Über Film und dieses & jenes, von Tobias Keßler

Schlagwort: Arte

„Abteil Nr. 6“ von Juho Kuosmanen

Juho Kuosmanen Abteil Nr. 6

Laura (Seidi Haarla) am Fenster. Frische Luft ist in diesem Zug vonnöten. Foto: Eksystent

 

1500 Kilometer Reise mit der Bahn sind ja lange genug – aber sie drohen sich doppelt so lang anzufühlen, wenn man den Schlafwagen mit Ljoha teilen muss: Der junge, laute Russe mit dem kahlgeschorenen Kopf hat sich im Abteil schon mal breit gemacht, nuckelt abwechselnd an einer Schnapsflasche oder beißt in eine Dauerwurst. Für die Finnin Laura wird es eine lange Fahrt von Moskau nach Murmansk. Dort, nördlich des Polarkreises, will sich die Archäologiestudentin historische Felszeichnungen ansehen; der Minenarbeiter Ljoha will in Murmansk vor allem Geld verdienen. Doch erst einmal muss dieses ungleiche Duo die Reise im engen Abteil überstehen, ohne sich gegenseitig eine Wodkaflasche auf den Kopf zu schlagen (oder eine Dauerwurst).​

Zugegeben – es ist eine ziemlich stereotype Roadmovie-Konstruktion, die dem Film „Abteil Nr. 6“ zugrunde liegt: zwei wie Hund und Katz; auf einer Reise, bei der der Weg das Ziel ist. Und doch nimmt der zweite Langfilm des Finnen Juho Kuosmanen („Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“) mit und berührt. Da begegnen sich zwei verlorene Seelen, wobei Ljoha die weniger plastisch gezeichnete Figur bleibt. Im Zentrum steht Laura, deren zerbrechliche Lebenssituation zu Beginn in einer vieldeutigen Partyszene klar wird: Sie lebt in Moskau mit ihrer Freundin, die zu Lauras Abschied in Richtung Murmansk eine Feier gibt – mit Moskauer Hochschul-Intelligenzia, die beim Zitate-Raten Laura spüren lässt, dass sie nicht ganz dazu gehört. Der Film macht in kleinen Gesten und Momenten der Unbehaglichkeit spürbar, dass diesem Paar keine große Zukunft winkt. Eigentlich wollten beide zusammen nach Murmansk, doch die Freundin sagt ab – wegen zu viel Arbeit, wie sie versichert. Man darf seine Zweifel haben.​

Ljoha (Juri Borisow) und Laura (Seidi Haarla) in der Arktis. Foto: Eksystent

Ljoha (Juri Borisow) und Laura (Seidi Haarla) in der Arktis. Foto: Eksystent

Schon in diesen Momenten zieht die intime Inszenierung in den Bann, mit der beweglichen Kamera-Arbeit von Jani-Pettereri Passi, der den Figuren sehr nahe kommt. Sei es in der Moskauer Wohnung oder dann im Zug: Die Bilder machen die Enge körperlich spürbar, eine Kamerafahrt wirkt wie eine kleine Hommage an die Arbeit von Jost Vacano in „Das Boot“, wenn das Auge durch lange, übervölkerte Gänge streift, denen eines Unterseebootes nicht unähnlich. Da gelingt dem Film eine ungemein dichte Atmosphäre, man glaubt, den Dunst zu riechen. Aus Wodka, Zigarettenrauch, Essen und allzu lange nicht gewechselten Socken.​

„Jeder ist irgendwie einsam“​

Hier beginnt, nach einem ruppigen Beginn, eine zarte Annäherung zwischen dem prolligen Ljoha und der anfangs eingeschüchterten Laura, während nachts die Lichter der Städte am Fenster vorbeiflirren und die ersten Schneeflocken. Um Schranken geht es, die erstmal überwunden werden müssen: die von Sprache, Herkunft, Nationalität, Milieu und Bildung. Die Darsteller Seidi Haarla und Juri Borisow sind dabei famos, sie spielen feinnervig und lassen die Emotionen spürbar werden: Ljoha schwadroniert, hochprozentig benebelt, von der „Größe Russlands“ (der Film spielt in den späten 1990ern) und hält Laura erst einmal für eine Prostituierte, die in Murmansk „ihre Muschi miauen“ lassen will; zugleich kann er eine ziemlich zarte Person sein, auch wenn er im Artikulieren von Gefühlen offenkundig keine allzu große Erfahrung hat. Dazu passt seine stille Eifersucht, als kurzzeitig ein gitarrespielender Finne mit im Abteil sitzt; der zelebriert eine lässige Aussteiger-Attitüde, produziert Kalendersprüche wie „Jeder ist irgendwie einsam“ und erweist sich dann als gar nicht so sozial, wie er tut. Je länger diese Reise dauert, desto klarer wird Laura, dass ihr Moskauer Leben sie wenig glücklich gemacht hat. Sie und Ljoha sind Suchende – bloß wonach?​

