Film und dieses & jenes

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„Schock“ von Denis Moschitto und Daniel Rakete Siegel: deutsches Genre-Kino, jetzt als Bluray und VoD

Arzt Bruno (Denis Moschitto) in der Enge. Foto: Bon Voyage Films

 

Den klassischen weißen Kittel hat er wohl schon länger nicht mehr. Im Dunkel der Nacht dreht der Arzt Bruno seine Runden, zieht zum Beispiel den entzündeten Zahn einer Prostituierten im schäbigen „Asia Paradies“-Puff und versorgt generell Menschen, die Krankenhäuser meiden – sei es mangels einer Versicherung oder wegen eines Status als „Illegaler“. Ein selbstloser Engel der Nacht ist er aber nur bedingt; aktuell besitzt Bruno keine Zulassung als Arzt, wohl wegen Drogenmissbrauchs. So hält er sich mit seinen nächtlichen, in bar bezahlten Hausbesuchen über Wasser und hofft auf bessere Zeiten. Doch die rücken nach einer nächtlichen Schießerei in weite Ferne.​

Eine Seltenheit im deutschen Kino​

Ein deutscher Gangsterfilm im Kino? So etwas sieht man selten, ist das Fernsehen doch so randvoll mit „Tatorten“ und weiteren Krimireihen, dass das Publikumsinteresse mehr als ausreichend gesättigt scheint, was Mord und Totschlag angeht. Umso besser und schöner, dass es „Schock“ überhaupt gibt, einen atmosphärischen, schnörkellosen Film, wie er hierzulande selten produziert wird.​ Eine längere nächtliche Sequenz führt uns mitten hinein in das Leben von Bruno (Denis Moschitto), in allerlei muffige Hinterzimmer. Im „Asia Paradies“ gerät er in eine Schießerei rivalisierender Banden und versorgt ein Opfer, das er bestens kennt: Es ist Giuli (Fahri Yardim), der Freund von Brunos Schwester (Aenne Schwarz) – abgesehen davon haben sich die beiden Männer wenig zu sagen, doch es gibt eine weitere schicksalhafte Verbindung: Der Kopf hinter dem Anschlag auf Giuli ist ein besonderer Patient von Bruno.

Giuli (Fahri Yardim) ist mit Bruno familiär verbandelt – aber das bedeutet wenig. Foto: Bon Voyage Films

 

Eine Anwältin (Anke Engelke in einem gekonnt heruntergekühlten Gastauftritt) hatte den Arzt an einen krebskranken Italiener vermittelt, dem Bruno eine Antikörpertherapie verabreichen soll. Mit einer Maske über dem Kopf wird der Mediziner in eine Hinterhofbaracke gebracht, wo er den Schwerkranken zu retten versucht – in ständiger Angst, dass Giuli ihm auf die Spur kommen und erfahren könnte, dass er dessen Todfeind behandelt.​

„The Killer“ von David Fincher

Diese Unterwelt ist zu groß für Bruno​

„Schock“ erzählt mit kühler Logik von einem Kontrollverlust – langsam wächst Bruno eine Situation über den Kopf, die zunehmend komplexer wird. Diese (Halb-)Welt ist eine Nummer zu groß für ihn. Denis Moschitto, der zusammen mit Daniel Rakete Siegel das Drehbuch schrieb und den Film inszeniert hat, spielt diesen Bruno als stillen Mann, der wenig offensichtliche Emotion herauslässt – am ehesten bei seiner Schwester (das abendliche Gespräch mit ihr ist eine der schönsten Szenen des Films). Über weite Strecken reagiert Bruno nur; doch als sich seine Situation ändert, unter anderem weil der Dealer/Apotheker seines Vertrauens ihn wissentlich mit unbrauchbarer Medizin versorgt, muss er handeln. Vielleicht wäre Bruno in einem vergleichbaren US-Gangsterfilm zum heroischen Rächer geworden – aber in „Schock“ wird nichts romantisiert, schon gar nicht das Gangstertum. Irgendwann weiß niemand mehr, wer die Gewaltspirale als erster in Bewegung gesetzt hat – und die Gewalt bleibt das, was sie ist: brutal, schmerzhaft und letztlich sinnlos.​

„Axiom“ von Jöns Jönsson

Bilder für die große Leinwand​

Das Budget des Films mag überschaubar gewesen sein, aber gemacht ist der Film exzellent – Kameramann Paul Pieck fängt die nächtliche Szenerie in atmosphärischen, sehr breiten Bildern ein, die ins Kino gehören. Dazu pulsiert eine elektronische Musik des Berliners Hainbach, mal elegisch, mal rhythmisch und nervös: In manchen Momenten erinnert das an die minimale Kinomusik von John Carpenter, wie überhaupt der Film allgemein an schnörkelloses, muskulöses US-Kino der Vergangenheit denken lässt – vielleicht hatten Siegel und Moschitto Filme von US-Kollegen wie Walter Hills „The Driver“ oder Michael Manns „Der Einzelgänger“ im Hinterkopf, ohne diesen nun direkt nacheifern zu wollen. Im Presseheft zum Film jedenfalls erwähnen die beiden eine besondere Liebe zu der „Pusher“-Trilogie von Regisseur Nicolas Winding Refn. Wer diese Referenzen (oder einfach einen guten Krimi) schätzt, wird sehr viel Freude an diesem Film haben. Für eine Szene, bei der ein Daumen eine zentrale Rolle spielt, sollte man einen starken Magen haben. Oder einfach kurz wegschauen.​

Erschienen als Bluray bei Filmwelt und digital.

 

 

 

 

Interview zu Doku über Asta Nielsen: „Das war eine feministische Ansage“

Asta Nielsen auf einer historischen Starpostkarte.

