Gerrad Dépardieu als Bürgermeister von Marseille. Fotos: Polyband Marseille mit Gérard Depardieu

Gérard Dépardieu als Bürgermeister von Marseille. Fotos: Koskas/Netflix/Polyband

Marseille scheint ein Dorf zu sein – zumindest in dieser französischen Serie. Nun sind ja nicht wenige Film- und Seriendrehbücher dramaturgisch förmlich am Reißbrett konstruiert. Aber man sollte es ihnen nicht anmerken. Aber in „Marseille“ kommt es filmisch dann mitunter knüppeldick. In einer Szene werden beispielhaft alle losen Drehbuchfäden miteinander verknüpft, dass die Episode filmisch fast stolpert. Also:  Da kauft ein Mann in einer Kneipe eine ordentliche Portion Koks – so weit nichts gänzlich Ungewöhnliches. Der Käufer aber ist der Chauffeur/Berater des Marseiller Bürgermeisters (Gérard Depardieu), der gerade unter anderem mit der Mafia im Clinch liegt, da er ein Casino mit legalem Glücksspiel am Hafen plant. Der Verkäufer des Kokains ist im Nebenberuf allerdings auch Handlanger eben jener  Mafiosi, die wiederum mit des Bürgermeisters politischem Ziehsohns (Benoit Magimel) unter einer Decke stecken, der gerade den politischen Tod des Mentors plant. Der Handlanger des Dealers, der bei dem Drogenkauf dabei ist, ist  wiederum ein alter Kindheitsfreund der Bürgermeistertochter (und in sie, auch das noch,  unglücklich verliebt). Deren beste Freundin wiederum arbeitet im Wahlkampfbüro des Bürgermeister-Gegenspielers, der unter anderem den homosexuellen Chef der örtlichen Zeitung umgarnt, wo wiederum die Bürgermeistertochter arbeitet, aber unter falschem Namen, damit ihre Identität nicht bekannt wird.

Mies geschrieben, dennoch sehenswert

Also viel „wiederum“, „zugleich“, viele dramaturgisch bequeme Zufälle: „Marseille“, die erste französische Eigenproduktion des Streaming-Anbieters Netflix,  ist zweifelsohne eine mies geschriebene Serie. Zumal sie zwei ziemlich dümmlich-naiv-erotisierte Frauenrollen aufbietet und noch ein paar familiäre Verwicklungen bereit hält, die hier nicht verraten werden sollen und die sich ein Drehbuchautor erstmal trauen muss.

 

Gerrad Dépardieu, Marseille. Fotos: Polyband Marseille mit Gérard Depardieu

Der politische Ziehsohn und große Gegenspieler (Benoit Magimel).

Nur – warum ist es trotzdem ein ziemlich großer Spaß, sich die Serie anzusehen (auch wenn man sich für den Spaß etwas schämt?) Von dem französischen und ungleich raffinierteren Serien-Konkurrenten „Baron Noir“ (kürzlich hier vorgestellt) oder „House of Cards“ ist „Marseille“ meilenweit entfernt; die Reihe liegt viel näher an „Dallas“, der klassischen  Seifenoper der 80er Jahre, einem wohlig überschaubaren, aber auch etwas miefigen  Intrigantenstadl. Der große Reiz von „Marseille“ ist, nicht ganz überraschend, sein Hauptdarsteller: Gérard Depardieu, der gallische Wuchtbrummer, räumt mit seiner Präsenz alle Drehbuchhindernisse aus dem Weg, Klischees walzt er wie eine schnaufende Lokomotive platt und erschafft auf deren Trümmern, eine plastische, tragisch anmutende Figur. Ein Engel im Polit-Betrieb ist er nicht (wie könnte er das sein, nach 20 Jahren  als Bürgermeister?), aber an alten Überzeugungen hält er ebenso fest wie an der Zuneigung zum Arbeitsplatz („Verdammt, wie ich diese Stadt liebe“). Dennoch ist er nicht ganz unschuldig daran, dass sein politischer Ziehsohn ihn abservieren will – hatte der Bürgermeister doch geplant, auch aus der Rente heraus über ihn, seinen geplanten Nachfolger, mit- und weiter zu regieren. Den Gegenspieler, sozusagen den „J.R.“ („Dallas“-Kucker erinnern sich) spielt Benoit Magimel und zeigt sich Depardieu aufAugenhöhe. Magimel ist von seinen Zusammenarbeiten mit Michael Haneke („Die Klavierspielerin“) oder Claude Chabrol („Die Blume des Bösen“) bessere Drehbücher gewohnt, aber er wirft sich mit Schwung in die Rolle eines Mannes, der sich  höchst konsequent der Machtmechanik widmet, Sex ingebriffen (bevorzugt auf betont unromantische Weise). Und doch treibt auch ihn die Zuneigung zur Stadt an, die der amtierende Bürgermeister in seinen Augen „nicht mehr versteht, er ist zu alt“. Dass er seinen großen Mentor politisch absägen will, ist für ihn nur logisch: „Es ist Vatermord – das ist ganz normal“.

Erschienen bei Polyband, 326 Minuten.
Die zweite Staffel ist in Vorbereitung.

http://www.polyband.de

 

Marseille mit Gérard Depardieu Benoit Magimel