KINOBLOG

Film und dieses & jenes

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„Der regelmäßige Gang ins Kino muss wieder gelernt werden.“ Interview mit Nils Daniel Peiler, dem neuen Leiter des Filmhaus Saarbrücken

Nils Daniel Peiler an seinem neuen Arbeitsplatz, dem Saarbrücker Filmhaus. 1988 in Saarbrücken geboren, hat Peiler Germanistik und Bildwissenschaften der Künste in Saarbrücken sowie Film- und Medienwissenschaften in Frankfurt, Paris und Amsterdam studiert. Promoviert hat er über die Rezeptionsgeschichte von Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“. Foto: Oliver Dietze

Nils Daniel Peiler an seinem neuen Arbeitsplatz, dem Saarbrücker Filmhaus. 1988 in Saarbrücken geboren, hat Peiler Germanistik und Bildwissenschaften der Künste in Saarbrücken sowie Film- und Medienwissenschaften in Frankfurt, Paris und Amsterdam studiert. Promoviert hat er über die Rezeptionsgeschichte von Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“.     Foto: Oliver Dietze

 

Nils Daniel Peiler ist neuer Leiter des Saarbrücker Filmhauses. Der Filmwissenschaftler aus Saarbrücken, der zuletzt einige Jahre Kurator für die Kinemathek Hamburg und deren Metropolis Kino war, ist in der hiesigen Szene gut bekannt – im Kino Achteinhalb war er für einige denkwürdige Reihen und Veranstaltungen verantwortlich. Was hat er im Filmhaus vor?

Im Filmhaus haben Sie sich als Kind und Jugendlicher viele Filme angeschaut, jetzt sind Sie der Leiter des Kinos – ein merkwürdiges Gefühl?​

PEILER Ein sehr schönes. Wenn ich durch die Räume gehe oder in den Kinosaal, fallen mir die vielen Filme ein, die ich hier gesehen habe.​

Was war der erste im Filmhaus?​

PEILER Disneys „Alice im Wunderland“, da war ich sechs oder sieben Jahre alt. Meine Mutter nahm mich mit ins Kino, wofür ich ihr auf ewig dankbar bin. Eigentlich sollte „Bambi“ laufen, dann wurde das Programm geändert, „Alice im Wunderland“ lief – und bescherte mir nachhaltige Albträume. Das hat mich aber nicht davon abgehalten, weiter ins Kino zu gehen. Als Jugendlicher und junger Erwachsener bin ich weiter viel ins Filmhaus, habe jede Menge gesehen. Unvergessen ist zum Beispiel „Wie im Himmel“, der größte Erfolg im Filmhaus, der hier über zwei Jahre lang ununterbrochen lief. Das ist auch der Film, über den ich meinen ersten Kinotext geschrieben habe. „Wie im Himmel“ wird hier bald nochmal laufen, viele Kinogängerinnen und Kinogänger haben den Titel in das Filmwunschbuch geschrieben, das jetzt an der Kasse ausliegt.​

Wie es dem Kino Achteinhalb geht

Wie kamen Sie auf die Idee des Wunschbuchs?​

PEILER Die habe ich mir vom „Prince Charles Cinema“ in London abgeschaut. Dort gibt es im Kinofoyer eine große Tafel, auf die das Publikum mit Kreide seine Wünsche schreibt. Jetzt haben wir im Filmhaus auch eine Tafel und ein Buch im Foyer, die bieten eine schöne Interaktion mit dem Publikum – es wird eine neue Sektion mit Publikumswünschen geben.​

Zuletzt waren Sie Kurator bei der Kinemathek Hamburg – haben Sie lange überlegt, sich auf die Stelle in Saarbrücken zu bewerben?​

PEILER Überhaupt nicht. Und nach dem Vorstellungsgespräch ging alles sehr schnell. Meine Vorgängerin Christel Drawer hat mich eingearbeitet und noch einige Renovierungsarbeiten angestoßen, unter anderem die der Schaukästen, da bin ich ihr sehr dankbar. Im Vorstellungsgespräch war schnell klargeworden, dass es eine große Schnittmenge gibt zwischen dem, was die Stadt sich vorstellt, wie das Haus noch mal neu aufgestellt werden kann, und dem, was ich an Ideen mitbringe.​

Welche sind das – was wird sich ändern im Filmhaus?​

PEILER Es wird mehr Veranstaltungen mit Gästen geben, mehr Diskussionen, Einführungen, Podiumsgespräche. Wenn eine Regisseurin, ein Regisseur kommt, gibt es immer viel Zuspruch. Ich wünsche mir eine filmische Vielfalt für ein breites Publikum, das sich im Filmhaus einbringen soll. Ich begrüße das Publikum ja gerne persönlich, um den Leuten zu sagen, dass ich mich freue, dass sie da sind – das ist aufrichtig gemeint und keine hohle Phrase. Ich bin froh, wenn ich angesprochen werde, wenn Anrufe oder Mails kommen mit Wünschen und mit Rückmeldungen. Externe Ideen sind wichtig, nur dann kann das Programm bunt und vielfältig werden. Ich will es ja nicht alleine bestimmen.​

Das Saarbrücker Kinomagazin „35 Millimeter“

Aber Etabliertes wird bleiben?​

PEILER Natürlich, unsere Reihe „Filmreif“ zum Beispiel: Alle zwei Wochen gibt es am Montagnachmittag ab 15 Uhr einen Film, dazu Kaffee und Kuchen, für insgesamt fünf Euro. Zwischen 80 und 120 Personen kommen da regelmäßig zu uns, sie verabreden sich Wochen vorher, sitzen zusammen, reden und reservieren schon mal fürs nächste Mal. Das wird auf jeden Fall weitergehen.​