Asta Nielsen auf einer historischen Starpostkarte.      Foto: Stiftung Deutsche Kinemathek

Asta Nielsen (1881-1972) war der erste große Star des Stummfilms, die Dänin spielte in vielen deutschen Produktionen unkonventionelle Figuren und lebte auch unkonventionell: Sie gestaltete ihre Karriere selbst, handelte eine frühe Gewinnbeteiligung aus, verlor zweimal ihr Vermögen und heiratete mehrfach, zuletzt im Alter von 88 Jahren. In der aktuellen Ausstellung „Der deutsche Film“ im Weltkulturerbe Völklinger Hütte hat sie einen prominenten Platz und ist nun auch das erste Thema im Rahmenprogramm. Die Filmemacherin Sabine Jainski zeigt ihre Doku „Asta Nielsen – Europas erste Filmikone“. ​

 

Wenn man Asta Nielsens Popularität auf ihrem Zenit mit der eines weiblichen Stars von heute vergleicht – wer würde ihr gleichkommen?​

JAINSKI Vielleicht Cate Blanchett? Es müsste eine Frau sein, die auf der ganzen Welt ein Superstar ist und sowohl als Komikerin wie als ernste Schauspielerin Erfolg hat, die eine Rollenbreite vom Teenager bis zur alternden Prostituierten verkörpern kann. Ich bezweifle, dass Schauspielerinnen heute überhaupt noch so viel Freiheit und Vielfalt zugestanden wird, wie sie sich Asta Nielsen damals nehmen konnte. Am ehesten gelang das vielleicht Schauspielerinnen wie Meryl Streep oder Helen Mirren über den gesamten Verlauf ihrer Karriere. Asta hat ja „nur“ im Alter zwischen 29 und 51 Jahren im Film gespielt.​

 

Die Journalistin und Filmemacherin Sabine Jainski. Foto: Elena Ternovaja

Die Journalistin und Filmemacherin Sabine Jainski.     Foto: Elena Ternovaja

Wie kamen Sie auf das Thema Asta Nielsen?​

JAINSKI Die neue Biografie von Barbara Beuys, „Asta Nielsen. Filmgenie und neue Frau“, gab den Anstoß für meinen Film, die Idee kam von der Produzentin Irene Höfer von Medea Film Factory. Ich kannte Asta Nielsen nur oberflächlich als Stummfilmstar, aber ich hatte keine Ahnung, was für eine faszinierende Persönlichkeit sich hinter dem Namen verbarg. Sie hat als alleinerziehende Mutter aus einem Arbeiterhaushalt um 1900 selbstständig eine Schauspielkarriere verfolgt. Besonders spannend fand ich, welche kreative Freiheit sie im frühen Film genoss – sie gestaltete ihre Rollen selbst, bis hin zu Maske und Kostüm, und beteiligte sich auch an Regie und Schnitt. Die Filme realisierte sie gemeinsam mit ihrem Partner, Drehbuchautor und Regisseur Urban Gad, und sie suchte sich unglaublich vielfältige Rollen aus: als alleinerziehende Mutter, arme Putzfrau, verliebter Teenager, aber auch als Bergwerksbesitzerin oder als Suffragette. Das war auch eine feministische Ansage: Frauen wollen eigene Karrieren, sie wollen nicht an Heim und Herd gekettet sein, sie wollen selbst über ihr Leben bestimmen, und sie wollen das Wahlrecht.​

In Ihrem Film heißt es, dass Nielsen keine klassisch-konventionelle Schönheit war – was hat das männliche Kinopublikum an ihr fasziniert?​

JAINSKI Ihre schlanke Figur wäre heute sehr gefragt, aber in den 1910er Jahren orientierte sich das weibliche Schönheitsideal eher an der Rubens-Figur. Zudem war sie dunkelhaarig und nicht blond, was auch manchen Dänen nicht gefiel. Erst in den 1920er Jahren wurden die androgynen „Neuen Frauen“ mit Bubikopf modern, die sie so erfolgreich verkörperte. Die Filmkritikerin Nanna Rasmussen sagt in meinem Film, dass sie ein Symbol gefährlicher, faszinierender Erotik war – sie wirkte geheimnisvoll und verführerisch.​

Alte Kinoanzeigen

Und das weibliche Kinopublikum?​

JAINSKI Das frühe Kino war auch ein Freiraum für das weibliche Publikum, wie die Biografin Barbara Beuys in meinem Film erklärt. Die Frauen konnten sich in Asta Nielsens Figuren wiederfinden, weil sie den Alltag ihrer Zeit auf die Leinwand brachte. Asta spielte berufstätige Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten und zeigte, wie schwer der berufliche Aufstieg war, oder welche Folgen eine unerwünschte Schwangerschaft für Frauen hatte. Sie zeigte, in welchen Abhängigkeitsverhältnissen sich die Frauen befanden. Und wenn sie Männer spielte, war sie durchaus auch für Frauen eine große Verführerin.​

Sie hat unter der Marke „Die Asta“ Dinge vermarktet – war sie eine Pionierin des Merchandise? Und eine Gewinnbeteiligung an Filmen auszuhandeln, war damals auch unerhört, oder?​

JAINSKI Es war eher so, dass andere Geschäftsleute ihre Popularität ausnutzten und Dinge unter ihrem Namen herausbrachten. Sie hat versucht, das zu begrenzen und zu kontrollieren. Vor Gericht ist sie damit allerdings gescheitert. Das Merchandise entstand eher gegen ihren Willen, aber es war wohl zum ersten Mal derart umfassend – es gab unter anderem Schnittchen, Seife, Parfum und Operngläser. Die Gewinnbeteiligung von einem Drittel der Filmeinnahmen war dagegen wirklich ihr großer Coup. Das war 1911, sie hatte ja gerade erst mit ihrem dänischen Filmdebüt einen Riesenerfolg gelandet, und nun sollte sie die große Chance auf eine langjährige Serie in Deutschland bekommen – und da hat sie gleich alles auf eine Karte gesetzt und gewonnen. Sie hat sehr früh begriffen, dass sich mit Filmen Geld verdienen lässt und dass sie sich selbst als Filmstar vermarkten muss.​

Ein Blick in die Völklinger Ausstellung „Der deutsche Film". Es läuft ein Filmausschnitt aus „Engelein" von 1914, daneben hängt das Plakat zum Film mit Asta Nielsen. Foto: Hans-Georg Merkel / Weltkulturerbe Völklinger Hütte

Ein Blick in die Völklinger Ausstellung „Der deutsche Film“. Es läuft ein Filmausschnitt aus „Engelein“ von 1914, daneben hängt das Plakat zum Film mit Asta Nielsen. Foto: Hans-Georg Merkel / Weltkulturerbe Völklinger Hütte

Nielsen spielte einen weiblichen „Hamlet“, der sagt: „Ich bin kein Mann, muss aber auch keine Frau sein“. Wie wurde das damals verstanden und aufgenommen? Das klingt sehr aktuell.​

