Film und dieses & jenes

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„Evil does not exist“ von Ryusuke Hamaguchi

Eine Szene aus dem Film "Evil does not exist": Vater Takumi (Hitoshi Omika) und Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur, die ihr Dorf umschließt. Foto: Pandora Film

Vater Takumi (Hitoshi Omika) und Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur, die ihr Dorf umschließt. Foto: Pandora Film

Beginnen wir mit dem Ende. Das wird überraschen, verstören, vielleicht ratlos zurücklassen. Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi ist eben kein Mann eines formelhaften oder überraschungsarmen Kinos. Sein oscarprämierter Vorgängerfilm „Drive my Car“ war ein dialogreiches Drama, in dem er seinen Figuren auf den Grund ging und sich dafür drei Stunden Kino-Zeit nahm, die einem nicht zu lange erschienen.​ „Evil does not exist“ nun zieht einen sogartig sofort hinein, mit einer Fahrt der Kamera, die Baumwipfel von unten zeigt, so als schaue man beim Wandern unentwegt nach oben – oder als werde man auf dem Rücken liegend durch den Wald getragen, auf einer Bahre vielleicht, oder in einem offenen Sarg. Knapp vier Minuten ohne Schnitt und mit konstanter Unten-nach-oben-Perspektive zeigt der Film die Natur, begleitet von einer Streichermusik, die so schön wie melancholisch ist. so zart wie kraftvoll. Hier am Waldrand leben Takumi und seine Tochter Hana, sie sind Teil der Gemeinschaft des Dorfes Mizubiki – nicht allzu weit entfernt von Tokio, aber doch wie in einer anderen Welt.​

Quellwasser für den Nudelteig​

Das Leben hier ist ruhig und steht im Einklang mit der Natur, so gut es eben geht, wenn Menschen im Spiel sind. Takumi, der sich selbst als „Handlanger“ bezeichnet, schöpft reinstes Quellwasser in einen Kanister – das Lokal des Dorfs nutzt es für den Nudelteig – und pflückt dafür auch wilden Wasabi. Am Nachmittag holt er seine Tochter von der Schule ab; wenn er zu spät kommt, was öfter passiert, wandert sie durch den Wald nach Hause. Die beiden sind, das darf man annehmen, glücklich mit diesem Alltag, diesem Gleichlauf der Dinge.​ Doch der droht aus dem Rhythmus zu kommen: Eine Firma in Tokio plant hier ein „Glamping“-Gebiet, einen luxuriösen Campingplatz. Das Dorf ist beunruhigt – bisher ist man ohne erholungsbedürftige Städter sehr gut ausgekommen; die Auswirkungen auf die Natur sind nicht absehbar – und die Informationen der „Glamping“-Planer weder völlig glaubhaft noch detailliert durchdacht.​

 

Mit „Drive my car“ gewann er 2022 einen Oscar: der japanische Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi (45).

Mit „Drive my car“ gewann er 2022 einen Oscar: der japanische Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi (45). Foto: Pandora

Regisseur/Autor Hamaguchi lässt hier, vereinfacht gesagt, Großstadt auf Dorf prallen, urbane Hektik auf ländliche Ruhe, ungebremsten Kapitalismus auf gebremstes Interesse an Kapital. Nur: „Evil does not exist“ ist dabei weder simple Öko-Parabel noch schlichte Kapititalismus-Kritik. Das Böse an sich gibt es nicht, sagt uns der Filmtitel (sofern man ihm glauben mag); wobei das „not“ im Vorspann mit knalligem Rot betont wird. Was aber nicht bedeutet, dass niemand etwas Böses tut, je nach den Umständen.​

Die beiden „Glamping“-Abgesandten aus Tokio sind keine Unmenschen, sondern einfach kleine Rädchen im großen Prozess. In der zentralen Szene, als die beiden ihr Projekt vorstellen, werden sie von den Bewohnern verbal auseinandergenommen – jede Frage, ob nach dem Standort des Klärtanks oder den Arbeitszeiten des Campingplatzwächters, trifft ins Schwarze. Die Firma hat allzu hektisch geplant, drängt doch die Zeit, da sie noch ein paar Corona-Zuschüsse abgreifen will. Es ist ein filmisches Kabinettstück, wie hier eine scheinbar schlichte Sequenz in einem mausgrauen Gemeindehäuschen, wo (meist) in aller Ruhe unter anderem über Kläranlagen diskutiert wird, zu einer enorm aufregenden, viertelstündigen Szene wird; jedes Wort, jeder Blick zählt.​

Toilettenputzen in Tokio: „Perfect Days“ von Wim Wenders 

Auf Anweisung des „Glamping“-Chefs in Tokio versuchen die Gesandten, den „Handlanger“ Takumi sozusagen mit ins Boot zu nehmen und bieten ihm eine Stelle am Campingplatz an. Doch die Situation ändert sich schlagartig und führt zu jenem Ende, über das man lange grübeln kann. Ob man dieses nun für gelungen hält oder nicht: „Evil does not exist“ ist ein herausragender Film, der bei aller Betrachtung der Natur keiner Öko-Romantik verfällt – anders als ein „Glamping“-Abgesandter, für den in einer tragikomischen Szene der kurze Akt des Holzhackens zu einem Erweckungserlebnis wird: Fortan will er sein Leben abseits der Großstadt in der Natur verbringen.​

„Ein Werk darf auch verschwinden“

Entstanden ist der Film ungewöhnlich: Hamaguchi hatte ursprünglich geplant, nur Naturszenen als Bebilderung für eine Performance der Komponisten Eiko Ishibashi aufzunehmen. Das Projekt wuchs, er schrieb ein Drehbuch – das Ergebnis waren dann die Performance-Unterlegung „Gift“ und der Spielfilm „Evil does not exist“. Ishibashis Musik ist im Film nicht oft eingesetzt, aber wenn, dann mit Wucht, nicht als Bild-Illustrierung, sondern eher als tragisch umflorter Kommentar, vielleicht als Verkörperung der Natur selbst? Beim Anfang des Films jedenfalls reißt sie schlagartig ab — sobald ein Mensch ins Bild kommt.​

„Evil does not exist“ läuft im Saarbrücker Filmhaus, außerdem Sonntag, 12.5., 19 Uhr in der Kinowerkstatt St. Ingbert.
Hamaguchis Film „Drive my car“ ist zurzeit in der Mediathek von Arte zu sehen.