Wird es thematische Reihen geben, auch Retrospektiven?​

PEILER Ja – Stanley Kubricks Tod jährt sich 2024 zum 25. Mal, an seinem Geburtstag am 26. Juli beginnen wir eine vollständige Retrospektive mit allen Kubrick-Filmen. Wir starten mit seinem letzten Film „Eyes Wide Shut“ von 1999, dann geht es Woche für Woche mit 13 Produktionen zurück bis hin zu seinen frühen Kurzfilmen. Wir werden die Werke sowohl im Original, mit und ohne Untertitel, als auch synchronisiert zeigen. Und zur Eröffnung beehrt uns Tochter Katharina Kubrick aus London persönlich.​

Nils Daniel Peiler im Kino des Filmhauses. Über die Schulter schauen ihm die in Saarbrücken geborenen Regisseure Max Ophüls (1902-1957, links) und Wolfgang Staudte (1906-1984). ⇥Foto: Oliver Dietze

Über die Schulter schauen ihm die in Saarbrücken geborenen Regisseure Max Ophüls (1902-1957, links) und Wolfgang Staudte (1906-1984).    Foto: Oliver Dietze

Sie haben über Kubricks „2001“ promoviert und im Kino Achteinhalb mal eine Vorführung mit durchgehendem Live-Kommentar gemacht. Wird es im Filmhaus Ähnliches geben?​

PEILER Ich gebe zu jedem Film der Kubrick-Retro eine kurze Einführung. So eine ausladende Retrospektive im Filmhaus ist für uns natürlich ein Experiment, von dem ich hoffe, dass das Publikum es annimmt. Vielleicht interessieren sich auch Menschen in der Großregion dafür und kommen mal nach Saarbrücken. Abgesehen von Kubrick wird es eine Reihe zum 40. Todestag des in Saarbrücken geborenen Regisseurs Wolfgang Staudte geben, in Zusammenarbeit mit der Saarbrücker Staudte-Gesellschaft. Auch mit dem Filmfestival Max Ophüls Preis wird es mehr Zusammenarbeit geben.​

Hoffen Sie auch auf mehr junges Publikum?​

PEILER Ja, da gibt es noch Luft nach oben. Ich würde das Filmhaus gerne öffnen für alternative Formate, etwa für mehr Kurz- oder Hochschul-Abschlussfilme. Vor drei Wochen habe ich ganz zufällig den Filmemacher Axel Ranisch vor dem Filmhaus getroffen, der gerade Gastdozent ist an der Hochschule der Bildenden Künste Saar (HBK). Im Sommer, wenn er das nächste Mal wieder mit seiner Filmklasse hier in Saarbrücken beschäftigt ist, machen wir zusammen eine Werkschau und zeigen in seiner Anwesenheit seinen persönlichen Lieblingsfilm. Wir wollen auch verschiedene Gewerke und Berufswege filmisch vorstellen – Regie, Schnitt, Produktion und so weiter. Generell versuche ich, ein neues Publikum zu gewinnen – aber auch Menschen zurück zu gewinnen, die möglicherweise lange nicht mehr im Kino waren.​

Der Plakatflohmarkt am Filmhaus

Vielleicht auch durch Repertoire-Pflege und verdiente Klassiker?​

PEILER Die haben im Haus ja eine gute Tradition, auch wenn das in letzter Zeit zurückgegangen ist. Ich werde sie noch mal zurückbringen – darin haben mich auch viele Rückmeldungen im Wunschbuch und auf der Wunschtafel bestärkt. Stummfilme mit Live-Begleitung sind möglich, wir haben ja auch ein Klavier hier.​

Wie groß ist das Team des Filmhauses?​

PEILER Klein. Wir sind aktuell nur zu dritt, aber sehr engagiert. Die beiden Festangestellten Herr Chelly und Herr Seidel sind seit über 20 Jahren am Haus, haben eine Passion fürs Kino und kennen auch das Saarbrücker Publikum, was für unsere Arbeit sehr wichtig ist.​

Wie ist Ihr Verhältnis zu den anderen Kinos in Saarbrücken, vor allem zur Camera Zwo und dem Kino Achteinhalb, mit denen es die meisten filmischen Berührungspunkte geben dürfte – und auch mögliche Überschneidungen?​

PEILER Mir ist ganz wichtig: Das Filmhaus soll keine Konkurrenz sein, ich will eine gute Zusammenarbeit, Austausch und Kooperation. Wir haben uns auch schon getroffen und miteinander geredet. Wir haben ein mögliches Publikum, dass wir teilen. Aber jedes Haus besitzt sein eigenes Profil. Das des Filmhauses will ich jetzt aktualisieren. Wir werden zwar Klassiker und Reihen bieten, wollen aber in jedem Fall ein Startkino bleiben, in dem Filme zu ihrem Bundesstart anlaufen. Natürlich gehe ich davon aus, dass die Camera Zwo weiterhin die großen Arthouse-Kinostarts macht. Aber es gibt auch mittlere bis kleinere Verleihe, die mit ihren Filmen bislang gar keinen Start in Saarbrücken bekommen haben. Da sehe ich für uns im Filmhaus einiges Potenzial. Verleiher haben natürlich ein großes Interesse, ihre Titel auch in Saarbrücken zu starten. Mehr Vielfalt also! Wir haben mit 125 Plätzen einen relativ großen Saal – wenn wir auch leider nicht mehr regelmäßig den früheren zweiten Saal bespielen, den „Schauplatz“, wo wir den Film dann weiter zeigen könnten, während im großen Saal ein neuer Film startet.​