JAINSKI Soweit ich weiß, hatte die französische Theaterschauspielerin Sarah Bernhardt als erste Frau den „Hamlet“ gespielt, das war sicher ein Vorbild für Asta Nielsen. Asta hatte auch schon in den 1910er Jahren mehrere komische Hosenrollen gespielt. In „Das Liebes-ABC“ sieht sie fast aus wie Charlie Chaplin. Ihr „Hamlet“ war 1922 ein weltweiter Hit, weil sie in dieser Rolle als Komikerin und als tragische Heldin brillieren konnte. Sie gab der Figur Hamlet damit eine ganz andere Motivation, nicht nur den Vater, sondern auch die eigene unterdrückte Existenz als Frau zu rächen. Sie spielt eine Figur, die zwischen den Geschlechtern steht und die feste Rollenzuschreibung von Mann und Frau infrage stellt. Das ist genau das, was wir heute diskutieren. Ich war immer wieder unglaublich verblüfft, dass Asta Nielsen bereits vor über 100 Jahren genau dieselben Fragen gestellt hat, an denen wir heute immer noch knabbern. Offenbar sind wir gesellschaftlich doch noch nicht so viel weiter als in den 1920er Jahren.​

Das nostalgische Kinomagazin „35 Millimeter“

Nielsens Filmkarriere endete in den 1930ern – warum? War es der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, der manche Karrieren abrupt beendete?​

JAINSKI Der Tonfilm war kein Problem, sie hatte ja jahrelang auf Deutsch Theater gespielt. Das hört man auch in ihrem ersten und leider einzigen Tonfilm, „Unmögliche Liebe“. Kurz nach der Premiere dieses Films kam Adolf Hitler an die Macht und er wollte Nielsen für seine Sache gewinnen. Sie hat durchaus geschwankt, aber sich dann letztlich doch entschieden, nicht mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Sie hat dann keine Filme mehr gedreht, sondern weiter am Theater gearbeitet.​

Ihr Film endet mit der letzten Ehe von Asta Nielsen, spart ihren Tod 1972 aber aus – warum?​

JAINSKI Ich fand es unglaublich faszinierend, wie oft Asta Nielsen privat wie beruflich immer wieder von vorne angefangen hat. Sie hat zwei Weltkriege überlebt, dreimal ihr Vermögen verloren, zwei Produktionsfirmen gingen den Bach hinunter, sie hatte drei gescheiterte Ehen hinter sich, war ab den 1950er Jahren in Dänemark sehr einsam. Und dann fängt sie im hohen Alter noch eine neue Beziehung zu dem Kunsthändler Christian Theede an – und heiratet ihn mit 88 Jahren! Was für ein Vorbild! Er hat sie dann bis zu ihrem Tod begleitet.​

Termin: Donnerstag, 18. Januar, 18.30 Uhr. Nach der Filmvorstellung gibt es ein Gespräch mit Sabine Jainski, Kurator und Weltkulturerbe-Vorstand Ralf Beil und dem Publikum. Der Eintritt ist frei. Infos: Weltkulturerbe Völklinger Hütte.

Die Doku ist in der Mediathek von Arte zu sehen.

Kontakt zu Sabine Jainski: www.jaunski.de

"Petrovs Flu"

Petrova (Chulpan Khamatova) auf der Jagd.   Foto: Farbfilm Verleih

 

Donnerlittchen, was für ein Film. Viel Wahl lässt einem „Petrov’s Flu – Familie Petrow hat die Grippe“ nicht: Entweder wird einem dieser rastlose, überbordende Film an und auf die Nerven gehen. Oder man lässt sich mitnehmen von diesem reißenden Bewusstseinsstrom der grotesken Bilder und der bizarren Ideen. Wie auch immer, nach den 145 Minuten wird man in jedem Fall gerne erst mal frische Luft schnappen wollen – genau so wie jene vermeintliche Leiche im Film, die aus einem Sarg steigt, in diesem knallbunten Personal-Panoptikum damit aber nicht einmal als besonders ungewöhnlich auffällt. Irgendwann wundert man sich über nichts mehr.​​

Inszeniert hat das der russische Bühnen- und Filmregisseur Kirill Serebrennikov, ebenso international preisgekrönt wie verhasst beim Putin-Regime in Moskau und der russisch-orthodoxen Kirche. Die protestierte etwa gegen seine Ballett-Inszenierung über den legendären Tänzer Rudolf Nurejew (1938-1993), der homosexuellund in den Westen geflüchtet war. Serebrennikow inszenierte unter anderem am Bolschoi-Theater und war ab 2012 künstlerischer Leiter der Moskauer Avantgarde-Bühne „Gogol- Zentrum“; das wurde 2017 von Strafverfolgungsbehörden durchsucht, ebenso wie Serebrennikows Wohnung. Der Vorwurf: Veruntreuung von Staatsgeldern, ein Vorwurf, den der Regisseur als „irrsinnig“ bezeichnete. Serebrennikow wurde im August 2017 verhaftet, im Juni 2020 zu einer dreijährigen Haft auf Bewährung verurteilt.​

Ein Bus voller Volkszorn

Es überrascht nicht, dass der Regisseur in „Petrov’s Flu“ Russland in dunklen Farben zeichnet. Nach der literarischen Vorlage, Alexei Salnikows „Petrov hat Fieber. Gripperoman“ (verlegt bei Suhrkamp), erzählt der Film vom Comiczeichner/Autor/Autoschlosser Petrov, der zu Anfang in einem Bus unterwegs ist. Draußen rieselt leise der Schnee, innen wird laut gehustet (vor allem von Petrov), gerempelt und gemault – nicht zuletzt über den Zustand des Landes. „Gorbatschow hat das Land verkauft, Jelzin hat es versoffen“, heißt es da; zu dieser Kurzanalyse des postsowjetischen Russlands gesellen sich noch Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Dieser Bus voll brodelnden Volkszorns hält an, Petrov wird herausgeholt, Männer drücken dem Hustenden und Torkelnden eine Kalaschnikow in die Hand – er muss mal eben bei der Hinrichtung einer gut gekleideten Abendgesellschaft mitschießen. Deren Forderung nach einer ordentlichen Verhandlung wird durch einen kurzen Feuerstoß abgerissen, Petrov darf zurück in den Bus, weiter geht die Fahrt.​

Roadmovie „Abteil Nr. 6“ in der ARD-Mediathek

Träumt Petrov? Oder suchen ihn Erinnerungen heim? Oder durchdämmert und durchschwitzt er längst einen wahnwitzigen Fiebertraum – mit uns an seiner Seite? Wie auch immer: Technisch ist das virtuos gemacht, mit einer minutenlangen Einstellung ohne Schnitt (oder ohne sichtbaren Schnitt), die einen unweigerlich und unmittelbar mit ins Geschehen hineinzieht. Serebrennikow gibt bei seinen langen Sequenzen nur selten Signale (oder Warnungen), wenn er uns auf unerwartete Erzähl-Ebenen lockt.​