„Abteil Nr. 6“ ist, wie Kuosmanens „Olli Mäki“, eine Ko-Produktion unter anderem mit dem Saarländischen Rundfunk, wurde in Cannes prämiert, erlebte aber einen holprigen Kinostart Ende März in Deutschland: Die Cinestar-Kette hatte den Film zu Beginn des Krieges in der Ukraine kurzfristig aus dem Programm genommen, weil Hauptdarsteller Juri Borisow Russe ist – der sich öffentlich gegen den Krieg wandte; schnell sprach das Unternehmen dann von einem „Missverständnis“ und nahm den Film bundesweit wieder ins Programm.

„Stars at Noon“ von Claire Denis

Der Film erzählt von der aufkeimenden Freundschaft –  vielleicht Liebe, vielleicht platonisch, vielleicht nicht – mit Humor, Gefühl und einiger Spannung. Doch nach der Ankunft in Murmansk verliert „Abteil Nr. 6“ etwas von seiner filmischen Kraft: Da wirkt er konstruierter als zuvor. Man rätselt über manche Handlung der Figuren, die zuvor schlüssiger wirkten; man spürt auch, dass die beiden Darsteller sich mühen müssen, um den Zuschauer weiter mitzunehmen. Doch ihnen gelingt es.​

„Offene Wunde deutscher Film“ von Dominik Graf und Johannes F. Sievert – am 14.2. bei Arte

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Wolfgang Petersen erinnert sich an  seine Produktion „Das Boot“. Foto: WDR

Blickt man nur höchst flüchtig auf das deutsche Nachkriegskino, kann sich dieser Eindruck einstellen: In den 1950ern und -60ern füllen Heimatschnulzen, Winnetou und Wallace die Filmtheater. Dann erklären langmähnige Jungfilmer „Opas Kino“ 1968 für tot und rufen den „Neuen Deutschen Film“ aus; fortan regiert der Autorenfilm, wenn auch manchmal in leeren Sälen.

So weit, so klischeehaft zugespitzt. Diesem Klischee wirken seit Jahren einige rührige Kinoforscher entgegen und werben für vergessene Perlen des deutschen Films und einen differenzierteren Blick auf das hiesige Kino: etwa die Herausgeber der Zeitschrift  „Sigi Götz Entertainment“ und nicht zuletzt Dominik Graf. Der Regisseur („Die geliebten Schwestern“), dessen „Tatorte“ und „Polizeirufe“ stets herausragen, schreibt über Kino und dreht auch immer wieder Filme zum Thema. 2016 legte er zusammen mit Johannes F. Sievert die Doku „Verfluchte Liebe deutscher Film“ über vergessene Perlen des deutschen Kinos vor. Morgen läuft deren Fortsetzung zum ersten Mal im Fernsehen: „Offene Wunde deutscher Film“ – eine Liebeserklärung an Querköpfe, die sich beherzt zwischen alle filmischen Stühle setzen, weder den reinen Kommerz noch das Arthaus-Kino bedienten und es entsprechend schwer hatten oder haben.

Interview mit Dominik Graf

Wolfgang Petersen, der erste Gesprächspartner im Film, fällt da  mit seiner US-Karriere zwar heraus; mit einigen anderen zu Wort kommenden Regisseuren verbindet ihn aber die Liebe zum US-Kino, über die man damals an der Filmhochschule besser nicht redete, erzählt er, sonst galt man als unpolitischer „Kuchenfilmer“; Klaus Lemke („Rocker“) etwa träumte ebenfalls nicht vom europäischen Kino, sondern „vom US-Jungensfilm“. Lemke (77) dreht bis heute, so wie der gleichaltrige Kollege Rudolf Thome – wenn auch meist ohne jede Filmförderung.