Was wünscht sich die Stadt von Ihnen kommerziell? Gibt es Vorgaben und Zahlen?​

PEILER Ich habe keine konkrete Vorgabe bekommen, was die Auslastung betrifft oder welche Marge ich erwirtschaften soll. Ich bin sehr froh, dass die Stadt mich erstmal ankommen und ausprobieren lässt. Es ist natürlich eine komfortable Situation, dass Saarbrücken sich so ein tolles Haus leistet, ein kommunales Kino in städtischer Trägerschaft. Ich habe in den ersten Wochen hier schon sehr viel Aufbruchsstimmung gespürt – auch hier direkt in der Nachbarschaft in der Mainzer Straße.​

Aber auf die Zuschauerzahlen müssen Sie schon schauen, oder?​

PEILER Natürlich – ich will ja auch kein Kino in einem fast leeren Saal zeigen. Aber grundsätzlich freue ich mich, dass ich hier eine Grundfinanzierung habe, mit der ich arbeiten kann. Das sind andere Voraussetzungen, als wenn wir ein kommerzieller Spielbetrieb wären. Mein Ansatz als freier Kurator war über die Jahre eine Art Mischkalkulation: Kleinere, vielleicht weniger populäre, aber wichtige Programme sollen von populäreren refinanziert werden.​

Nostalgie: Kino-Anzeigen von 1977

Wird sich an den Eintrittspreisen etwas ändern?​

PEILER Nein. Die Eintrittspreise sind mit 7,50 Euro, plus Aufschlag bei Überlänge, moderat und werden das auch bleiben. Montags und dienstags kostet es für alle sechs Euro. „Filmreif“ kostet wie gesagt fünf Euro mit Kaffee und Kuchen, durch die Unterstützung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Die niedrigen Preise sind wichtig, denn wir sind ja kein kommerzielles Kino, sondern ein öffentlicher Ort, an dem Menschen zusammenkommen und miteinander in Kontakt kommen sollen. Das ist unsere Aufgabe als städtische Einrichtung. Da müssen wir sozialverträglich und finanziell niederschwellig sein. Wir werden immer auch Veranstaltungen bei freiem Eintritt anbieten, wie Anfang April etwa den Abend mit den Kurzfilmen des in Saarbrücken geborenen und oscarprämierten Animationsfilmers Frédéric Back. In der aktuellen wirtschaftlichen Situation denken viele Menschen schon zwei- oder dreimal darüber nach, ob sie ins Kino gehen. Vielleicht zeigt da auch die Pandemie ihre Wirkung. Früher war der regelmäßige Gang ins Kino eine Selbstverständlichkeit. Das muss wieder gelernt werden – auch das ist Teil unserer Aufgabe.​

„Atlas“ mit Jennifer Lopez – Netflix, Künstliche Intelligenz und wenig Hirn

Jennifer Lopez als und in "Atlas". Foto: Netflix

Jennifer Lopez als und in „Atlas“. Foto: Netflix

Oje. Das Originellste in diesem Film ist ein schöner Name im Abspann: Ein Produktionsmanager heißt „Samson Mücke“. Aber bevor man den Abspann erreicht, verbringt man zwei Stunden mit einem merkwürdig mittelmäßigen Film: „Atlas“ ist weder spannend noch völlig langweilig, sichtlich aufwändig, dabei aber optisch wenig originell – irgendwie hat man alles schon mal gesehen. Um Künstliche Intelligenz geht es – und wäre es nicht selber schon als Kritik-Klischee so abgegriffen, könnte man einwenden, dass der Film vielleicht interessanter geworden wäre, hätte man KI herangelassen. (Oder man tat es, was angesichts des Ergebnisses dann aber ziemlich enttäuschend wäre.)

KI-Schurke „Harlan“

Hektische, drastische Nachrichtenbilder klären uns zu Beginn auf, dass es mit der Welt nicht zum Besten steht. Die KI der Welt rebelliert gegen den Menschen, humanoide Robot-Gestalten greifen zu den Waffen, Millionen wirkliche Menschen sterben, bis sich eine „International Coalition of Nations“ (ICN) gründet und dagegenhält. Der Oberkopf der KI flieht auf einen fernen Planeten und verkündet aus dem Exil eine pathetische Botschaft, die nahelegt, dass er zu viele schlechte Drehbücher gespeichert hat: „Ich werde zurückkommen, um das zu vollenden, was ich angefangen habe. Das ist der einzige Weg.“ Der Name des überbösen KI-Bosses ist „Harlan“ – ob die Drehbuchautoren dabei an den berüchtigten NS-Filmregisseur Veith Harlan dachten, ist unwahrscheinlich, wäre aber eine originelle Idee.

Ohne Espresso geht es nicht

Flugs springt der Film von Brad Peyton („San Andreas“, „Rampage“) 28 Jahre weiter und stellt seine Haupt- und Titelfigur vor: Atlas (Jennifer Lopez), eine Analystin der ICN mit meist schlechter Laune, vor allem, wenn sie nicht ihre vierfache Morgendosis Espresso bekommt. Damit man weiß, wie intelligent Atlas ist, lässt der Film sie zumindest anfangs Brille tragen (wie Wissenschaftlerinnen in SF-Filmen der 1950er Jahre) und einen Schachcomputer im Vorbeigehen mattsetzen. Ihre Lebensmission ist der Kampf gegen die KI, was biografische Gründe hat, die im Laufe des Films recht tränenselig  aufgeblättert werden. Einem gefangenen KI-Roboter entlockt sie das Geheimnis, auf welchem Planeten sich Harlan versteckt. Ein Kriegsschiff macht sich auf ins All, Atlas ist als Zivilistin dabei und verteilt den militärischen Kolleginnen und Kollegen Informationen per Papierausdruck – im 24. Jahrhundert eher ungewöhnlich, aber Atlas misstraut der digitalen Vernetzung und setzt aufs Analoge.

