenstig“ nennt der Regisseur diese Klänge, die in vielen Kritiken zum Film sehr gelobt werden – aber sie bergen ein Risiko: Oft scheinen sie mit ihrem Pomp und Pathos die Bilder zu konterkarieren oder zu ironisieren; ob nun absichtlicher Verfremdungseffekt oder nicht, betonen sie doch nicht das Gesehene, sondern schaffen eine Distanz, als Zuschauerin oder Zuschauer wird man oft auf Abstand gehalten.​

Dominik Graf als Gast-Rauner​

Diese Distanz hebt sich im letzten Drittel allerdings auf, wenn der Film nach einer dramatischen Begegnung im Stollen auf das weitere Leben von Johannes blickt: mittels einer kunstvollen Montage, mit galligem cineastischem Humor (wenn sich Johannes in einem Kino eine italienische B-Filmversion seiner eigenen Geschichte anschaut) – und mit einer wunderbaren raunenden Erzählerstimme: Regisseur Dominik Graf.​

Interview mit Dominik Graf

Wenn es nun parallele Leben geben sollte, dann könnte es doch auch parallele Versionen dieses Films geben für möglicherweise simplere Geschmäcker? Vielleicht eine Version von „Die Theorie von allem“, die im etwas zu langen Mittelteil konventioneller an ihr Thema herangeht? Formal vielleicht weniger Stilwillen besitzt, dabei die Spannungsmöglichkeiten seiner Geschichte aber stärker herauskitzelt? Wie dem auch sei – vor allem sollte man dankbar dafür sein, was hier filmisch gewagt wird. Eine lohnenswerte Kino-Erfahrung ist dieser Film, der sich einiges traut, in jedem Fall.​

 

Drei deutsche Filmpreise hat der Film gewonnen:

Kamera/Bildgestaltung: Roland Stuprich
Szenenbild: Cosima Vellenzer und Anika Klatt
Visuelle Effekte: Kariem Saleh und Adrian Meyer

DVD bei Good!Movies