Prügelei im Lyrik-Zirkel

Weiter geht es in eine öffentliche Bibliothek, in der Petrovs Frau Petrova arbeitet. Sie wundert sich über einen männlichen Kunden, der sich erst Bücher über den Marquis de Sade leiht, dann über Konzentrationslager und dann über Gynäkologie; nebenan tagt ein Lyrikzirkel, bei dem sich die Diskussion über Versrhythmen in eine Schlägerei hineinsteigert. Da werden Petrovas Augen nachtschwarz, den aggressivsten Diskutanten verprügelt sie, bis Blut auf die Lyrikbände spritzt. Realität? Oder Gewaltfantasien einer äußerlich eher stillen Bibliothekarin? Steht hier ein ganzes Land vor dem kollektiven Nervenzusammenbruch?​​

Interview zu Verschwörungstheorien

Es bleibt undurchsichtig, wenn der Film uns zwischendurch und erstmal unmerklich in die Handlung eines Romans führt, den Petrov bei einem Verlag unterzubringen versucht; später engt sich das sehr breite Format der Filmbilder rechts und links ein, mutmaßlich bei Erinnerungen Petrovs an seine Jugend, im letzten Filmdrittel wird es schwarzweiß für eine weitere Geschichte mit Bezug zu Petrov, in der sich Serebrennikov mit einem gewissen Genuss auch über das eigene Metier lustig macht: Da probt eine Theatertruppe mit großer Künstlergeste, als bringe sie Tschechovs Gesamtwerk auf die Bühne – letztlich geht es um Kinderbespaßung.​​

In dieser buchstäblich fiebrigen Gesellschafts-Groteske verbinden sich schwarzer Humor mit Melancholie und Traurigkeit, Resignation angesichts der gesellschaftlichen Zustände mit einem gewissen Trotz der Hoffnung. Alles wirkt muffig und ranzig, die Welt (beziehungsweise Russland) ist, wenn denn mal die Sonne scheint, meist graubraun. Dass ein Film wie dieser in Russland entstehen konnte, überrascht schon – allerdings als Koproduktion mit Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Ein Werk wie eine Antithese zum „Arthouse-Wohlfühlfilm“ – eine enorme filmische Erfahrung.​

Loriot trifft Douglas Sirk: „Da kommt noch was“ von Mareille Klein

Film Da kommt noch was

Zbigniew Zamachowski als Ryszard, Ulrike Willenbacher als Helga. Foto: Weltkino

Die meisten Unfälle passieren ja zuhause, heißt es – manchmal auch die symbolischsten, zumindest in diesem sehenswerten Film.  Da stürzt Helga, beim Versuch, eine Spinne an der Wohnzimmerdecke zu fangen, vom Schemel, kracht durch ein Holzgitter im Boden und bleibt stecken. Die ganze Nacht lang, bis ihre Putzhilfe sie morgens entdeckt. „Ich bin in ein Loch gefallen, ich komme hier nicht alleine raus“, sagt Helga und meint möglicherweise ihr Leben. Das wirkt zwar wohl geordnet, aber sehr, sehr still – das Lauteste im Haus sind das Rattern und das Röcheln ihrer Kaffeemaschine. Vor zwei Jahren, da war Helga um die 60, hat ihr Mann sie wegen einer anderen Frau, der Arzthelferin des Familiendoktors, verlassen; Helga bleiben eine kartenspielende Runde von Freundinnen (über die Tiefe oder Untiefe der Freundschaft kann man streiten) und Konzertbesuche – wenn sie Pech hat, läuft Zeitgenössisches, das an ihren Nerven sägt.

Ein Interview über Loriot

Eine gewisse Unruhe kommt in diesen Gleichlauf der Dinge, als die bewährte Putzhilfe urlaubt und Ersatz empfiehlt: den Polen Ryszard. Dessen Deutschkenntnisse sind begrenzt, Helgas Polnischkenntnisse sind nicht existent. Die Kommunikation holpert also erstmal, doch im Partykeller mit Anmutung der 1970er und Musik der 1990er kommt man sich erst langsam, dann doch ziemlich rasch näher. Helga und dem verwitweten Ryszard geht es zusammen so gut wie lange nicht mehr – doch wie wird das Umfeld mit snobistischer Attitüde auf den Putzmann/Handwerker aus Polen reagieren?

Douglas Sirk und Loriot

„Da kommt noch was“ ist gleichzeitig Tragikomödie und in gewisser Weise auch Gesellschafts-Gruselfilm; die Geschichte erinnert ebenso an Douglas Sirks alte Melodramen wie „Was der Himmel erlaubt“ (Mittelschichts-Witwe liebt jüngeren Gärtner) wie an Loriots subtiles Aufspießen bürgerlicher Konventionen.

Geschrieben und inszeniert hat das die Kölnerin Mareille Klein, Jahrgang 1979, die man vom Saarbrücker Filmfestival Max Ophüls Preis her kennt: Ihre exzellente Dokumentation „Auf Teufel komm raus“, über das Leben eines aus der Haft entlassen Sexualstraftäters, lief 2011 im Wettbewerb; ein Jahr später gewann Kleins „Gruppenfoto“ den Kurzfilmpreis. Nach „Dinky Sinky“ (2016), ihrem Abschlussfilm an der HFF München, ist „Da kommt noch was“ ihr zweiter Spielfilm.

Interview mit Sandra Hüller

Sie erzählt eine zarte Liebesgeschichte, aber auch viel von Hierarchien, von sozialem Gefälle, von Macht und Ignoranz. Wenn Helga etwa ihre Putzanweisungen an Ryszard in einem rudimentären Deutsch-Englisch-Gemisch transportiert und mit „Comprende?“ abschließt. Oder wenn im Freundinnenkreis, wo Ryszard als Handwerker sehr beliebt ist, immer von „mein Pole“ gesprochen wird. „Polen sind gute Handwerker“ heißt es da so nett gemeint wie alltagsrassistisch.

Der Höhepunkt dieses Snobismus, vielleicht auch der Höhepunkt des Films sind die Szenen einer Geburtstagsfeier, zu der Helga und Ryszard eingeladen sind. Dort begegnet man ihm mit freundlicher Neugier, aber auch mit einem Blick von oben herab. Ob seiner mäßigen Kenntnisse der deutschen Sprache fragt man ihn in Rustikal-Englisch „Why not learning language?“, bevor die neue Frau von Helgas Ex-Mann ihren Beruf so erklärt: „I’m the Arzthelperin.“

Da weht schon ein wenig Loriot durch das Besserverdiener-Interieur, auch wenn der Film solche Momente nicht betont komödiantisch ausspielt. Sondern er inszeniert sie ganz realistisch und gibt ihnen damit eine gewisse alltägliche Grausamkeit – wie etwa auch bei Ryszards Toilettenputzen unter Helgas strengem und kenntnisreichem Blick.