„Drive my car“ von Ryusuke Hamaguchi – ab 1. Mai bei Arte

Drive my car Oscars

Regisseur Yusuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) und die Fahrerin Misaki (Toko Miura).        Foto: REM

 

Eine große Überraschung war das schon. Ein japanischer Film, drei Stunden lang, erhält bei den Oscars 2022 vier Nominierungen: für das beste adaptierte Drehbuch, den besten internationalen (also nicht-nordamerikanischen) Film, für die beste Regie und als bester Film. Letztlich gewann „Drive my car“ den Oscar als besten internationalen Film. Das gab diesem wundersamen und wunderbaren Film von Ryusuke Hamaguchi Aufmerksamkeit und einen gewissen kommerziellen Rückenwind, den er gut brauchen kann – ist doch „Original mit Untertiteln“ und „179 Minuten Laufzeit“ für manchen Kinogänger eher abschreckend denn animierend. Nur: Ließ man sich abschrecken, brachte man sich um eine eigenwillige und beglückende Seh-Erfahrung.

Melancholie in Tokyo: „Perfect days“ von Wim Wenders

Nachts und nackt beginnt der Film, wenn die Drehbuchautorin Oto ihrem Mann Yusuke, einem Schauspieler und Theaterregisseur, eine Geschichte erzählt, die sie nach den gemeinsamen Liebesnächten immer weiter spinnt: Um eine Frau geht es, die ihrer ersten Liebe nachspioniert, regelmäßig in das Haus des Angebeteten einbricht, um Dinge zu hinterlassen. Yusuke hört fasziniert zu, ein enges Band der Vertrautheit scheint diese beiden Eheleute miteinander zu verbinden. Doch als Yusuke eines Tages unerwartet nach Haus kommt, sieht er seine Frau innigst zugange mit einem anderen Mann auf dem Sofa. Ohne bemerkt zu werden, verlässt er die Wohnung wieder, verschweigt das Ganze gegenüber Oto (ebenso wie sie es tut). Als er just an dem Abend nach Hause kommt, an dem seine Frau etwas mit ihm besprechen kann, ist sie an einer Hirnblutung gestorben. Yusuke bleibt erschüttert und trauernd zurück – und im Ungewissen darüber, was seine Frau ihm mitteilen wollte.

Der rote Saab in Hiroshima

Erst hier, nach 40 Minuten, läuft der Vorspann von „Drive my car“, er ist wie ein filmischer Raumteiler, der auch den Bruch in Yusukes Leben widerspiegelt – und auch einen Zeitsprung von zwei Jahren. Yusuke nimmt das Angebot eines Bühnenfestivals in Hiroshima an, dort Tschechows „Onkel Wanja“ zu inszenieren. Bei den ersten Besetzungsgesprächen taucht überraschend auch ein junger Schauspieler auf, von dem Yusuke glaubt, ihn damals mit seiner Frau auf dem Sofa gesehen zu haben. Das setzt dem Witwer zu, ebenso irritiert ihn die Vorgabe des Festivals, dass er in Hiroshima nicht selbst seinen alten roten Saab fahren darf, sondern dass ihm eine Fahrerin zugeteilt wird – die zurückhaltende Misaki, die für ihn wider Erwarten zu einer großen Stütze wird.

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Was in der knappen Inhaltsangabe etwas simpel klingt, ist im Film ganz anders: Regisseur und Ko-Autor Hamaguchi gliedert „Drive my car“, entstanden nach einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami, in lange Szenen und Gespräche – es sind die Herzstücke des Films, wenn Yusuke mit seiner Fahrerin, mit dem mutmaßlichen Liebhaber seiner Frau, mit einem Kollegen und dessen Frau minutenlang spricht. Um Liebe geht es, um Trauer und Tod (die Tochter von Oto und Yusuke ist vor Jahren sehr jung gestorben), um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit extremer Nähe zwischen Menschen. Muss körperliche Untreue ein Beleg für mangelnde Liebe sein? Wie gut kann man seinen Partner kennen, wenn es schon schwer genug fällt, sich selbst einigermaßen zu kennen?

Interview mit Sandra Hüller

Hamaguchi erzählt davon mit exzellenten Darstellern, denen man trotz Zurückhaltung die Seelenlage ihrer Figuren anmerkt, mit gelungenen Verschränkungen mit der „Onkel Wanja“-Inszenierung (ohne ein selbstgefälliges Meta-Ebenen-Spiel zu beginnen) – und vor allem in aller Ruhe. Hier wird viel gesprochen, im roten Saab, an der nächtlichen Hotelbar, im Esszimmer, auf einem verschneiten Hügel. Gefühlvoll ist das alles, aber nicht sentimental, die Melancholie ist spürbar, aber sie drängt sich filmisch nicht auf. Sicher, ein wenig Sitzfleisch braucht man für den Film – aber er wird einen tief berühren.

 

Am 1 . Mai ab 22 Uhr bei Arte, danach in der Mediathek.

Blu-ray und DVD bei REM.

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