Film und dieses & jenes

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„Evil does not exist“ von Ryusuke Hamaguchi

Eine Szene aus dem Film "Evil does not exist": Vater Takumi (Hitoshi Omika) und Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur, die ihr Dorf umschließt. Foto: Pandora Film

Vater Takumi (Hitoshi Omika) und Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur, die ihr Dorf umschließt. Foto: Pandora Film

Beginnen wir mit dem Ende. Das wird überraschen, verstören, vielleicht ratlos zurücklassen. Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi ist eben kein Mann eines formelhaften oder überraschungsarmen Kinos. Sein oscarprämierter Vorgängerfilm „Drive my Car“ war ein dialogreiches Drama, in dem er seinen Figuren auf den Grund ging und sich dafür drei Stunden Kino-Zeit nahm, die einem nicht zu lange erschienen.​ „Evil does not exist“ nun zieht einen sogartig sofort hinein, mit einer Fahrt der Kamera, die Baumwipfel von unten zeigt, so als schaue man beim Wandern unentwegt nach oben – oder als werde man auf dem Rücken liegend durch den Wald getragen, auf einer Bahre vielleicht, oder in einem offenen Sarg. Knapp vier Minuten ohne Schnitt und mit konstanter Unten-nach-oben-Perspektive zeigt der Film die Natur, begleitet von einer Streichermusik, die so schön wie melancholisch ist. so zart wie kraftvoll. Hier am Waldrand leben Takumi und seine Tochter Hana, sie sind Teil der Gemeinschaft des Dorfes Mizubiki – nicht allzu weit entfernt von Tokio, aber doch wie in einer anderen Welt.​

Quellwasser für den Nudelteig​

Das Leben hier ist ruhig und steht im Einklang mit der Natur, so gut es eben geht, wenn Menschen im Spiel sind. Takumi, der sich selbst als „Handlanger“ bezeichnet, schöpft reinstes Quellwasser in einen Kanister – das Lokal des Dorfs nutzt es für den Nudelteig – und pflückt dafür auch wilden Wasabi. Am Nachmittag holt er seine Tochter von der Schule ab; wenn er zu spät kommt, was öfter passiert, wandert sie durch den Wald nach Hause. Die beiden sind, das darf man annehmen, glücklich mit diesem Alltag, diesem Gleichlauf der Dinge.​ Doch der droht aus dem Rhythmus zu kommen: Eine Firma in Tokio plant hier ein „Glamping“-Gebiet, einen luxuriösen Campingplatz. Das Dorf ist beunruhigt – bisher ist man ohne erholungsbedürftige Städter sehr gut ausgekommen; die Auswirkungen auf die Natur sind nicht absehbar – und die Informationen der „Glamping“-Planer weder völlig glaubhaft noch detailliert durchdacht.​

 

Mit „Drive my car“ gewann er 2022 einen Oscar: der japanische Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi (45).

Mit „Drive my car“ gewann er 2022 einen Oscar: der japanische Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi (45). Foto: Pandora

Regisseur/Autor Hamaguchi lässt hier, vereinfacht gesagt, Großstadt auf Dorf prallen, urbane Hektik auf ländliche Ruhe, ungebremsten Kapitalismus auf gebremstes Interesse an Kapital. Nur: „Evil does not exist“ ist dabei weder simple Öko-Parabel noch schlichte Kapititalismus-Kritik. Das Böse an sich gibt es nicht, sagt uns der Filmtitel (sofern man ihm glauben mag); wobei das „not“ im Vorspann mit knalligem Rot betont wird. Was aber nicht bedeutet, dass niemand etwas Böses tut, je nach den Umständen.​

Die beiden „Glamping“-Abgesandten aus Tokio sind keine Unmenschen, sondern einfach kleine Rädchen im großen Prozess. In der zentralen Szene, als die beiden ihr Projekt vorstellen, werden sie von den Bewohnern verbal auseinandergenommen – jede Frage, ob nach dem Standort des Klärtanks oder den Arbeitszeiten des Campingplatzwächters, trifft ins Schwarze. Die Firma hat allzu hektisch geplant, drängt doch die Zeit, da sie noch ein paar Corona-Zuschüsse abgreifen will. Es ist ein filmisches Kabinettstück, wie hier eine scheinbar schlichte Sequenz in einem mausgrauen Gemeindehäuschen, wo (meist) in aller Ruhe unter anderem über Kläranlagen diskutiert wird, zu einer enorm aufregenden, viertelstündigen Szene wird; jedes Wort, jeder Blick zählt.​

Toilettenputzen in Tokio: „Perfect Days“ von Wim Wenders 

Auf Anweisung des „Glamping“-Chefs in Tokio versuchen die Gesandten, den „Handlanger“ Takumi sozusagen mit ins Boot zu nehmen und bieten ihm eine Stelle am Campingplatz an. Doch die Situation ändert sich schlagartig und führt zu jenem Ende, über das man lange grübeln kann. Ob man dieses nun für gelungen hält oder nicht: „Evil does not exist“ ist ein herausragender Film, der bei aller Betrachtung der Natur keiner Öko-Romantik verfällt – anders als ein „Glamping“-Abgesandter, für den in einer tragikomischen Szene der kurze Akt des Holzhackens zu einem Erweckungserlebnis wird: Fortan will er sein Leben abseits der Großstadt in der Natur verbringen.​