Bunt und öde: „Heart of Stone“ bei Netflix

Nach einer Raumschlacht, so rasant wie unübersichtlich, die eher wie ein PC-Spiel denn eine Spielfilmsequenz ausschaut, ist Atlas die letzte Hoffnung der Menschheit; über die Oberfläche des fernen Planeten stapft sie in einem Ganzkörper-Roboteranzug, mitbedient von einer Künstlichen Intelligenz. Die bittet Atlas, sich mit ihr mental zu verschmelzen (in Form eines Art Ohrhörers), um eine unschlagbare Mensch-Maschine-Kombination zu werden. Aber Atlas weigert sich. Erstmal.

Das Analoge gegen das Digitale

Das ist der Grundplot  – Mensch contra Maschine, das Analoge gegen das Digitale, wahre Gefühle gegen Pseudo-Emotionen aus dem Rechner. Ein ziemlich drängendes und aktuelles Thema. Doch „Atlas“ macht überraschend wenig daraus. Die interessante Frage, ob die menschliche DNA auch nicht mehr ist als ein Code aus dem PC und ob wir damit auch nicht komplexer (oder freier) sind als ein schnöder Rechner, wird mal angesprochen, aber halbherzig. Zu komplex soll es wohl nicht werden in diesem Star-Vehikel für Jennifer Lopez, in dem sie die lange Zeit in einem Robot-Panzer sitzt, mit einer KI namens „Smith“ spricht oder sich von der Maschine ein gebrochenes Bein richten lässt (eine so originelle wie ruppige Szene). Diese Momente sind die besten des Films, während ansonsten bunte Langeweile dominiert. Erstaunlich ist, mit wie wenig Fantasie man an die Darstellung von KI herangeht: Der Bösewicht, die Ober-Intelligenz, hat sich auf dem Fluchtplaneten eine Welt zusammengebaut, die von außen wie ein Einkaufszentrum ausschaut, und schmiedet einen Plan wie ein Bösewicht bei James Bond in den späten 1970ern: Er will die Welt vernichten und Mutter Erde neu beginnen lassen – denn der Mensch, da hat Harlan ja nicht Unrecht, sei durch ihre Kriege und Umweltzerstörung eine zu große Bedrohung. Das Ende der Welt kann Atlas nicht zulassen, und so steuert der Film in ein Actionfinale, in dem sogar so etwas wie ein „Star Wars“-Lichtschwert zum Einsatz kommt. Das kann man nun „Hommage“ nennen – oder auch den Gipfel der Einfallslosigkeit.

Wie steht der Film zum Thema KI? Die Figur Atlas gibt sich ja lange skeptisch und abweisend, aber letztendlich unterscheidet der Film zwischen böser KI (interessanterweise verkörpert von einem Darsteller mit asiatischem Antlitz) und guter KI. Die findet sich unter anderem in amerikanischen Kriegsgerät, sehr zur Freude von Atlas, die am Ende nicht nur die familiären Traumata besiegt hat, sondern auch ein karrierechnisches: Denn zwar ist sie Analystin, aber eigentlich wollte sie doch immer zum Militär. Da wird der Film ideologisch durchaus gruselig.

„Atlas“ kann man bei Netflix sehen, muss man aber nicht. 

„Der Schnorchel“ aus dem Hause Hammer – gute Heimkinoveröffentlichung von Anolis

Natürlich: Dracula und Frankenstein, Peter Cushing und Christopher Lee, dazu geplante Invasionen aus dem Weltall in den Quatermass-Filmen – das verbindet man am ehesten mit den Werken der britischen Film-Firma Hammer. Doch die bot durchaus mehr als Horror. Der Film „Der Schorchel“,  1957 hammer-untypisch, weil relativ kostspielig, auch in Italien gedreht, ist ein kleiner, feiner, manchmal überraschend böser Thriller der Briten. Peter van Eyck, dank „Lohn der Angst“ ein veritabler Euro-Star, spielt einen Mann, der seine Gattin ermordet – in einer trickreichen, minutenlangen, dialoglosen Eröffnungssequenz, in der er eine Taucherbrille, Schnorchel, Gas und Gummischläuche braucht. Die Polizei glaubt an einen Freitod (worauf der Mörder spekuliert), nur seine junge Stieftochter ahnt, was geschehen ist. Doch niemand glaubt ihr, und der Mörder weiß, dass sie das nächste Opfer sein muss.

Im Mittelteil des Films von Guy Green stellt sich eher solide Spannung denn Hochspannung ein, aber im Finale zieht der Film an und bietet eine schöne Schlusspointe. Van Eyck, wunderbar ölig und von finsterem Charme, tut das, was sich nicht jeder Bösewicht traut (ACHTUNG SPOILER!!): Er bringt den süßen Filmhund um.

Die Extras der Bluray (auf der Hülle unterschlagen) sind exzellent: ein Audiokommentar mit Uwe Sommerlad und Volker Kronz, Booklet und Audiokommentar von Rolf Giesen, dazu ein 23-Minuten-Special über Komponist Francis Chagrin, Bildergalerien, Trailer – und eine Rekonstruktion des Endes, wie Drehbuchautor Jimmy Sangster es eigentlich im Sinn hatte. Doch diese grimmige „Rache ist süß“-Variante hat sich Hammer dann doch nicht getraut.

Erschienen bei Anolis.

 

Die Geschichte der Hammer-Studios.

Die Doku „The Frankenstein Complex“.