Von der fühlt sich auch Robert Sigl ignoriert – trotz des frühen Erfolgs mit dem stilvollen Gruselfilm „Laurin“ vor 29 Jahren müht er sich seit Jahren um Förderung und Finanzierung. Kollege Wolfgang Büld, der einst „Gib Gas, ich will Spaß“ mit Nena drehte, hatte es etwas besser – in London realisierte er einige blutig-erotisch Filme, „bis der DVD-Markt dann zusammenbrach“.

 

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Filmemacher Jürgen Goslar spricht über seine Zeit und Filme in Rhodesien, dem heutigen Simbabwe, und Südafrika. Foto: WDR

Interessante Einblicke in meist schwierige Karrieren sind das. Schade nur, dass der 90-MinutenFilm sich wenig Zeit gönnt: Vieles wird kurz angeschnitten, schon geht es weiter zum nächsten Film und Gesprächspartner. Die Musiker Klaus Doldinger, Eberhard Schoener und Irmin Schmidt von Can tauchen kurz auf, Filmjournalisten wie Olaf Möller und Rainer Knepperges – oft mit wenigen Sätzen. Mehr Zeit nimmt sich der Film immerhin bei Jürgen Goslar, einer festen Darsteller/Regie-Größe im „Kommissar“, bei „Der Alte“ und „Derrick“: Mitte der 1970er Jahre inszenierte er im damaligen Rhodesien zwei knallig-brutale, filmisch radikale  Abenteuerfilme – einen mit Horst Frank als schwarzem Albino.

In seiner Rastlosigkeit mag „Offene Wunde deutscher Film“ manchmal frustrieren – die enorme Materialfülle aber fasziniert, die  offensichtliche Liebe zum Thema ist ansteckend,  und man erhält viele Anregungen für den nächsten Heimkino-Abend.

Mittwoch, 14.2., ab 21.35 Uhr bei Arte.

 

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Regisseur Nikolai Müllerschön spricht über seinen Gangsterfilm „Harms“ von 2011. Foto: WDR

Dunkle Schönheit: Das Album „The Vietnam War“ von Trent Reznor und Atticus Ross

Eine Zweitkarriere nebenbei kann man das nicht mehr nennen. Der Amerikaner Trent Reznor ist Kopf des Bandprojekts Nine Inch Nails und als solcher bekannt für harschen, knirschenden, beklemmenden Industrial-Rock. Doch er hat auch die Filmmusik für sich entdeckt. Mit dem britischen Kollegen Atticus Ross hat er 2010 die Musik zu David Finchers Facebook-Film „The social network“ geschrieben – mehrere Preise gewann ihre Arbeit, darunter einen Oscar. Auch David Finchers folgende Filme „Verblendung“ und „Gone Girl“ (2011 und 2014) untermalte das Duo kongenial.

Nun haben Reznor und Atticus an einer TV-Reihe gearbeitet, der zehnteiligen Kriegs-Dokumentation „The Vietnam War“ (kürzlich bei Arte zu sehen). Dabei gelingt dem Duo das Kunststück, eine Musik zu erschaffen, die die TV-Bilder atmosphärisch verstärkt, aber auch ohne diese eine enorme Wirkung entfacht, einen großen Sog. Auf Doppel-Albumlänge von 90 Minuten skizzieren sie sphärische Klanglandschaften, Rhythmen pulsieren sachte, Keyboards spielen karge Melodien in grauschwarzem Moll, dissonante Töne schleichen sich ein. In seltenen Momenten steigert sich die Musik zu albtraumhaften Eruptionen, um wieder abzuschwellen und in den melancholischen Fluss des Albums zurückzufinden. Keine Musik für den akustischen Hintergrund ist das, aber enervierend sind diese Klänge auch nicht, sondern  voll dunkler Schönheit.

Trent Reznor & Atticus Ross:
The Vietnam War (Universal Music).

So lebt es sich einfach schöner: Design auf DVD

Design

 

Ohne Design wäre das Leben weniger schön (oder noch hässlicher). Dieser Erkenntnis widmete der Sender Arte eine Reihe in zwölf Teilen, die als Doppel-DVD „Design 1 + 2“ (Absolut Medien) scheint. Die halbstündigen Episoden beleuchten herausragende Objekte des 20. Jahrhunderts, die in unserem kollektiven Gedächtnis einen Platz gefunden haben – und in unseren Garagen, Küchen, Schreibmäppchen und Abstellkammern. Dort zum Beispiel revolutionierte der Hoover-Staubsauger „One-Fifty“ die Ästhetik der Hausarbeit. Dank Schiebegestänge mit locker hängendem Säckchen war Staubsaugen selten eleganter. Die DS von Citroen machte das Autofahren, zuvor lediglich Transport von A nach B, zur sinnlichen Fortbewegung. Die mittlerweile ausgemusterte Concorde war nicht nur doppelt so schnell wie der Schall, sondern auch dreimal so schön wie die fliegende Konkurrenz.
Wer dieser flüchtigen Technik misstraute, konnte es in den 50er Jahren bodennäher und ruhiger angehen lassen: auf einem Ledersessel mit integriertem Fußbänkchen, der sich neudeutsch „Lounge Chair“ nannte.