Graubraune Fliesen, graubraunes Leben

Zu dem Eindruck, dass vieles direkt aus dem Leben gegriffen wirkt, tragen auch die Kulissen bei, die keine sind: Der Film entstand fast ausschließlich in drei Häusern in Ottobrunn bei München, keine 200 Meter voneinander entfernt. Die Innenausstattung, von Kameramann Patrik Orth („Toni Erdmann“) in breiten Kinobildern eingefangen, wirkt komplett unkünstlich – graubraune Fliesen passen vortrefflich zu Helgas aktuellem Leben, das sich langsam verändert.

Gespielt ist das Ganze bis in die Nebenrollen hin famos. Der in seiner polnischen Heimat sehr populäre Darsteller Zbigniew Zamachowski spielt Ryszard als stillen, zurückhaltenden Mann, der in wichtigen Momenten – nicht zuletzt im Partykeller – Initiative ergreift. Im Zentrum des Films steht aber Ulrike Willenbacher; hinter der Spröde ihrer Figur Helga lässt sie immer eine gewisse Sanftheit durchscheinen, sie schwankt zwischen dem Verletztsein durch das Ehe-Ende und einer stoischen Stärke. Die Komik mancher Situationen und vieler Dialoge spielt sie nicht überdeutlich aus, auch wenn vieles auf stille Weise sehr witzig ist: Etwa wenn Helga sich im Baumarkt vor einer vermeintlichen Freundin in die Bäder-Abteilung flüchtet und dort kleinlaut ausharrt, auf der Tonspur untermalt von einer kernigen Baumarkt-Durchsage über die Vorzüge des „Duschsystems Euphoria“.

 

DVD bei Weltkino, und noch bis 10. Mai in der Arte-Mediathek.

„Axiom“ von Jöns Jönsson: Dichtung und Wahrheit, jetzt bei Arte


Ricarda Seifrid und Moritz Treuenfels in „Axiom“.      Foto: Martin Valentin Menke

 

Man hört ihm ja gerne zu. Julius hat für jede Lebenslage eine geistreiche Bemerkung parat, eine interessante Geschichte, die ihm neulich wohl passiert ist. Die flicht er in Konversationen mit angenehmer Stimme ein, ob am Arbeitsplatz Museum, wo er verbotenerweise fotografierende Kunstfreunde ermahnt, ob in der Straßenbahn oder am Hochkultur-Restauranttisch. Mit diesem jungen Mann der gepflegten Umgangsformen fühlt man sich eben wohl. Bis sich kleine Risse in der Fassade zeigen und man sich über ihn wundert – etwa wenn er Freunde zu einem Ausflug mit dem Segelboot seiner adeligen Mutter einlädt, das Auto aber kilometerweit vom Hafen parkt. Vielleicht ist es ihm nicht so eilig mit dem Segeln, das dann sowie nie stattfindet, weil Julius vor der Bootsbesteigung einen epileptischen Anfall erleidet. Langsam kommen seine Freundinnen und Freunde ebenso ins Grübeln wie die Kinogänger. Was ist los mit diesem Julius? Und wer ist er eigentlich?

Das soziale Chamäleon

„Axiom“ ist ein hinreißender Film, melancholisch und witzig zugleich, dabei so lässig wie tiefsinnig – ein Glücksfall. Julius entpuppt sich als versponnener Lügner, der nahezu auf jede Situation passend reagiert, sich wie ein soziales Chamäleon fast überall anpasst und sich für nahezu jeden neuen Gesprächspartner neu erfindet. Für seine Freundin ist er ein Architekt, der gerade das Großprojekt „Serbische Botschaft“ entwirft; für einen WG-Bekannten ist er ein Autor und Stipendiat, der ein halbes Jahr nach Tokio geht; für Hochkulturbekannte ein junger Mann, der eine schwierige Kindheit mit drogensüchtigen Eltern erfolgreich bewältigt hat. „Du brauchst einen Plan B“, sagt er einem Kollegen und hat stets einen solchen parat.

„Die Theorie von allem“ von Timm Kröger

Autor und Regisseur Jöns Jönsson, ein Schwede, der in Berlin Film studiert hat, lässt den Hintergrund vage. Ist Julius ein Narziss mit Persönlichkeitsstörung? Oder trägt er gerne zu dick auf, um eigene Komplexe zu übertünchen? Oder ist er in einer Gesellschaft des Selbstoptimierens und des Blendens nicht einfach nur konsequent und liefert lügend das, was verlangt wird: Erfolg und Status?

Der Lügenbaron bei der Arbeit

Der Film wertet nicht, er zeigt einfach, mit einer gewissen, aber nicht grenzenlosen Anteilnahme, einen Lügenbaron bei der Arbeit. Moritz Treuenfels in seiner ersten Kinohauptrolle ist eine Entdeckung; sein Julius kann ebenso mitleiderregend sein wie nervtötend, mal möchte man ihn in den Arm nehmen, mal ihm die Freundschaft kündigen. Er ist ein Münchhausen, zugleich ein Getriebener. Die Szene, wie sich Julius in ein Architektenbüro einschleicht, um den speziellen Berufsduktus aufzuschnappen, ist ein Kabinettstückchen von subtilem Spiel und Spannungsaufbau.

„Alle reden übers Wetter“ von Annika Pinske

Jönsonns lässt die Mono- und Dialoge enorm lässig klingen, realistisch und beiläufig, das wirkt alles verbal wie aus dem Leben gegriffen – hohe Inszenierungskunst; der vielbeschäftigte saarländische Kameramann Johannes Louis liefert dazu klare, unprätentiöse Bilder, konzentriert sich manchmal nur auf Julius‘ Gesicht, während von außen Gespräche auf ihn einströmen, die er aufsaugen wird, um sich gleich kenntnisreich einzumischen. Es ist auch schön, die Schauspielerin Ines Marie Westernströer in einer Rolle zu sehen, die ihr etwas mehr Raum hat als (bislang) die der Ermittlerin im saarländischen „Tatort“.

Wem soll man hier noch glauben?