„Ein Werk darf auch verschwinden“

Entstanden ist der Film ungewöhnlich: Hamaguchi hatte ursprünglich geplant, nur Naturszenen als Bebilderung für eine Performance der Komponisten Eiko Ishibashi aufzunehmen. Das Projekt wuchs, er schrieb ein Drehbuch – das Ergebnis waren dann die Performance-Unterlegung „Gift“ und der Spielfilm „Evil does not exist“. Ishibashis Musik ist im Film nicht oft eingesetzt, aber wenn, dann mit Wucht, nicht als Bild-Illustrierung, sondern eher als tragisch umflorter Kommentar, vielleicht als Verkörperung der Natur selbst? Beim Anfang des Films jedenfalls reißt sie schlagartig ab — sobald ein Mensch ins Bild kommt.​

„Evil does not exist“ läuft im Saarbrücker Filmhaus, außerdem Sonntag, 12.5., 19 Uhr in der Kinowerkstatt St. Ingbert.
Hamaguchis Film „Drive my car“ ist zurzeit in der Mediathek von Arte zu sehen.

„Perfect days“ von Wim Wenders

Szene aus "Perfect days" von Wim Wenders
Hirayama (Koji Yakusho) bei der Arbeit.​ Foto: Master Mind Ltd.

 

Aufstehen. Bettdecke falten. Zähne putzen. Den Schnurrbart trimmen. Die Pflanzen gießen. Dann raus aus dem Haus, in der Morgendämmerung, und los an den Arbeitsplatz: Tokios öffentliche Toiletten. Die putzt Hirayama, ein Mann mittleren Alters, gewissenhaft, gründlich und sogar mit einem kleinen Spiegel, der ihn in sonst verborgene Ecken der sanitären Keramik blicken lässt. Stolz auf seinen Professionalismus ist dem wortkargen, aber freundlichen Mann anzumerken. Nach der Schicht geht es zu einem Schnell-Imbiss, wo er Stammkunde ist, dem man bestellungslos ein Getränk reicht; danach geht Hirayama ins Badehaus, danach meistens nach Hause – zum Lesen und Schlafen, bis der nächste Tag und die nächste Schicht anbrechen.​

Hommage an Ozu​

Muss Routine öde sein, muss der Gleichlauf der Dinge in Langeweile münden? Oder offenbart sich gerade da die Einzigartigkeit im Kleinen, im Detail? Darum geht es, im Groben, in „Perfect Days“, dem jüngsten Film von Wim Wenders; der 78-Jährige ist ein großer Anhänger der japanischer Kultur, Tokios und des Meisterregisseurs Ozu (1903-1963, „Sommerblüten“, „Abschied in der Dämmerung“), einem sensiblen Beobachter der japanischen Gesellschaft.​

Interview mit Kameramann Jost Vacano

Wenders‘ ruhiger, melancholischer Film zeigt die Tagesabläufe Hirayamas; für den ersten nimmt er sich eine halbe Stunde Zeit, wir begleiten den Mann in dem Overall mit dem Slogan „The Tokyo Toilet“ quer durch die Stadt, zu Toiletten, die mal mit Holz gestaltet sind, mal wie kleine Pilze aussehen, mal wie ein kunstvolles Rondell. In der Mittagspause sitzt er mit einer Kamera der Vor-Digital-Ära im Park und fotografiert das Blätterwerk der im Wind rauschenden Bäume und ihr Schattenspiel; für dieses gibt es ein spezielles japanisches Wort, das am Ende des Abspanns erklärt wird – man sollte also ruhig bis dahin im Kino verweilen.​

Der Film war anders geplant​

„Perfect days“ kam ungewöhnlich zustande: 2022 erhielt Wenders eine Anfrage aus Japan, ob er nicht etwas Künstlerisches gestalten wolle über ein Dutzend öffentlicher Toiletten in Tokio – allesamt entworfen von renommierten Architekten. Keine schnöden Buden der Notdurft also, sondern eher Toilettentempel. Wenders flog nach Japan, schaute sich die kleinen Gebäude an und fasste den Plan, statt mehrerer Kurzdokus einen Spielfilm zu drehen, der mit den Gebäuden zusammenhängt. Mit dem japanischen Autor Takuma Takasaki, der ihn für das Projekt nach Tokio eingeladen hatte, schrieb er ein Drehbuch und engagierte den japanischen Schauspieler Koji Yakusho, bei uns bekannt durch Filme wie „Shall we dance?“ und „Babel“. 16 Drehtage hatte er für „Perfect Days“, aufgenommen in einem ungewöhnlichen Bildformat: im altmodischen, fast quadratischen Verhältnis 1:1,33 – als wolle das Bild die Reduktion der Außenwelt wiedergeben, zu der Hirayama sich entschlossen hat.​