German Grusel: „Die Schlangengrube und das Pendel“

 

 

 

 

„Only the river flows“ von Wei Shujun – Mord, Melancholie und mehr Regen als in „Sieben“

Szene aus "Only the river flows" mit Zhu Yilong als Ermittler.

Ermittler Ma Zhe (Zhu Yilong) kommt an seine Grenzen. Foto: Lian Ray Pictures / Rapid Eye Movies

 

Vorsicht – die nächste Tür führt ins Nichts. Oder zumindest im freien Fall vom vierten Stock auf den Asphalt einer Baustelle. Denn das Haus, in dem zu Beginn von „Only the river flows“ Kinder eine Art „Räuber und Gendarm“ spielen, ist nur noch zur Hälfte vorhanden; ein Bagger frisst an der Fassade, auf die es unablässig herabregnet. Mit diesem Bild beginnt der chinesische Regisseur Wei Shujun seinen düsteren, melancholisch getönten Film, dessen Welt des Jahres 1995 im Umbruch ist: Das „alte“ China ist noch da, doch es wandelt sich, wird langsam verdrängt von einer boomenden Moderne – und diese Verwandlung hat ihre Risiken.​

Mehr als ein Krimi

Vordergründig ist der Film, beim Festival in Cannes uraufgeführt, ein klassischer Krimi: Ein Mensch wird ermordet, die Polizei ermittelt. Doch Indiziensammeln und Verhöre sind nur das grobe Handlungsgerüst; zugleich erzählt „Only the river flows“ von einem Ermittler, dessen persönliche Welt in die Finsternis abzugleiten droht, und von einem China, wo der Einzelne durch den ausgerufenen Kollektivgedanken unter Druck steht.​ Zu Beginn ist Inspektor Ma Zhe ein lässiger Chef-Ermittler, Liebling seines Vorgesetzten, ein ruhiger Profi; als eine alte Dame an einem Fluss erschlagen wird, macht er sich an die Arbeit. Ein Hauptverdächtiger ist schnell gefunden: ein geistig zurückgebliebener, offensichtlich stummer Mann, den die verwitwete Frau einst adoptierte.​

Die „von ganz oben“ wollen schnellen Erfolg​

Ma Zhes Vorgesetzter hält den Fall für gelöst und ist begeistert, scheint ihm doch nichts wichtiger zu sein als Prestige für seine Dienststelle von ganz oben, die sich einen schnellen Fahndungserfolg wünscht. Doch der Inspektor ist nicht gänzlich überzeugt, ermittelt weiter und findet weitere Menschen, die die Tat beobachtet haben, sich aber nicht der Polizei offenbaren wollen, weil sie Repressalien befürchten – wobei dieses China der Vergangenheit das der Gegenwart spiegelt. Als plötzlich einige dieser Zeugen ermordet werden, scheint das die These vom gewalttätigen „Irren“, wie es im Film heißt, der noch auf freiem Fuß ist, zu stützen – doch Ma Zhe zweifelt, zudem belastet ihn der Fall weit mehr als gedacht. Die Fassade des kühlen Profis scheint eben genau das zu sein – eine Fassade.​

„Die 55 Tage von Peking“ 

„Only the river flows“ ist Film-Noir-Krimi und Psychogramm gleichermaßen, wir folgen dem Ermittler beim Abgleiten in Zweifel, Schwermut, auch Wahn. Sein Privatleben spielt mit hinein – seine Frau ist schwanger, die Wahrscheinlichkeit eines Gendefekts ist höher als üblich. Er denkt an Abtreibung, seine Frau nicht, und in seinem Kopf verbinden sich Bilder von Ultraschalluntersuchungen mit denen der Mordopfer. Zhu Yilong spielt diese Seelenkrise nicht in großen Auftritten, sondern in kleinen Gesten – seine Darstellung ist ein gekonntes „weniger ist mehr“. Regisseur Wei Shujun und Kameramann Chengma platzieren den Film optisch und atmosphärisch in den 1990ern und begehen dabei nicht den beliebten Fehler, eine historische Ausstattung wie frisch gewienert oder entstaubt wirken zu lassen. In den Amtsstuben meint man den Mief der nikotinvergilbten Akten und der regennassen Mäntel zu riechen, ein antik scheinender Diaprojektor braucht einen zarten Klaps, um zu funktionieren. Gefilmt ist das auf heute selten genutztem 16-Millimeter-Material, das eine nostalgische Anmutung mit sich bringt, ein leicht körniges Bild, als sei es Jahrzehnte alt.​

Kritik zu „Evil does not exist“

Zu Beginn des Films ziehen die Ermittler von ihrem alten Gebäude in ein Kino, „weil da sowieso niemand mehr hingeht“, wie es heißt. Von nun an spielen sich die Ermittlungen auf einer Bühne vor einer alten Leinwand ab; vielleicht eine etwas gespreizte Ironisierung, zumal einer von Ma Zhes traumartigen Visionen dann zu einer Art Film-im-Film wird? Mag sein; der Regisseur entgeht nicht immer einer gewissen Gefahr des Prätentiösen, bisweilen wird Beethoven „Mondscheinsonate“ auf der Tonspur etwas überstrapaziert. Aber gegen Ende ist das Filmtheater doch ein schönes Symbol für den Wandel – das Kinoparkett von einst ist nun voller Uniformträger mitsamt Parteipathos, und der Film wird unterschwellig ziemlich politisch. Ma Zhe scheint mit der Geburt seines Kindes wieder eine Art Frieden zu finden – doch der letzte Moment des Films lässt zweifeln.

Only the river flows läuft im Kino Achteinhalb im Original mit Untertiteln:
am Sonntag, 26. Mai; Freitag, 31. Mai; Samstag, 1. Juni.