Julius‘ ständiges kunstvolles Lügen hat den Effekt, dass man im Film irgendwann kaum noch irgendetwas glauben mag. Ein ehemaliger Kollege von Julius erzählt ihm eine Geschichte über seine Kindheit, eine Hautkrankheit und die helfende Kraft der Religion, die weit erfundener klingt als alles, was Julius bisher aufgetischt hat. Eine große Lüge? Oder schreibt das Leben immer noch die besten Geschichten? (In diesem Fall dann doch der Drehbuchautor). Man weiß es nicht, aber Julius hört gebannt zu – er weiß ja nie, wann er selbst so eine Geschichte gebrauchen kann.

Zu sehen in der Mediathek von Arte.

 

„Abteil Nr. 6“ von Juho Kuosmanen – jetzt in der ARD-Mediathek

Juho Kuosmanen Abteil Nr. 6

Laura (Seidi Haarla) am Fenster. Frische Luft ist in diesem Zug vonnöten. Foto: Eksystent

 

1500 Kilometer Reise mit der Bahn sind ja lange genug – aber sie drohen sich doppelt so lang anzufühlen, wenn man den Schlafwagen mit Ljoha teilen muss: Der junge, laute Russe mit dem kahlgeschorenen Kopf hat sich im Abteil schon mal breit gemacht, nuckelt abwechselnd an einer Schnapsflasche oder beißt in eine Dauerwurst. Für die Finnin Laura wird es eine lange Fahrt von Moskau nach Murmansk. Dort, nördlich des Polarkreises, will sich die Archäologiestudentin historische Felszeichnungen ansehen; der Minenarbeiter Ljoha will in Murmansk vor allem Geld verdienen. Doch erst einmal muss dieses ungleiche Duo die Reise im engen Abteil überstehen, ohne sich gegenseitig eine Wodkaflasche auf den Kopf zu schlagen (oder eine Dauerwurst).​

„Petrov’s Flu“ von Kirill Serebrennikov

Zugegeben – es ist eine ziemlich stereotype Roadmovie-Konstruktion, die dem Film „Abteil Nr. 6“ zugrunde liegt: zwei wie Hund und Katz; auf einer Reise, bei der der Weg das Ziel ist. Und doch nimmt der zweite Langfilm des Finnen Juho Kuosmanen („Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“) mit und berührt. Da begegnen sich zwei verlorene Seelen, wobei Ljoha die weniger plastisch gezeichnete Figur bleibt. Im Zentrum steht Laura, deren zerbrechliche Lebenssituation zu Beginn in einer vieldeutigen Partyszene klar wird: Sie lebt in Moskau mit ihrer Freundin, die zu Lauras Abschied in Richtung Murmansk eine Feier gibt – mit Moskauer Hochschul-Intelligenzia, die beim Zitate-Raten Laura spüren lässt, dass sie nicht ganz dazu gehört. Der Film macht in kleinen Gesten und Momenten der Unbehaglichkeit spürbar, dass diesem Paar keine große Zukunft winkt. Eigentlich wollten beide zusammen nach Murmansk, doch die Freundin sagt ab – wegen zu viel Arbeit, wie sie versichert. Man darf seine Zweifel haben.​

Ljoha (Juri Borisow) und Laura (Seidi Haarla) in der Arktis. Foto: Eksystent

Ljoha (Juri Borisow) und Laura (Seidi Haarla) in der Arktis. Foto: Eksystent

Schon in diesen Momenten zieht die intime Inszenierung in den Bann, mit der beweglichen Kamera-Arbeit von Jani-Pettereri Passi, der den Figuren sehr nahe kommt. Sei es in der Moskauer Wohnung oder dann im Zug: Die Bilder machen die Enge körperlich spürbar, eine Kamerafahrt wirkt wie eine kleine Hommage an die Arbeit von Jost Vacano in „Das Boot“, wenn das Auge durch lange, übervölkerte Gänge streift, denen eines Unterseebootes nicht unähnlich. Da gelingt dem Film eine ungemein dichte Atmosphäre, man glaubt, den Dunst zu riechen. Aus Wodka, Zigarettenrauch, Essen und allzu lange nicht gewechselten Socken.​

„Jeder ist irgendwie einsam“​

Hier beginnt, nach einem ruppigen Beginn, eine zarte Annäherung zwischen dem prolligen Ljoha und der anfangs eingeschüchterten Laura, während nachts die Lichter der Städte am Fenster vorbeiflirren und die ersten Schneeflocken. Um Schranken geht es, die erstmal überwunden werden müssen: die von Sprache, Herkunft, Nationalität, Milieu und Bildung. Die Darsteller Seidi Haarla und Juri Borisow sind dabei famos, sie spielen feinnervig und lassen die Emotionen spürbar werden: Ljoha schwadroniert, hochprozentig benebelt, von der „Größe Russlands“ (der Film spielt in den späten 1990ern) und hält Laura erst einmal für eine Prostituierte, die in Murmansk „ihre Muschi miauen“ lassen will; zugleich kann er eine ziemlich zarte Person sein, auch wenn er im Artikulieren von Gefühlen offenkundig keine allzu große Erfahrung hat. Dazu passt seine stille Eifersucht, als kurzzeitig ein gitarrespielender Finne mit im Abteil sitzt; der zelebriert eine lässige Aussteiger-Attitüde, produziert Kalendersprüche wie „Jeder ist irgendwie einsam“ und erweist sich dann als gar nicht so sozial, wie er tut. Je länger diese Reise dauert, desto klarer wird Laura, dass ihr Moskauer Leben sie wenig glücklich gemacht hat. Sie und Ljoha sind Suchende – bloß wonach?​

„Abteil Nr. 6“ ist, wie Kuosmanens „Olli Mäki“, eine Ko-Produktion unter anderem mit dem Saarländischen Rundfunk, wurde in Cannes prämiert, erlebte aber einen holprigen Kinostart Ende März in Deutschland: Die Cinestar-Kette hatte den Film zu Beginn des Krieges in der Ukraine kurzfristig aus dem Programm genommen, weil Hauptdarsteller Juri Borisow Russe ist – der sich öffentlich gegen den Krieg wandte; schnell sprach das Unternehmen dann von einem „Missverständnis“ und nahm den Film bundesweit wieder ins Programm.

„Stars at Noon“ von Claire Denis

Der Film erzählt von der aufkeimenden Freundschaft –  vielleicht Liebe, vielleicht platonisch, vielleicht nicht – mit Humor, Gefühl und einiger Spannung. Doch nach der Ankunft in Murmansk verliert „Abteil Nr. 6“ etwas von seiner filmischen Kraft: Da wirkt er konstruierter als zuvor. Man rätselt über manche Handlung der Figuren, die zuvor schlüssiger wirkten; man spürt auch, dass die beiden Darsteller sich mühen müssen, um den Zuschauer weiter mitzunehmen. Doch ihnen gelingt es.​

​Zurzeit in der Mediathek der ARD.