Interview mit Andreas Pflüger

So analog wie Hirayamas Kamera ist auch seine Unterhaltungstechnik: Er kauft gebrauchte Taschenbücher (unter anderem von William Faulkner) und hat im Regal allerlei alte Musikcassetten, was dem Film seinen Soundtrack mitliefert, bei dem Wenders vielleicht ein paar eigene Vorlieben untergebracht hat: „Redondo Beach“ etwa von Patti Smith, („Sittin‘ on) the dock of the bay“ von Otis Redding und „Perfect day“, nahe am Filmtitel, von Lou Reed. „The house of the rising sun“ von den Animals hört man zweimal – einmal von Cassetten-Konserve, einmal japanisch live gesungen von der Leiterin eines Restaurants, in dem Hirayama gerne einkehrt, nicht zuletzt der Dame wegen, wie man vermuten kann.​

Analog contra digital​

Beim Einsatz der Musik wirkt der Film manchmal allerdings etwas bemüht und vordergründig, wenn etwa „Sunny afternoon“ der Kinks einen gemütlichen sonnigen Nachmittag untermalt. Auch der Kontrast zwischen alter analoger und digitaler, etwas flüchtiger Welt (ein junger Kollege etwa putzt wenig gründlich, weil er nur Augen für sein Handy hat), wirkt etwas altväterlich.​

Insgesamt aber berührt dieser Film, in dem der scheinbare Gleichlauf dann doch regelmäßig unterbrochen wird und man mehr über Hirayama erfährt – unter anderem der Besuch einer Nichte und deren Mutter legt nahe, dass Hirayamas Rückzug ins Private und das Alleinesein seine Gründe hatte.​

Naives „Weniger ist mehr“ aus Wohlstandsperspektive?

Romantisiert der Film nun die Arbeit des Toilettenputzens, zumal er uns Details erspart und die Sanitäranlagen schon vor der Reinigung sympathisch sauber aussehen? Glorifiziert er materielle Armut zum Sinnspruch „Weniger ist mehr“, der nur dann vielleicht wohlig wirkt, wenn man selbst im Wohlstand lebt? Das nun nicht, aber man sollte keinesfalls eine dokumentarische Darstellung von Arbeit oder Arbeitszusammenhängen erwarten. Diese interessiert den Film nicht. Er will eine bittersüße, herzwärmende Fantasie erzählen über die einzigartigen Momente im Leben, die sich ebenso beim Rauschen von Blättern einstellen können wie beim Rauschen einer Toilettenspülung. Glück zu empfinden, oder eben nicht, ist manchmal Einstellungssache.​

Sandra Hüller im Interview: „Ich versuche, Kritiken nicht zu lesen“

Sandra Hüller in "Anatomie eines Falls"

Sandra Hüller in einer Szene des Films „Anatomie eines Falls“.                                                                 Foto: LesFilmsPelleas/LesFilmsDePierre

 

Sandra Hüller war für einen Oscar und hat – unter anderem – einen César für „Anatomie eines Falls“ gewonnen. Grund genug, ein Interview zu posten, das im Januar 2023 entstand, als Hüller Ehrengast des Filmfestivals Max Ophüls-Preis war.

Schauen Sie sich Filme, in denen Sie mitspielen, später nochmal an?

HÜLLER Manchmal, wenn ein Film im Fernsehen läuft und ich hängenbleibe, schaue ich noch ein bisschen rein – aber gezielt würde ich das nicht tun.

Haben Filmkritiken Auswirkung auf Ihre Arbeit?

HÜLLER Ich versuche, Kritiken nicht zu lesen, es sei denn, jemand rät mir, das bei einem bestimmten Text unbedingt zu tun. Generell interessiert mich eine Kritik mehr, wenn ich weiß, dass meine Arbeit danebengegangen ist – einfach um zu erfahren, was ich verpasst habe, was ich am Drehbuch vielleicht falsch verstanden habe oder an der Regie oder an der Figur. Bei einer Arbeit, bei der ich das Gefühl habe, dass ich das transportiert habe, was ich transportieren wollte, brauche ich dafür keine Bestätigung – aber ich freue mich natürlich, wenn es den Leuten gefällt und gut darüber geschrieben wird.

„Toni Erdmann“ wurde 2016 zum Phänomen. Der Film lief in Cannes, gewann unter anderem den Europäischen Filmpreis, wurde für den Oscar nominiert und auch ein Hit in den deutschen Kinos. Konnte man so etwas ahnen?

HÜLLER Nein, beim Dreh war uns das überhaupt nicht klar. Wir wussten zwar, dass wir eine ungewöhnliche Arbeit machen, und ich kannte die vorigen Filme von Maren Ade, die in kein gängiges Schema passen. Aber was der Film auslösen würde – ehrlicherweise auch bei mir – war uns nicht klar. Erst als ich den Film gesehen habe, wurde mir auch bewusst, welche Reise meine Figur gemacht hat.

Interview über Loriot

Hat sich dieser unerwartete Erfolg irgendwann surreal angefühlt?

HÜLLER Das nun nicht, es ist einfach schön, wenn sich harte Arbeit lohnt. Und durch den Film waren wir viel unterwegs, haben viel erlebt und konnten viele Menschen treffen. Das war ein großes Geschenk für mich – und auch ein großer Rausch. Ich habe etwas Zeit gebraucht, wieder in der anderen Realität anzukommen – es gibt ja mehrere.

Ihre Karriere ist sehr reichhaltig, Sie drehen nationale und internationale Kinofilme, spielen Theater. Wie sehr kann man das planen und eine Karriere steuern?