Die Pantoffeln von Lino Ventura

Die cinephilen Nachbarn: In Frankreich ist der Film „Les Tontons flingueurs“ (bei uns „Mein Onkel, der Gangster“) von 1963 so etwas wie ein Kulturerbe. Und deshalb kann man im Supermarkt an der Grenze jetzt Pantoffeln kaufen, die mit den Gesichtern von Lino Ventura und Bernard Blier geschmückt sind. Formidable.

„Der Kolibri“ von Francesca Archibugi

Szene aus "Der Kolibri". Unerfüllte Liebe: Marco (Pierfrancesco Favino) und Luisa (Bérénice Bejo) bei einem ihrer regelmäßigen Treffen.

Unerfüllte Liebe: Marco (Pierfrancesco Favino) und Luisa (Bérénice Bejo) bei einem ihrer regelmäßigen Treffen. Foto: Enrico de Luigi / MFA

Fast möchte man sich Notizen machen in den ersten Minuten. Wer sind all diese Leute, die durch eine toskanische Villa wuseln, mit ziemlich dünnen Nerven? „Der Kolibri“ mag etwas unübersichtlich beginnen, uns mitten hinein werfen in das Leben einer Familie – doch nach und nach dröselt der Film die Beziehungsfäden auf, bringt uns die Figuren näher und breitet ein großes Lebenstableau auf.​

Dessen Mittelpunkt ist Marco, Spitzname „Kolibri“, war er einst doch so schmächtig („er ist 14 und sieht aus wie zehn“), dass seine dauerstreitenden Eltern ihm eine Hormontherapie aufzwangen. Von dieser Jugend ab begleitet der Film Marco zu seinen letzten Augenblicken (bei dem der Film etwas mit den Altersmasken der Mimen zu kämpfen hat). In den Jahrzehnten dazwischen durchlebt er Momente des höchsten Glücks und die schlimmsten Augenblicke, die man gerade noch überstehen kann.​

Muntere Mischung der Zeitebenen​

Diese Lebenschronik erzählt die Regisseurin Francesca Archibugi dankenswerterweise nicht so, wie es ein schlechterer Film wohl getan hätte. So gibt es keine brave Chronologie oder eingeblendete Orientierungshilfen wie „Rom 1982“ oder „Paris 1995“. Hier werden die Zeitebenen mitunter so munter gemischt wie die Karten eines Pokerspiels (eine Leidenschaft von Marco); kurze Erinnerungen, längere Sequenzen, winzige Momente und Zeitsprünge innerhalb eines Schauplatzes geben den Rhythmus vor, der nicht aus dem Tritt kommt.​

Die Autobiografie von Michael Caine

Marco ist eher der passive Typ, der manchmal aber eine enorme Initiative entwickelt – etwa wenn er glaubt, eine Geistesverwandte, eine Schicksalsgefährtin entdeckt zu haben; – eine Flugbegleiterin, die ebenso wie er im letzten Augenblick nicht in eine Maschine gestiegen ist, die dann abstürzte. Schicksal? Bestimmung? Oder banaler Zufall? Marco jedenfalls lädt sie zum Essen ein – und sie heiraten. Wirklich glücklich wird diese Ehe aber nicht; Marinas bipolare Störung macht das gemeinsame Leben nicht einfacher. Und dann ist da auch eine Gefühlshypothek aus der Jugend: Einst in der Toskana lernte Marco die Französin Luisa kennen. Die große Liebe möglicherweise – aber das Leben kam dazwischen Nach Jahren nehmen sie wieder Kontakt auf und treffen sich regelmäßig, aber platonisch.​

Viel hineingepackt​

Grundlage des Films ist der preisgekrönte Bestseller von Sandro Veronesi; man spürt dass die Drehbuchautoren viel in den Film hineinpacken mussten (oder möglichst wenig aus der Vorlage weglassen wollten). Da gibt es Handlungsstränge, aus denen man jeweils einen eigenen Film hätte zwirbeln können; manches wirkt dann zu knapp abgehandelt – der Erzählstrang etwa über Marinas psychische Krankheit etwa, so dass sie vor allem wie ein dauerüberspanntes Ehemonster wirkt und wenig Mitgefühl erweckt. Im letzten Drittel öffnet sich bei einer Pokerpartie noch ein Handlungskistchen, das man als reizvollen Exkurs empfinden kann oder als überflüssig.​

Porträt „Ennio Morricone – der Maestro“

Jedenfalls tut sich sehr viel in diesen zwei Kinostunden. Fels in der Handlungs-Brandung ist der grandiose italienische Darsteller Pierfrancesco Favino als Marco. Ihm nimmt man die gutmütige Passivität ab, die manchmal in zupackende Initiative eruptiert, wenn es seine Lebenssituation erzwingt; Favino unterlegt seinem Spiel stets eine leichte Melancholie, mit Blick auf einige biografische Katastrophen und auf ein mögliches anderes Leben, wäre die einstige Teenagerliebe haltbarer gewesen. Hätten Marco und Luisa zusammen ein glücklicheres Leben gehabt? Wer kann das schon sagen? Das Leben, auch das gibt uns der Film mit, ist eben unberechenbar, im Schönen wie im Schrecklichen.​

„Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ von Claudia Müller


Elfriede Jelinek in einer alten TV-Sendung, ein Ausschnitt ist auch im Film zusehen. Foto: Plan C