„Proxima“ von Alice Winocour: Die Mutter, die Tochter und der Mars

Eva Green Proxima

Sarah (Eva Green) und ihre Tochter (Zélie Boulant-Lemesle). Foto: Koch Films

„Du musst Dich abnabeln“, sagt einer der Astronautenkollegen zu Sarah – es ist wohl der Schlüsselsatz im Film „Promixa: Die Astronautin“, der nur vordergründig von einem Weltraumflug erzählt, vom Aufbruch ins Weltall in Richtung Mars. Sehr erdverbunden geht es hier um Liebe und Elternschaft, Abschied und Erwachsenwerden. Die französische Astronautin Sarah (Eva Green) soll ins All fliegen und absolviert dafür bei der Esa in Köln ein aufreibendes Vorbereitungsprogramm. Während ihr Körper vermessen, verkabelt, durchleuchtet und trainiert wird, spürt sie schon den Schmerz des Abschieds von ihrer siebenjährigen Tochter (Zélie Boulant-Lemesle), die sie als von Sternen Faszinierte wohl nicht zufällig Stella genannt hat. Stella soll nach dem Abflug ins All für ein Jahr bei ihrem von Sarah getrennten Vater Thomas (Lars Eidinger) leben.

Interview mit Sandra Hüller

Eine Ahnung von der Trennung bekommt Sarah schon vor dem Abflug, als sie nach Moskau und dann nach Baikonur reisen muss, wo die Vorbereitungen weiterlaufen und wo sie schließlich starten soll. Die Telefonate mit der Tochter werden schwieriger, Stella hat in der neuen Schule ihre eigenen Probleme – und vor allem versteht sie (noch) nicht, warum ihre Mutter sie für ein Jahr verlassen wird.

„Ich bin Deiner Mutter immer um einen Planeten voraus“

Die Reibung von Familie und Beruf: Es ist ein altes, stets aktuelles Thema, von dem Alice Winoucour (Regie und Ko-Drehbuch) erzählt – und auch von der Situation einer Frau in einem männlich dominierten Beruf. Das erste Treffen mit dem amerikanischen Missions-Kollegen (Matt Dillon) fällt ernüchternd aus – mehr als ein Scherz darüber, dass sie auf dem Mars dann ja kochen könne und außerdem eine, oh là là, Französin sei, fällt ihm nicht ein. Und in der Beziehung zu ihrem Ex-Mann, der als Astrophysiker forscht, aber eben nicht zu den Sternen reist, schwelt eine gewisse Rivalität: „Ich bin Deiner Mutter immer um einen Planeten voraus“, sagt er zu der gemeinsamen Tochter – und damit habe Sarah so ihre Schwierigkeiten.

Proxima Lars Eidinger Koch Films

Vater Thomas (Lars Eidinger). Foto: Koch Films

Im Zentrum von „Proxima“ steht aber die innige Beziehung von Mutter und Tochter, die sich durch die Arbeit der Mutter zwar nicht entfremdet, aber eben doch verändert. Davon  erzählt der Film in berührenden, aber unsentimentalen Szenen – überhaupt ist der Film dramaturgisch behutsam. Die Musik von Ryuichi Sakamoto ist sparsam eingesetzt und zurückhaltend; der Blick auf das Metier der Astronauten ist nahezu dokumentarisch – kein Technik-Glamour herrscht hier, sondern professionelle Nüchternheit. Winocour drehte an Originalschauplätzen: Die Szenen bei der Esa in Köln wirken nahezu wie in einem Sportlerheim, Star City bei Moskau und Baikonur, der Ort des Raketenstarts, verströmen eine fast nostalgische Atmosphäre. Diese Geschichte lebt nicht zuletzt von ihren exzellenten Darstellerinnen: Die stets ausdrucksstarke Eva Green und die junge Zélie Boulant-Lemesle haben wunderbare Szenen, ohne in gefühligen Kitsch abzugleiten.

Überraschende Unprofessionalität?

Über eine Drehbuch-Idee am Ende (die hier nicht verraten wird) kann man herzlich diskutieren oder auch streiten: Da tut Sarah etwas, das man als Ausdruck tiefer Mutterliebe sehen kann – oder auch als einen Fall von überraschender Unprofessionalität und Fahrlässigkeit. Bedient der Film da selbst die meist männliche Klischeevorstellung von der allzu emotionalen Frau in der Berufswelt? Wie auch immer: Dieser Film bleibt noch lange bei einem, auch wenn die Rakete schon lange im Nachthimmel über Baikonur verschwunden ist.

„Proxima“ läuft am 10. Januar bei Arte.

„Offene Wunde deutscher Film“ von Dominik Graf und Johannes F. Sievert

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Wolfgang Petersen erinnert sich an  seine Produktion „Das Boot“. Foto: WDR

Blickt man nur höchst flüchtig auf das deutsche Nachkriegskino, kann sich dieser Eindruck einstellen: In den 1950ern und -60ern füllen Heimatschnulzen, Winnetou und Wallace die Filmtheater. Dann erklären langmähnige Jungfilmer „Opas Kino“ 1968 für tot und rufen den „Neuen Deutschen Film“ aus; fortan regiert der Autorenfilm, wenn auch manchmal in leeren Sälen.

So weit, so klischeehaft zugespitzt. Diesem Klischee wirken seit Jahren einige rührige Kinoforscher entgegen und werben für vergessene Perlen des deutschen Films und einen differenzierteren Blick auf das hiesige Kino: etwa die Herausgeber der Zeitschrift  „Sigi Götz Entertainment“ und nicht zuletzt Dominik Graf. Der Regisseur („Die geliebten Schwestern“), dessen „Tatorte“ und „Polizeirufe“ stets herausragen, schreibt über Kino und dreht auch immer wieder Filme zum Thema. 2016 legte er zusammen mit Johannes F. Sievert die Doku „Verfluchte Liebe deutscher Film“ über vergessene Perlen des deutschen Kinos vor. Morgen läuft deren Fortsetzung zum ersten Mal im Fernsehen: „Offene Wunde deutscher Film“ – eine Liebeserklärung an Querköpfe, die sich beherzt zwischen alle filmischen Stühle setzen, weder den reinen Kommerz noch das Arthaus-Kino bedienten und es entsprechend schwer hatten oder haben.