HÜLLER Ich bin eine unglaublich schlechte Strategin, das merke ich auch zuhause bei Strategiespielen, das funktioniert nicht. Ich kann mir nur vornehmen, mich selbst nicht anzulügen, nicht falschen Anreizen hinterherzurennen und nur das zu tun, was mich interessiert. Oder ich probiere etwas aus, was ich noch nicht gemacht habe, auch wenn es mich nicht unbedingt berührt – einfach damit der Körper und das Gehirn in Bewegung bleiben.

Erklärt das auch, dass Sie neben Hauptrollen gerne auch Nebenrollen spielen?

HÜLLER Es gibt Phasen, da spiele ich Hauptrollen, da brauche ich das – auch finanziell, ehrlich gesagt. Und dann gibt es Zeiten, wo ich mehr zuhause sein möchte, weil ich das Gefühl habe, gefehlt zu haben, und mehr präsent sein möchte. Dann sind das kleinere oder kürzere Sachen, oder Arbeiten näher am Wohnort – das ist sehr unterschiedlich.

Kritik zu „Die Theorie von allem“

Im Film „Alle reden übers Wetter“ haben Sie überraschend einen winzigen Auftritt – wie kam es dazu?

HÜLLER Die Regisseurin Annika Pinske kenne ich schon seit zwölf, 13 Jahren, wir waren Nachbarinnen in Berlin. Da war klar, dass ich bei ihrem Debüt mitspiele, auch wenn sie mich nicht groß besetzt. Das war eine abgemachte Sache, ein Drehtag, der Spaß gemacht hat.

Ist es auch erleichternd, dass man den Film nicht tragen muss?

HÜLLER Das schon – die anderen haben wahnsinnig viel zu tun, und man selbst schaut mal kurz vorbei. Andererseits genieße ich es schon sehr, wenn ich über einen längeren Zeitraum die ganzen Bewegungen der Geschichte mitspüren und mitgestalten darf. Das hat alles Vor- und Nachteile.

Nach „Toni Erdmann“ haben Sie „Fack ju Göthe 3“ gedreht – vom Arthouse-Kino zu einem Mainstream-Jux. Eine ziemliche Überraschung.

HÜLLER Für mich war das ein wichtiger Ausflug in ein anderes Genre, weil ich wissen wollte, wie das funktioniert. Man kann über solche Filme ja alles Mögliche denken – aber wenn man noch nie da war, weiß man nicht, ob man das kann, ob es Spaß macht und ob es vielleicht sogar ein Karriereweg wäre. Das war kurz nach „Toni Erdmann“, wo ich mir nicht sicher war, wie es jetzt weiter geht. Und wenn ich das nicht weiß, dann mache ich eben verschiedene Dinge, bis ich es wieder weiß. Das ist bei mir ein ganz normaler Weg.

Und wie ist Ihr Fazit?

HÜLLER Man soll niemals nie sagen, aber ich glaube nicht, dass mein Daueraufenthalt in diesem Genre sein wird. Ich habe gemerkt, dass ich das wirklich nicht gut kann. Ich war sehr befangen. Solche Filme schaue ich gerne, aber ich kann es leider nicht gut.

Was schauen Sie sich im Kino an – vor allem Arthouse-Filme?

HÜLLER Nein, ich schaue das, was in Kritiken interessant beschrieben wird. Ich war in letzter Zeit sehr oft im Kino, auch weil ich will, dass es die Kinos weiter gibt. Es wird viel über deren Probleme gesprochen und geschrieben, es gibt eine Kampagne mit dem passenden Titel „Das Kino braucht nicht Dich – Du brauchst das Kino“. Wir brauchen solche Orte, an denen wir in Ruhe Filme sehen und über sie nachdenken können – oder zumindest auch einmal entfliehen für eine Weile. Im Kino ist es anders als vor dem Fernseher auf der Couch, wo man dran denkt, dass man gleich noch die Wäsche zusammenlegen muss. In diesem dunklen Ort Kino wird man in die Geschichte hineingezogen.

Sie lesen auch viele Hörbücher ein – ist das auch eine Chance, mehr Kontrolle zu haben als Teil eines Films oder einer Inszenierung mit vielen anderen Menschen zusammen?

HÜLLER Darum geht es mir weniger, ich mag vor allem den Rausch, der bei dieser Arbeit entsteht. Das lange Lesen macht etwas ganz Besonderes mit dem Gehirn, ich mag es sehr, in die Geschichte tief einzutauchen. Einem Text so absolut zu dienen, macht großen Spaß. Und ich bin eine schnelle Hörbuch-Einleserin.

Interview mit Schriftsteller Thomas Hettche 

Sie nehmen auch Musik auf  – wie kam es dazu?

HÜLLER Musik war bei mir immer da. Ich hatte einen Kassettenrecorder, mit dem ich nachts Musik vom Radio aufgenommen habe. Ich habe gewartet und gehofft, dass der Moderator nicht reinquatscht, habe Mixtapes zusammengestellt – das haben wir ja alle getan. Als Musik noch nicht so frei verfügbar war wie heute, habe ich viel Zeit in großen Drogerieketten mit Musikabteilungen verbracht und neue CDs durchgehört, die in Zeitschriften empfohlen wurden. Ich finde Musik als Ausdrucksform wunderbar, ich lerne auch gerade Klavierspielen, um mehr über die Entstehung von Musik zu lernen – damit das Ganze nicht nur intuitiv bleibt.

