KINOBLOG

Film und dieses & jenes, von Tobias Keßler

„Wild wie das Meer“ von Héloise Pelloquet

Wild wie das Meer

Félix Lefebvre als Maxence, Cécile de France als Chiara.    Foto:  Why not productions

 

Am Anfang erwarten Chiara und Antoine nur wenig von ihrem neuen Lehrling: Bei der Überfahrt zur kleinen Atlantikinsel, auf der die Eheleute als Fischer arbeiten, wird Maxence erstmal seekrank; seine zarten Hände scheinen eher zu der mitgebrachten Oboe zu passen denn zu Netzen, Reusen und salzigen Meeresfrüchten. Doch der junge Bürgersohn packt nach einer Zeit der Eingewöhnung überraschend gut mit an, gewinnt den Respekt Antoines; und zwischen der Mittvierzigerin Chiara und dem halb so alten Maxence knistert es merklich – filmisch symbolisch begleitet von dem ein oder anderen Atlantiksturm.​

„Das ist nie passiert!“​

Der französische Film „Wild wie das Meer“ erzählt von einer Ehe, von einer Affäre, auch von den Strukturen einer Dorfgemeinschaft, von deren Solidarität, aber auch von deren Enge und Doppelmoral. Chiara und Antoine sind seit 19 Jahren verheiratet, arbeiten täglich zusammen, auf dem Boot sitzt jeder Handgriff, sie erscheinen als liebevolle Einheit, bei der Arbeit wie zuhause. Doch hat sich da auch eine gewisse Routine eingeschlichen? Jedenfalls weckt Maxence nach einigen Monaten der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens im Häuschen an der Küste enormes Begehren bei Chiara – nach einer feuchtfröhlichen Hochzeitsparty landen sie für eine halbe Minute im Lotterbett, bis Chiara abbricht und die Losung ausgibt: „Das ist nie passiert!“ Doch als ihr politisch engagierter Mann für zwei Wochen nach London muss, zu Verhandlungen über Fischfang im Rahmen des Brexit, ist die Affäre nicht mehr aufzuhalten.​
Der Film ist, nach mehreren Kurzfilmen, das Langfilmdebüt von Regisseurin Héloise Pelloquet; ihr Drehbuch, das sie mit Ko-Autor Rémi Brachet schrieb, lässt einiges vage, deutet lieber an, als alles zu Ende zu erklären. Da klingt einiges am Rande an: die zunehmende Industrialisierung des Fischfangs und die Probleme von Mini-Firmen wie Chiara/Antoine; das Bewusstsein, wie anders ihre finanzielle Situation ist als die Maxences Familie mit Pool und Antiquitäten im Haus. Und doch würde man sich für das Zentrum der Geschichte mehr handfeste Information wünschen, gerne mehr Laufzeit als diese kurzweiligen 90 Minuten. Worum geht es Chiara bei ihrer Affäre? Erotik? Ausbruch aus einem Leben, das man stabil und verlässlich nennen kann, aber auch routiniert und monoton? Und ist der junge Maxence für sie mehr ein Katalysator des Ausbruchs als ein geliebtes Gegenüber?​

Die Besetzung hilft​

Vielleicht weiß das Chiara selbst nicht – aber es bleibt beim Anschauen merkwürdig vage und bisweilen unglaubwürdig. Immerhin – diese Schwächen des Drehbuchs werden teilweise von der famosen Besetzung überspielt: Grégoire Monsaingeon als kerniger, sanftmütiger Ehemann, Félix Lefebvre als intensiv, möglicherweise aber nur kurzzeitig verliebter Maxence und vor allem Cécile de France, bei uns gerade auch im Film „Im Herzen jung“ zu sehen. Sie ist das Herz des Films, in nahezu jeder Szene zu sehen. Ihre Chiara ist eine resolute Person und dabei nicht immer eine Trägerin der Sympathie. Bei ihrem Freiheitswillen schwingt eine gewisse Egozentrik mit – und eine Naivität, die verständlich ist. Seit 20 Jahren lebt die Belgierin auf der kleinen französischen Insel, glaubt sich bestens integriert – doch als ihre Affäre ruchbar wird, ist klar, dass sie immer eine „Zugezogene“ bleiben wird. Und es urteilen auch Freunde mit moralisch gerecktem Zeigefinger, während sie selbst Affären haben oder hatten.  Gefilmt wurde über mehrere Jahreszeiten hinweg, um die Atlantikinsel Noirmoutier herum, in stimmungsvollen, atmosphärischen Bildern (Kamera: Augustin Barbaroux). Die betonen ebenso die Schönheit wie die Schroffheit der Region – und die Intensität dieser Geschichte, die in einem bittersüßen Epilog endet.​