 

Design

All diese Objekte beschreiben die Regisseure Anna-Celia Kendall, Danielle Schirman und Heinz Peter Schwerfel mit ironischem Schwung und launigen Exkursen in die Kulturgeschichte des Menschen. Dank der DVD wird man seine Wohnung mit anderen Augen sehen – und, je nach Interieur, entweder stolz auf sie sein oder sich eine neue Einrichtung kaufen wollen.

Erschienen bei AbsolutMedien, dort gibt es auch weitere Design-Epsoden.

 

 

Design

Fotos: AbsolutMedien

Regisseur Jochen Alexander Freydank über „Der Bau“

kafkas der bau

Der Regisseur Jochen Freydank, aufgenommen am 21.01.2015 beim 36. Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken.
Foto: Oliver Dietze

„Den Film muss nicht jeder mögen. Aber ich musste ihn einfach machen“, sagt Jochen Alexander Freydank. „Der Bau“ ist ein schwerer Brocken – und ein Herzensprojekt für den Regisseur, Autor und Produzenten. Mit 16, 17 hatte er Kafkas Erzählung „Der Bau“ gelesen, die ihn nie los ließ, und die er lange in ein Drehbuch umzuformen versuchte. „Vor zehn Jahren hatte ich endlich eine Fassung, bei der ich glaubte, den Stoff geknackt zu haben.“ Aus dem dachsartigen Tier bei Kafka wird bei ihm ein Mensch, das Thema bleibt: Rückzug, Angst, Isolation.

Kein Stoff für eine Sommerkomödie – entsprechend mühselig war die Finanzierung, bei der Freydank auch sein Oscar von 2009 für den Kurzfilm „Spielzeugland“ nicht entscheidend weiterhalf. „Es ist eben ein ungewöhnliches Projekt – und mein Entschluss, viel von Kafkas Sprache mithineinzunehmen, hat die Sache nicht einfacher gemacht.“

Nach Jahren hatte Freydank, der 2010 den SR-Tatort „Heimatfront“ inszenierte, das Budget zusammen, nachdem zuletzt noch das Saarland als Unterstützer und der SR als Ko-Produzent mit einstiegen. Um die 750 000 Euro hat der Film nun gekostet. „Ein Fernsehspiel kostet das Doppelte“, sagt Freydank, der hier gegen die klassische Kino-Regel verstieß, nie das eigene Geld zu investieren: In die letzte Lücke hat er „sein Erspartes rinjesteckt“, sagt der Berliner. „Darum habe ich mich nicht gerissen, aber jetzt denke ich nicht mehr darüber nach – es musste sein.“

Vor genau vier Jahren begannen die Dreharbeiten auf dem Gelände der Industriekultur Saar in Göttelborn, wo der Film fast vollständig entstand, abgesehen von einem Tag in Luxemburg und einem Ausflug in die Völklinger Hütte. „Irre kalt war es“, sagt Freydank, „es gab keinen Moment mit Sonnenschein“. Erfreulicher war die Logistik: „Im Umkreis von einem Kilometer hatten wir 20 Drehorte, zum Teil natürlich, zum Teil gebaut. Normalerweise geht ein Drittel der Drehzeit ja für den Umzug von Ort A nach B drauf – da haben wir viel Zeit gespart.“

Die Hauptrolle des Films spielt Axel Prahl, der jene überraschen wird, die ihn vor allem aus dem Münsteraner „Tatort“ kennen – man begleitet Prahl, in jeder Einstellung zu sehen, beim Abgleiten in die Paranoia, beim Zusammenbruch, beim Mord. „Er spielt ja sonst anderes, aber ich wusste, dass er das kann“, sagt Freydank, „er hat schnell zugesagt, meinte aber selbst , dass das ein harter Brocken ist, Kafkas Sprache ist ja nicht ohne“. Auch Josef Hader als Hausmeister war schnell dabei – solche Zusagen seien Glücksmomente gewesen in einer Planungsphase mit „dunklen Momenten, auch wenn ich jetzt keine Sekunde bereue“.