Wie haben Sie die Corona-Zeit erlebt und überstanden?

HÜLLER Erstmal hatte ich das Glück, dass ich mich finanziell über Wasser halten konnte. Ich habe es genossen, im Lockdown mit der Familie zusammen zu sein. Zuhause gab es klare Strukturen, Stundenpläne, die den Tag gliedern, damit man nicht abstürzt in ein Nichtstun, in eine Bedeutungslosigkeit. Aber die Erschöpfung, die das alles mit sich gebracht hat, die habe ich erst gespürt, als alles wieder halbwegs normal lief. Da habe ich erst gemerkt, wie viel einem das abverlangt hat, dem Kind gegenüber den Kopf oben zu halten und Mut zu machen, optimistisch zu bleiben. Es gab viele Schulausfälle, es gab viel Ungewissheit und viele Ängste, denen man begegnen musste. Es tut dann gut, einfach Vertrauen zu haben, dass es wieder besser wird – und das hat ganz gut funktioniert.

„Lunana“: Das Glück liegt auf dem Berg

Lunana

Kelden Lhamo Gurung als Hirtin und Sängerin Sandon. Foto: Kairos

 

Auch das noch: Als wäre es nicht schlimm genug für den jungen Ugyen (Sherab Dorji), dass der Beruf als Lehrer ihn herzlich langweilt, wird er nun versetzt. Genauer: strafversetzt. Noch lebt er in Thimphu, der Hauptstadt Bhutans, bei seiner Großmutter und träumt nach Schulschluss (und wohl auch davor) von einer Sängerkarriere – doch nun soll er ein Jahr lang an der abgelegendsten Schule des Landes unterrichten. Lunana heißt das Dorf in der Bergwelt des Himalaya, hat keine 60 Einwanderer, keinen Strom, kein Internet. Kein Interesse hat Ugyen, aber er fügt sich und macht sich auf die Reise. Was er im Dorf erlebt, wird ihn verändern.

Still und leise

Filme aus Bhutan, dem buddhistischen Königreich, das an Indien und China grenzt, sieht man so gut wie nie in unseren Kinos. Das Saarbrücker Achteinhalb zeigt nun „Lunana“, der für den diesjährigen Oscar als bester internationaler Film nominiert ist und mit seiner leisen, stillen Art sehr ans Herz geht. Debüt-Regisseur (und Autor) Pawo Choyninh Dorji hat im tatsächlichen Lunana gedreht, mit Profidarstellern wie mit Laien aus dem Dorf, das nur durch einen Fußmarsch von einer Woche zu erreichen ist; die Filmtechnik speiste sich aus Solar-Akkus.

Notizen aus der Provinz

Ugyen macht sich schweren Herzens auf in die Provinz, iPod und Kopfhörer sind die letzten Verbindungen zu seinem alten Großstadtleben; doch langsam leert sich der Akku, während der Pädagoge von einer Gesandtschaft des Dorfs am letzten Rastplatz abgeholt wird und man die einwöchige Wanderung beginnt. Eine stille Komik hat das ganze Unterfangen, wenn die Dorfgesandten dem aus der Puste kommenden Lehrer permanent versprechen, dass der Weg gleich wieder abwärts führe – auch wenn klar ist, dass man vom Flachland auf dem Weg zu einem Bergdorf ist. Aber sonst hätte er wohl aufgegeben, zumal es ihm zusetzt, dass seine neuen Markenstiefel nicht wasserdicht sind. Die Opfergaben seiner Begleiter für einen sicheren Weg befremden den Lehrer, doch es berührt ihn eigentümlich, als das gesamte Dorf ihn mit einer Zeremonie willkommen heißt, die ihm klar macht, wie wichtig er für alle ist. „Lunana“ ist nicht zuletzt eine große Liebeserklärung an die Idee der Bildung.

 

Im Dorf muss Ugyen sich an das rustikale Leben gewöhnen. Seine Fenster sind gegen den strengen Wind mit Papier abgedichtet, was hier ein großes Privileg ist – Papier ist selten. Der Plumpsklo vorm Schulgebäude ist wenig anheimelnd. Doch die enorme Wissbegierde der Kinder und die Freundlichkeit der Erwachsenen lassen ihn seine Situation anders sehen – und da ist noch die junge Sandon, die von einem Felsen herab alte Hirtenlieder singt. Ugyen entdeckt eine andere Art des Lebens – und zum ersten Mal empfindet er auch Leidenschaft für seinen Beruf.

Romantische Farben

Das könnte nun auf den Plot „Schnösel-Städter entdeckt in der Natur das einfache Leben und das große Glück“ hinauslaufen. So einfach macht es sich „Lunana“ nicht, auch wenn er das Leben im Dorf auch gerne in romantischen Farben zeichnet – dass die Menschen arbeiten, sieht man selten. Aber ihre enorme Dankbarkeit gegenüber dem Lehrer, der aus ihrer Sicht die Zukunft der Kinder verkörpert, zeigt, dass sie sich für die vielleicht doch etwas anderes wünschen. Und das Ende ist dann doch etwas anders als man erwarten mag. Diese Geschichte um Heimat, Glück und Zuneigung ist gefühlvoll erzählt, aber unsentimental, ebenso mit Humor wie mit einer leisen Melancholie. Und mit einem Büffel im Klassenzimmer.