Interview mit Dominik Graf

Wolfgang Petersen, der erste Gesprächspartner im Film, fällt da  mit seiner US-Karriere zwar heraus; mit einigen anderen zu Wort kommenden Regisseuren verbindet ihn aber die Liebe zum US-Kino, über die man damals an der Filmhochschule besser nicht redete, erzählt er, sonst galt man als unpolitischer „Kuchenfilmer“; Klaus Lemke („Rocker“) etwa träumte ebenfalls nicht vom europäischen Kino, sondern „vom US-Jungensfilm“. Lemke (77) dreht bis heute, so wie der gleichaltrige Kollege Rudolf Thome – wenn auch meist ohne jede Filmförderung.

Von der fühlt sich auch Robert Sigl ignoriert – trotz des frühen Erfolgs mit dem stilvollen Gruselfilm „Laurin“ vor 29 Jahren müht er sich seit Jahren um Förderung und Finanzierung. Kollege Wolfgang Büld, der einst „Gib Gas, ich will Spaß“ mit Nena drehte, hatte es etwas besser – in London realisierte er einige blutig-erotisch Filme, „bis der DVD-Markt dann zusammenbrach“.

 

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Filmemacher Jürgen Goslar spricht über seine Zeit und Filme in Rhodesien, dem heutigen Simbabwe, und Südafrika. Foto: WDR

Interessante Einblicke in meist schwierige Karrieren sind das. Schade nur, dass der 90-MinutenFilm sich wenig Zeit gönnt: Vieles wird kurz angeschnitten, schon geht es weiter zum nächsten Film und Gesprächspartner. Die Musiker Klaus Doldinger, Eberhard Schoener und Irmin Schmidt von Can tauchen kurz auf, Filmjournalisten wie Olaf Möller und Rainer Knepperges – oft mit wenigen Sätzen. Mehr Zeit nimmt sich der Film immerhin bei Jürgen Goslar, einer festen Darsteller/Regie-Größe im „Kommissar“, bei „Der Alte“ und „Derrick“: Mitte der 1970er Jahre inszenierte er im damaligen Rhodesien zwei knallig-brutale, filmisch radikale  Abenteuerfilme – einen mit Horst Frank als schwarzem Albino.

In seiner Rastlosigkeit mag „Offene Wunde deutscher Film“ manchmal frustrieren – die enorme Materialfülle aber fasziniert, die  offensichtliche Liebe zum Thema ist ansteckend,  und man erhält viele Anregungen für den nächsten Heimkino-Abend.

 

Offene Wunde deuscher Film Wolfgang Petersen Dominik Graf Jürgen Goslar Robert Sigl Das Boot Arte WDR

Regisseur Nikolai Müllerschön spricht über seinen Gangsterfilm „Harms“ von 2011. Foto: WDR

Dunkle Schönheit: Das Album „The Vietnam War“ von Trent Reznor und Atticus Ross

Eine Zweitkarriere nebenbei kann man das nicht mehr nennen. Der Amerikaner Trent Reznor ist Kopf des Bandprojekts Nine Inch Nails und als solcher bekannt für harschen, knirschenden, beklemmenden Industrial-Rock. Doch er hat auch die Filmmusik für sich entdeckt. Mit dem britischen Kollegen Atticus Ross hat er 2010 die Musik zu David Finchers Facebook-Film „The social network“ geschrieben – mehrere Preise gewann ihre Arbeit, darunter einen Oscar. Auch David Finchers folgende Filme „Verblendung“ und „Gone Girl“ (2011 und 2014) untermalte das Duo kongenial.

Nun haben Reznor und Atticus an einer TV-Reihe gearbeitet, der zehnteiligen Kriegs-Dokumentation „The Vietnam War“ (kürzlich bei Arte zu sehen). Dabei gelingt dem Duo das Kunststück, eine Musik zu erschaffen, die die TV-Bilder atmosphärisch verstärkt, aber auch ohne diese eine enorme Wirkung entfacht, einen großen Sog. Auf Doppel-Albumlänge von 90 Minuten skizzieren sie sphärische Klanglandschaften, Rhythmen pulsieren sachte, Keyboards spielen karge Melodien in grauschwarzem Moll, dissonante Töne schleichen sich ein. In seltenen Momenten steigert sich die Musik zu albtraumhaften Eruptionen, um wieder abzuschwellen und in den melancholischen Fluss des Albums zurückzufinden. Keine Musik für den akustischen Hintergrund ist das, aber enervierend sind diese Klänge auch nicht, sondern  voll dunkler Schönheit.

Trent Reznor & Atticus Ross:
The Vietnam War (Universal Music).

So lebt es sich einfach schöner: Design auf DVD

Design

 

Ohne Design wäre das Leben weniger schön (oder noch hässlicher). Dieser Erkenntnis widmete der Sender Arte eine Reihe in zwölf Teilen, die als Doppel-DVD „Design 1 + 2“ (Absolut Medien) scheint. Die halbstündigen Episoden beleuchten herausragende Objekte des 20. Jahrhunderts, die in unserem kollektiven Gedächtnis einen Platz gefunden haben – und in unseren Garagen, Küchen, Schreibmäppchen und Abstellkammern. Dort zum Beispiel revolutionierte der Hoover-Staubsauger „One-Fifty“ die Ästhetik der Hausarbeit. Dank Schiebegestänge mit locker hängendem Säckchen war Staubsaugen selten eleganter. Die DS von Citroen machte das Autofahren, zuvor lediglich Transport von A nach B, zur sinnlichen Fortbewegung. Die mittlerweile ausgemusterte Concorde war nicht nur doppelt so schnell wie der Schall, sondern auch dreimal so schön wie die fliegende Konkurrenz.
Wer dieser flüchtigen Technik misstraute, konnte es in den 50er Jahren bodennäher und ruhiger angehen lassen: auf einem Ledersessel mit integriertem Fußbänkchen, der sich neudeutsch „Lounge Chair“ nannte.

 

Design

All diese Objekte beschreiben die Regisseure Anna-Celia Kendall, Danielle Schirman und Heinz Peter Schwerfel mit ironischem Schwung und launigen Exkursen in die Kulturgeschichte des Menschen. Dank der DVD wird man seine Wohnung mit anderen Augen sehen – und, je nach Interieur, entweder stolz auf sie sein oder sich eine neue Einrichtung kaufen wollen.

Erschienen bei AbsolutMedien, dort gibt es auch weitere Design-Epsoden.

 

 

Design

Fotos: AbsolutMedien

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