Egal, ob es nun ein Ziel dieser Dokumentation ist oder nicht: Hat man den Film gesehen, möchte man im nächsten Buchladen nach Werken der Schriftstellerin schauen. „ Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ ist ein packendes, dichtes Porträt – literarisch, biografisch und politisch, voller Texte und Sprachlust, voller klug montierter Bilder und Szenen. Man ist sofort mittendrin im Thema Jelinek, wenn der Film einen alten TV-Mitschnitt zeigt, in dem die Schriftstellerin die wenige Zeit in einer Literatursendung für Autorinnen kritisiert (50 Minuten für Männer contra zehn für Frauen), dann die Verkündung des Literaturnobelpreises 2004 gezeigt wird und Jelinek aus dem Off kommentiert: „Ich kann da nicht hinfahren“, wegen einer Angststörung. „Rausgehen, das kann ich nicht mehr.“ Darüber, wie weit diese Angststörung, an der sie seit ihrer Jugend leidet, auch weiter befeuert wird vom Hass, der Jelinek in ihrer österreichischen Heimat entgegenschlägt, spekuliert der Film nicht. Das kann man selbst tun. Der Film will nicht psychologisieren.

„Mutters einziges Kind, das in der Spur bleiben soll“

Mit Zitaten und Archivaufnahmen zeichnet Regisseurin Claudia Müller die Jugend Jelineks nach, Jahrgang 1946, ein „Nichtlebendürfen“ – der Vater ist laut Jelinek „verrückt geworden“, die Mutter fördert und überfordert die Tochter in allerlei musischen Disziplinen. Sie dominiert die Tochter, die sie im Film als manchmal „gefährliches Tier“ bezeichnet, durch die sie das Lügen gelernt habe, um sie zu besänftigen, als „Mutters einziges Kind, das in der Spur bleiben soll“.

Elfriede Jelinek in einer Archivszene des Films. Foto. Plan C

Elfriede Jelinek in einer Archivszene des Films. Foto: Plan C

Die junge Jelinek „rettet sich in die Sprache“, wie sie sagt, weil das der einzige Bereich gewesen sei, in dem die Mutter sie nicht zur Leistung antrieb. Früh erhält sie Preise, begreift sich als Autorin, die etwas bewegen will, die eine „größere Effektivität im politischen Sinne“ erreichen will – feministisch und als Kritikerin politischer Zustände in ihrer Heimat Österreich, an denen sie leidet. Exemplarisch für sie ist etwa die Schauspielerin Paula Wessely (1907-2000); im NS-Kino war sie ein Star, ab den 1950ern war sie ein Star am Wiener Burgtheater – der Film zeigt einen grausigen Auftritt Wesselys im perfiden Propagandawerk „Heimkehr“ aus dem Jahr 1941.

„Wut und Hass“

Jelineks Kritik unter anderem an Wessely im Stück „Burgtheater“ (1985 nicht in Wien, sondern im fernen Bonn uraufgeführt) ist ein Wendepunkt in der Rezeption der Schriftstellerin, sagt Jelinek selbst. Seitdem habe sie „polarisiert“, das sei, vielleicht meint sie das etwas ironisch, „der Beginn meines Abstiegs“ – in jedem Fall spätestens der Beginn der Anfeindungen gegen sie: als „Nestbeschmutzerin“. Jelinek wird (und bleibt) Hassfigur vieler Konservativer, vor allem männlicher, wegen ihres kritischen Blicks auf Österreich und auf männlich geprägte Strukturen. Ein Ausschnitt zeigt auch eine Szene des seligen „Literarischen Quartetts“ zur Zeit von Marcel Reich-Ranicki. Der wundert sich über so viel „Wut und Hass“ und darüber, dass bei Jelinek „das Sexuelle demontiert“ wird – fast wirkt es, als sorge er sich um das Seelenheil der Autorin.

Interview mit Buchpreisträger Tonio Schachinger

Interview mit Iris Wolff

Der Film lässt viel Raum für die Texte Jelineks mit ihrer kunstvollen Sprache und oft einem sehr dunklen Humor. Mal werden die von ihr in alten Mitschnitten gelesen, vor allem aber von Sophie Rois, Martin Wuttke, Maren Kroymann und Sandra Hüller. Das alleine ist schon eine Wonne, während der Film das nicht brav inhaltlich, sondern eher assoziativ illustriert – mit Bildern aus Österreich, ebenso mit prächtigen Bergpanoramen wie mit hässlichen Après-Ski-Momentaufnahmen und Super-8-Aufnahmen aus den 1950ern (Montage: Mechthild Barth).

Nach dem Nobelpreis hat sich Jelinek noch weiter zurückgezogen, auch wenn sie für diesen Film mit der Regisseurin viel Kontakt hatte und ihr 2021 ein Interview gab, das im Film zum Teil verwendet wird. Aber erklären will sie ihre Werke nicht mehr, es sei alles gesagt. Gut, dass es dennoch diesen Film gibt.

 

Termin: 13.5., 22.15, Arte und ab dann in der Mediathek.
DVD bei Farbfilm Verleih.
„Die Klavierspielerin“ nach Jelinek ist ebenfalls in der Mediathek.