DVD erschienen bei Trigon- Film.

„Drive my car“ von Ryusuke Hamaguchi – ab 1. Mai bei Arte

Drive my car Oscars

Regisseur Yusuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) und die Fahrerin Misaki (Toko Miura).        Foto: REM

 

Eine große Überraschung war das schon. Ein japanischer Film, drei Stunden lang, erhält bei den Oscars 2022 vier Nominierungen: für das beste adaptierte Drehbuch, den besten internationalen (also nicht-nordamerikanischen) Film, für die beste Regie und als bester Film. Letztlich gewann „Drive my car“ den Oscar als besten internationalen Film. Das gab diesem wundersamen und wunderbaren Film von Ryusuke Hamaguchi Aufmerksamkeit und einen gewissen kommerziellen Rückenwind, den er gut brauchen kann – ist doch „Original mit Untertiteln“ und „179 Minuten Laufzeit“ für manchen Kinogänger eher abschreckend denn animierend. Nur: Ließ man sich abschrecken, brachte man sich um eine eigenwillige und beglückende Seh-Erfahrung.

Melancholie in Tokyo: „Perfect days“ von Wim Wenders

Nachts und nackt beginnt der Film, wenn die Drehbuchautorin Oto ihrem Mann Yusuke, einem Schauspieler und Theaterregisseur, eine Geschichte erzählt, die sie nach den gemeinsamen Liebesnächten immer weiter spinnt: Um eine Frau geht es, die ihrer ersten Liebe nachspioniert, regelmäßig in das Haus des Angebeteten einbricht, um Dinge zu hinterlassen. Yusuke hört fasziniert zu, ein enges Band der Vertrautheit scheint diese beiden Eheleute miteinander zu verbinden. Doch als Yusuke eines Tages unerwartet nach Haus kommt, sieht er seine Frau innigst zugange mit einem anderen Mann auf dem Sofa. Ohne bemerkt zu werden, verlässt er die Wohnung wieder, verschweigt das Ganze gegenüber Oto (ebenso wie sie es tut). Als er just an dem Abend nach Hause kommt, an dem seine Frau etwas mit ihm besprechen kann, ist sie an einer Hirnblutung gestorben. Yusuke bleibt erschüttert und trauernd zurück – und im Ungewissen darüber, was seine Frau ihm mitteilen wollte.

Der rote Saab in Hiroshima

Erst hier, nach 40 Minuten, läuft der Vorspann von „Drive my car“, er ist wie ein filmischer Raumteiler, der auch den Bruch in Yusukes Leben widerspiegelt – und auch einen Zeitsprung von zwei Jahren. Yusuke nimmt das Angebot eines Bühnenfestivals in Hiroshima an, dort Tschechows „Onkel Wanja“ zu inszenieren. Bei den ersten Besetzungsgesprächen taucht überraschend auch ein junger Schauspieler auf, von dem Yusuke glaubt, ihn damals mit seiner Frau auf dem Sofa gesehen zu haben. Das setzt dem Witwer zu, ebenso irritiert ihn die Vorgabe des Festivals, dass er in Hiroshima nicht selbst seinen alten roten Saab fahren darf, sondern dass ihm eine Fahrerin zugeteilt wird – die zurückhaltende Misaki, die für ihn wider Erwarten zu einer großen Stütze wird.

77 Filme fürs Leben: Das Buch „Herzschlagkino“ von Andreas Pflüger

Was in der knappen Inhaltsangabe etwas simpel klingt, ist im Film ganz anders: Regisseur und Ko-Autor Hamaguchi gliedert „Drive my car“, entstanden nach einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami, in lange Szenen und Gespräche – es sind die Herzstücke des Films, wenn Yusuke mit seiner Fahrerin, mit dem mutmaßlichen Liebhaber seiner Frau, mit einem Kollegen und dessen Frau minutenlang spricht. Um Liebe geht es, um Trauer und Tod (die Tochter von Oto und Yusuke ist vor Jahren sehr jung gestorben), um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit extremer Nähe zwischen Menschen. Muss körperliche Untreue ein Beleg für mangelnde Liebe sein? Wie gut kann man seinen Partner kennen, wenn es schon schwer genug fällt, sich selbst einigermaßen zu kennen?

Interview mit Sandra Hüller

Hamaguchi erzählt davon mit exzellenten Darstellern, denen man trotz Zurückhaltung die Seelenlage ihrer Figuren anmerkt, mit gelungenen Verschränkungen mit der „Onkel Wanja“-Inszenierung (ohne ein selbstgefälliges Meta-Ebenen-Spiel zu beginnen) – und vor allem in aller Ruhe. Hier wird viel gesprochen, im roten Saab, an der nächtlichen Hotelbar, im Esszimmer, auf einem verschneiten Hügel. Gefühlvoll ist das alles, aber nicht sentimental, die Melancholie ist spürbar, aber sie drängt sich filmisch nicht auf. Sicher, ein wenig Sitzfleisch braucht man für den Film – aber er wird einen tief berühren.