1.2.,  23.35 Uhr, Arte.

 

kafkas der bau

Franz (Axel Prahl) in seinem Bau. © Mephisto Film/Manuela Meyer/Foto: SR

„The Immigrant“ von James Gray – TV-Premiere am 14. 12. bei Arte

Immigrant james Gray Marion Cotillard

James Grays Film „The Immigrant“ hätte die Kinoleinwand verdient gehabt – in Deutschland erschien der Film direkt auf DVD, jetzt erlebt er seine TV-Premiere. Er erzählt vom Leidensweg einer jungen Polin, die im New York des Jahres 1921 zu überleben versucht.

Ein trügerisches Bild des Willkommens: Die Freiheitsstatue ragt in den Himmel, aber sie wirkt im Nebel nur schemenhaft – und ist auch noch von hinten zu sehen. Der amerikanische Traum scheint in Sichtweite und dennoch weit entfernt im ersten Moment des Films „The Immigrant“. Die junge Polin Ewa (Marion Cotillard) kommt 1921 in New York an, auf der Suche nach einem besseren Leben. Doch ihre mitreisende Schwester wird wegen Verdachts auf Lungenentzündung gleich in Quarantäne behalten, man droht ihr, sie zurückzuschicken – auch Ewa, denn der Einwanderungsbehörde kommen Gerüchte zu Ohren, sie habe sich auf der Überfahrt von Europa als Frau „von niederer Moral“ erwiesen. Vor der Abschiebung bewahrt sie nur der mysteriöse Bruno Weiss (Joaquin Phoenix), der seine Kontakte spielen lässt, Bestechungsgeld zahlt und Ewa von der Hafeninsel Ellis Island mit in die Stadt nimmt. Der scheinbare Menschenfreund hat ganz andere Motive – dass er für ein Theater attraktive Tänzerinnen anwirbt, ist nur die halbe Wahrheit.

Der amerikanische Regisseur und Autor James Gray, Jahrgang 1969, ist so etwas wie ein Heimatfilmer: Seine Werke „Little Odessa“ (1994), „The Yards – Im Hinterhof der Macht“ (2000) und „Helden der Nacht“ (2007) erzählen von Familienstrukturen, von Polizei und Gewerkschaften, aber immer auch von Grays Geburtsstadt New York, vom Leben dort und der (meist düsteren) Atmosphäre. Gray, dessen Großeltern aus der Ukraine stammen, schildert nun die Geschichte einer schwierigen Heimatsuche und konzentriert sich dabei ganz auf die Hauptfigur. Man erlebt New York durch Ewas Augen: als Labyrinth schäbiger Hinterhöfe, beengter Wohnungen und karger Behördenzimmer. Kameramann Darius Khondji („Sieben“, „Amour“) findet atmosphärische Bilder, zart getönt in Sepiabraun, aber ohne nostalgische Färbung – das 1921 des Film ist auch bildlich im Hier und Jetzt verankert.
New York ist hier eine Welt der strengen Teilung zwischen Haben und Nichthaben – und es ist eine Männerwelt, in der Ewa nur ihren Körper als Währung einsetzen kann. Bruno macht sie zur Prostituierten, und Ewa wehrt sich nicht, weil sie für sich und vor allem ihre Schwester zu allem bereit ist. Gray macht daraus kein Rührstück – er zeigt einfach, wie sich eine Person einer katastrophalen Situation stellt und dabei enorme Stärke beweist. Die Figuren sind vielschichtig: Marion Cotillard spielt Ewa anrührend, zelebriert aber keine Leidens-Leistungsschau. Joaquin Phoenix spielt einen Zuhälter, der sich langsam in Ewa verliebt, vor allem wohl in ihre Integrität, die ihm so fern ist – am Ende scheint Bruno in Selbsthass zu köcheln. Ein Varieté-Magier (Jeremy Renner) scheint eine Ausflucht aus Ewas Misere zu sein, aber der Film macht es sich nicht so simpel, einfach einen besseren Mann als Rettung anzubieten.

Mittwoch, 14.12., 20.15 Uhr, Arte.
Auf DVD ist der Film bei Universum erschienen.
Die Fotos stammen von Arte France/Wildside.

 

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