 

„Evil does not exist“ von Ryusuke Hamaguchi

Eine Szene aus dem Film "Evil does not exist": Vater Takumi (Hitoshi Omika) und Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur, die ihr Dorf umschließt. Foto: Pandora Film

Vater Takumi (Hitoshi Omika) und Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur, die ihr Dorf umschließt. Foto: Pandora Film

Beginnen wir mit dem Ende. Das wird überraschen, verstören, vielleicht ratlos zurücklassen. Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi ist eben kein Mann eines formelhaften oder überraschungsarmen Kinos. Sein oscarprämierter Vorgängerfilm „Drive my Car“ war ein dialogreiches Drama, in dem er seinen Figuren auf den Grund ging und sich dafür drei Stunden Kino-Zeit nahm, die einem nicht zu lange erschienen.​ „Evil does not exist“ nun zieht einen sogartig sofort hinein, mit einer Fahrt der Kamera, die Baumwipfel von unten zeigt, so als schaue man beim Wandern unentwegt nach oben – oder als werde man auf dem Rücken liegend durch den Wald getragen, auf einer Bahre vielleicht, oder in einem offenen Sarg. Knapp vier Minuten ohne Schnitt und mit konstanter Unten-nach-oben-Perspektive zeigt der Film die Natur, begleitet von einer Streichermusik, die so schön wie melancholisch ist. so zart wie kraftvoll. Hier am Waldrand leben Takumi und seine Tochter Hana, sie sind Teil der Gemeinschaft des Dorfes Mizubiki – nicht allzu weit entfernt von Tokio, aber doch wie in einer anderen Welt.​

Quellwasser für den Nudelteig​

Das Leben hier ist ruhig und steht im Einklang mit der Natur, so gut es eben geht, wenn Menschen im Spiel sind. Takumi, der sich selbst als „Handlanger“ bezeichnet, schöpft reinstes Quellwasser in einen Kanister – das Lokal des Dorfs nutzt es für den Nudelteig – und pflückt dafür auch wilden Wasabi. Am Nachmittag holt er seine Tochter von der Schule ab; wenn er zu spät kommt, was öfter passiert, wandert sie durch den Wald nach Hause. Die beiden sind, das darf man annehmen, glücklich mit diesem Alltag, diesem Gleichlauf der Dinge.​ Doch der droht aus dem Rhythmus zu kommen: Eine Firma in Tokio plant hier ein „Glamping“-Gebiet, einen luxuriösen Campingplatz. Das Dorf ist beunruhigt – bisher ist man ohne erholungsbedürftige Städter sehr gut ausgekommen; die Auswirkungen auf die Natur sind nicht absehbar – und die Informationen der „Glamping“-Planer weder völlig glaubhaft noch detailliert durchdacht.​

 

Mit „Drive my car“ gewann er 2022 einen Oscar: der japanische Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi (45).

Mit „Drive my car“ gewann er 2022 einen Oscar: der japanische Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi (45). Foto: Pandora

Regisseur/Autor Hamaguchi lässt hier, vereinfacht gesagt, Großstadt auf Dorf prallen, urbane Hektik auf ländliche Ruhe, ungebremsten Kapitalismus auf gebremstes Interesse an Kapital. Nur: „Evil does not exist“ ist dabei weder simple Öko-Parabel noch schlichte Kapititalismus-Kritik. Das Böse an sich gibt es nicht, sagt uns der Filmtitel (sofern man ihm glauben mag); wobei das „not“ im Vorspann mit knalligem Rot betont wird. Was aber nicht bedeutet, dass niemand etwas Böses tut, je nach den Umständen.​

Die beiden „Glamping“-Abgesandten aus Tokio sind keine Unmenschen, sondern einfach kleine Rädchen im großen Prozess. In der zentralen Szene, als die beiden ihr Projekt vorstellen, werden sie von den Bewohnern verbal auseinandergenommen – jede Frage, ob nach dem Standort des Klärtanks oder den Arbeitszeiten des Campingplatzwächters, trifft ins Schwarze. Die Firma hat allzu hektisch geplant, drängt doch die Zeit, da sie noch ein paar Corona-Zuschüsse abgreifen will. Es ist ein filmisches Kabinettstück, wie hier eine scheinbar schlichte Sequenz in einem mausgrauen Gemeindehäuschen, wo (meist) in aller Ruhe unter anderem über Kläranlagen diskutiert wird, zu einer enorm aufregenden, viertelstündigen Szene wird; jedes Wort, jeder Blick zählt.​

Toilettenputzen in Tokio: „Perfect Days“ von Wim Wenders 

Auf Anweisung des „Glamping“-Chefs in Tokio versuchen die Gesandten, den „Handlanger“ Takumi sozusagen mit ins Boot zu nehmen und bieten ihm eine Stelle am Campingplatz an. Doch die Situation ändert sich schlagartig und führt zu jenem Ende, über das man lange grübeln kann. Ob man dieses nun für gelungen hält oder nicht: „Evil does not exist“ ist ein herausragender Film, der bei aller Betrachtung der Natur keiner Öko-Romantik verfällt – anders als ein „Glamping“-Abgesandter, für den in einer tragikomischen Szene der kurze Akt des Holzhackens zu einem Erweckungserlebnis wird: Fortan will er sein Leben abseits der Großstadt in der Natur verbringen.​

„Ein Werk darf auch verschwinden“

Entstanden ist der Film ungewöhnlich: Hamaguchi hatte ursprünglich geplant, nur Naturszenen als Bebilderung für eine Performance der Komponisten Eiko Ishibashi aufzunehmen. Das Projekt wuchs, er schrieb ein Drehbuch – das Ergebnis waren dann die Performance-Unterlegung „Gift“ und der Spielfilm „Evil does not exist“. Ishibashis Musik ist im Film nicht oft eingesetzt, aber wenn, dann mit Wucht, nicht als Bild-Illustrierung, sondern eher als tragisch umflorter Kommentar, vielleicht als Verkörperung der Natur selbst? Beim Anfang des Films jedenfalls reißt sie schlagartig ab — sobald ein Mensch ins Bild kommt.​

„Evil does not exist“ läuft im Saarbrücker Filmhaus, außerdem Sonntag, 12.5., 19 Uhr in der Kinowerkstatt St. Ingbert.
Hamaguchis Film „Drive my car“ ist zurzeit in der Mediathek von Arte zu sehen.

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