 

Am 1 . Mai ab 22 Uhr bei Arte, danach in der Mediathek.

Blu-ray und DVD bei REM.

Ben Hopkins über seinen Film „Welcome to Karastan“

„Welcome to Karastan“ erzählt von einem Regisseur in der Krise, der ein verlockendes Angebot erhält: Er soll das kernige National-Opus einer jungen Kaukasus-Republik drehen – und stolpert dabei mitten hinein in Bürgerkriegswirren. Ein Gespräch mit dem Briten Ben Hopkins, der die Komödie geschrieben und inszeniert hat.

Es kriselt beim Künstler: Die Muse hat den Regisseur Emil Forester schon lange nicht mehr geküsst (seine große Liebe und Ex-Frau auch nicht), und der Oscar im Regal hilft auch nicht weiter – zumal nur ein Kurzfilm-Oscar. Wie gut, dass ein Anruf den Filmemacher von der Untätigkeit erlöst: Die junge Kaukasus-Republik Karastan lädt ihn zu seinem Filmfestival ein. Forester nimmt dankbar an und erlebt im Land Sonderbares – etwa das Angebot des dezent diabolischen Präsidenten, in Karastan ein National-Epos zu drehen, das die Republik im Rest der Welt bekannt machen soll. Denn, so des Präsidenten Logik: „Was war Schottland, bevor es den Film ‚Braveheart‘ gab?“

„The Killer“ von David Fincher

„Welcome to Karastan“ ist eine vergnügliche Komödie über kreative Krisen, die Macht und die Ohnmacht des Kinos – erdacht und inszeniert hat sie der britische Filmemacher Ben Hopkins, der ähnliche Karrieretiefen wie seine Hauptfigur kennt. Vor sieben Jahren drehte er seinen letzten Spielfilm vor „Karastan“ – drei lange geplante Filmprojekte „gingen den Bach runter“, wie es Hopkins nennt. „Aber man gewöhnt sich an alles, auch an Folter.“

 

Ben Hopkins

Regisseur und Autor Ben Hopkins. Foto: Hopkins

 

Autobiografisch möchte Hopkins seinen Film dennoch nicht verstanden wissen, aber die bizarren Erlebnisse etwa beim Filmfestival in Karastan seien schon ein „Best Of“ seiner Festivalbesuche und die seines polnischen Co-Autoren Pawel Pawlikowski, dessen Film „Ida“ 2015 den Auslands-Oscar gewonnen hat. „Manchmal, wenn man bei einem schlechten Festival der zweistündigen Rede des Kulturministers von Arschlochistan zuhört,“ sagt Hopkins, „fragt man sich schon, was das alles soll.“

„Ich liebe Geld, aber Geld liebt mich nicht“

Sein Film handelt auch von der Versuchung: Der Regisseur Forester greift beim Regieangebot des Tyrannen nur zu gerne zu, er ist naiv-dankbar für eine neue Aufgabe und blendet aus, was er dreht und für wen. Eine Versuchung, die Hopkins kennt, gerade „wenn es weniger gut läuft“. Man finde ein Projekt zwar unpassend für sich selbst, „aber es könnte Geld bringen und die Karriere wieder anschieben – ob nun Werbefilme für Ölkonzerne oder Polizeithriller“. Dieser Versuchung, sich dem reinen Mainstream anzudienen, um danach „etwas Persönliches drehen zu können“, habe er bisher nicht nachgegeben, „aber sie ist doch immer da“. Ideenlosigkeit plagt Hopkins dabei, anders als den Regisseur im Film, nicht. „Ich werde sicher mit vielen ungedrehten Filmen sterben. Mit Finanzierung habe ich unendliche Probleme. Ich liebe Geld, aber Geld liebt mich nicht.“

„Die Georgier saufen wie Teufel und singen wie Engel“

Gedreht hat Hopkins die Karastan-Szenen seines bittersüßen Films – „Das kommt dabei heraus, wenn zwei deprimierte Filmemacher eine Komödie schreiben“– in Georgien. Probleme wie beim Film-im-Film-Dreh (Revolten, ein entführter Hauptdarsteller) gab es nicht, und die Feier nach den Dreharbeiten war wohl orgiös. „Die Georgier saufen wie Teufel und singen wie Engel. Schönere Musik gibt es nicht auf Erden.“

Im Film-im-Film taucht auch ein Hollywood-Actionstar namens Xan Butler auf, der für seine Profession ausgesprochen schmächtig wirkt. Wen hatte Hopkins da im Sinn? Till Schweiger sei ja auch nicht sehr groß, sagt Hopkins, Tom Cruise sei winzig – und Vin Diesel möglicherweise ein Zwerg. „Ich glaube, wir dachten an Steven Seagal, der ja gerne an merkwürdigen Orten wie einem mongolischen Filmfestival auftaucht.“

Interview mit Buchpreisträger Antonio Schachinger

Der fiktive Regisseur Forester hat in seiner Wohnung ein Plakat des Fellini-Films „8 1/2“, ein Detail mit Symbolgehalt, geht es in Fellinis Film doch auch um einen krisengebeutelten Regisseur, gespielt von Marcello Mastroianni. „Bei Fellini gibt der Produzent ihm eine Pistole, weil ihm bei einer Pressekonferenz nichts Gescheites einfällt. Der Regisseur erschießt sich, und dann tanzen alle“, sagt Hopkins. „Das ist eine gute Beschreibung dafür, wie es ist, Regisseur zu sein.“

DVD erschienen bei Good!Movies

Oscarnominierung für „La femme et le TGV“

Timo von Gunten Jane Birkin

Timo von Gunten im Saarbrücker Cinestar. Foto: tok

Luftsprünge und Jubel am Dienstag gegen halb 3 im Cinestar beim Filmfestival Max Ophüls Preis: Gerade hat der Züricher Regisseur Timo von Gunten erfahren, dass sein Film „La femme et le TGV“, der bei Ophüls im Mittellangen Wettbewerb läuft, für den Kurzfilm-Oscar nominiert ist.

Wer den Film mit Jane Birkin als einsame Konditorin sehen will: Er läuft am Donnerstag um 17.30 Uhr im Kino Achteinhalb, am Freitag um 20 Uhr im Cinestar 4 und am Samstag um 17.45 Uhr in der Camera Zwo.

Marcel Ophüls‘ „Hotel Terminus – Zeit und Leben des Klaus Barbie“ auf DVD

Marcel Ophüls Hotel Terminus

 

Viele Jahre lang war Marcel Ophüls‘ Dokumentarfilm „Hotel Terminus – Zeit und Leben des Klaus Barbie“ nicht mehr erhältlich. Nun ist der 1989 oscarprämierte Film erstmals auf DVD erschienen. Ein Meisterstück, das einen herben Kontrast bildet zu der gängigen Ästhetik heutiger Dokumentationen über die NS-Zeit.

Wie würde ein gängiger Film zu diesem Thema wohl aussehen, würde er heute produziert? Man kann es sich gut vorstellen – dramatische Musik, Wochenschaubilder im Stakkato-Takt, kurze Aussagen von Zeitzeugen vor einer dunklen Studiowand – begleitet von einer Erzählerstimme aus dem Off, die die dokumentarische Wahrheit verbürgen soll. Und der Titel wäre womöglich knallig: „Klaus Barbie – Hitlers Schlächter“ oder Ähnliches.

Der Film „Hotel Terminus – Zeit und Leben des Klaus Barbie“ ist 1989 einen ganz anderen Weg gegangen, um einen bekannten Lebenslauf zu beschreiben: Barbie, 1913 geboren, macht Karriere in der NS-Zeit und wird als folternder Gestapo-Chef in Lyon zur Schreckensgestalt. Nach dem Krieg wirbt ihn der amerikanische Geheimdienst an, bevor er sich mit US-Hilfe nach Bolivien absetzt. 1983 wird er nach Frankreich ausgeliefert, zu „lebenslänglich“ verurteilt und stirbt 1991 in der Haft. Dass Barbie in den 60ern zeitweise auch für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet hat, wurde erst vor vier Jahren aufgedeckt.

Diesen Lebenslauf erzählt Regisseur Marcel Ophüls in seiner oscarprämierten Dokumentation meisterhaft und eigenwillig: Viel Zeit lässt er sich (über vier Stunden), er umkreist sein Thema, unternimmt Exkurse und verweigert sich einer braven Chronologie. Ophüls spricht mit Opfern Barbies, mit Männern und Frauen der Resistance, geht auf die Suche nach „alten Kameraden“ Barbies (unter anderem in der Nähe von Kaiserslautern) und besucht das Trierer Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, an dem Barbie einst sein Abitur machte. Das hält man bei den Dreharbeiten 1988 am Gymnasium seitens der Schulleitung allerdings für „ein Gerücht“ oder „das Erste, was ich höre“.

Ophüls‘ Montage ist hochspannend, er stellt Widersprüche gegeneinander, lässt allzu offensichtliche Lügen unkommentiert – etwa die Aussage eines US-Agenten, er könne sich nicht vorstellen, dass Barbie jemals gefoltert habe. Viele Passagen sind erschütternd: Eine Frau, als Kind von Barbie nach Auschwitz deportiert, erzählt vom Tod ihrer Familie, eine ältere Dame berichtet von Folterungen und der Verschleppung von Ehemann und Sohn. „Sie sind nicht wiedergekommen“, sagt sie knapp, und sonst nichts mehr. Diese Gespräche führt Ophüls behutsam, ihm geht es nicht um den Effekt, wie es ihm im Film auch weniger um die Person Barbie geht (ein Schlächter unter vielen), als um Strukturen und den Umgang des Einzelnen mit der Vergangenheit. Es helfe ja niemandem, sagt eine junge Frau zu Ophüls, wenn man jetzt noch NS-Kriegsverbrecher zur Rechenschaft ziehe, das seien doch alte Männer. Ophüls fragt zurück: „Und was ist mit den Kindern, die niemals alt werden durften?“.
Trotz allem gelingen Ophüls immer wieder auch Momente düsterer Komik – etwa wenn er einen SS-Kameraden Barbies befragt, in dessen gemütlichem Wohnzimmer vor einem festlichen Weihnachtsbaum. „Barbie war ein fantastischer Kerl“, sagt ein früherer SS-Mann, das hätten auch seine Dackel gemerkt. „Ein Tier hat ja Empfindungen“.

Erschienen bei Turbine.

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