Die bunte Ödnis: „Heart of Stone“ mit Gal Gadot bei Netflix

Netflix gal Gadot Heart of Stone

Gal Gadot im freien Fall in „Heart of Stone“.  Foto: Netflix

So viel Aufwand, so viele Schauplätze, so viel Action – und dann so viel Mittelmaß. So viel bunte Monotonie. „Heart of Stone“ ist ein merkwürdiger Film. Er will James Bond und „Mission: Impossible“ in einem sein, der Streaming-Anbieter Netflix hat viele Millionen investiert. Aber das Ergebnis, zurzeit der meistgesehene Film bei Netflix, ist ein ewiges Déjà-vu. Gal Gadot („Wonder Woman“, auch Mitproduzentin) spielt Rachel Stone, scheinbar eine verhuschte Agentin beim britischen Geheimdienst, die sich bei gefährlichen Einsätzen auf der Toilette versteckt. In Wahrheit ist sie die Super-Agentin der Super-Geheimorganisation „The Charter“, die ein Super-Technikdingsbums namens „Herz“ besitzt: ein Objekt, mit dem man sich in jeden PC, jedes Handy, jede Überwachungskamera hacken kann. Die totale Überwachung also, aber natürlich zum Wohle der Menschheit. Mit so viel Information greift man überall auf der Welt ein, „ohne die Erlaubnis der Regierungen“; die seien ja ohnehin überfordert und, das darf man weiterdenken, behindert von Lappalien wie etwa Gesetzen.

Schweighöfer als Mann der Technik

Kein Wunder, dass auch Finsterlinge dieses „Herz“ haben wollen, und so beginnt eine Jagd um den Globus, von „London – England“ wie uns der Film geografisch belehrt, über Lissabon, den Senegal bis nach Island. Wechselnde Schauplätze, aufwändige Action-Sequenzen – das hätte das Potenzial für sichtlich angestrebten 007-Flair. Aber richtig zünden mag das Ganze nicht, weil vieles abgestanden wirkt. Da ist Matthias Schweighöfer als Klischee-Technikgenie von „Charter“, das mit großen Armbewegungen projizierte Datenbilder durch den Raum schiebt und der Agentin Stone auf die Sekunde genau vorhersagt, wann Finsterlinge ihre Wohnungstür aufbrechen werden – merkwürdig nur, dass ihm entging, dass sie schon länger schwer bewaffnet im Hausflur herumstehen.

„Los los los!“ und „Nein nein nein!“

Actionfilme sind selten ein Hort der Logik, aber „Heart of Stone“ macht es sich dann doch zu einfach: Stone wandert problemlos in das unverschlossene Haus eines Agentenkollegen, fummelt am bereitstehenden Laptop herum, erklärt der dort sitzenden Katze, was sie vor hat (damit wir das auch wissen), kitzelt aus dem PC eine höchst geheime Info heraus, um wieder zu gehen, ohne den Laptop auch nur mal zuzuklappen. Flach wie ein zugeklappter Laptop sind auch viele Sätze, vom actionfilmüblichen „Los los los!“ oder „Nein nein nein!“ bis zum Doof-Dialog-Klassiker „Das ist kein Spiel“. Die Erklärbär-Szenen zwischen den kompetenten, aber in dieser Art schon oft gesehenen Action-Sequenzen sind bleiern.

Die totale Überwachung

Wohltuend ist, dass Tom Harpers Film keine große geschlechterpolitische Sache, kein Statement daraus macht, dass es keinen Action-Helden, sondern eine -Heldin gibt. Aber die Hauptdarstellerin Gal Gadot ist nur mäßig ausdrucksstark; den oft müden Drehbuchsätzen haucht sie kein Leben ein, auch denen nicht, die sich oberflächlich um den Konflikt zwischen kalten Daten und menschlicher Intuition drehen. Jedenfalls wird totale Überwachung nicht dadurch sympathischer, dass man von Frau Gadot und Herrn Schweighöfer ausgespäht wird. Vielleicht ist es ja eine gute Nachricht, dass der Film so schlecht ist (und das mediale Echo entsprechend) – möglicherweise pumpt Netflix einige Millionen wieder mal in ambitioniertere Filme, wie das Unternehmen es etwa bei „Roma“ und Scorseses „The Irishman“ getan hat.

Musiker Stephan Mathieu: „Ein Werk darf auch verschwinden“

Stephan Mathieu David Sylvian

Der Saarbrücker Musiker Stephan Mathieu, jetzt ein sehr gesuchter Mastering Engineer mit Studio in Bonn.  Foto: Caro Mikalef

 

Der Saarbrücker Stephan Mathieu war mit seiner elektroakustischen Musik über Jahre erfolgreich – bis er mit dem Komponieren aufhörte, die letzten Alben verkaufte und seine Arbeiten aus dem Streaming-Angebot löschte. Ein radikaler Schritt? Nein, findet Mathieu.​

Es ist nicht einfach zu erklären. Eigentlich nimmt Stephan Mathieu aus Saarbrücken keine eigene Musik mehr auf; außerdem hat er alle seine Aufnahmen aus dem Streaming-Angebot herausgenommen. Seine um die 50 Alben und EPs presst er nicht nach. Tabula rasa. Und doch ist gerade ein Album herausgekommen, wenn auch ohne sein Zutun. Und obwohl der Saarbrücker keine Musik, keine Klangkunst mehr aufnimmt, ist der 55-Jährige doch täglich (und oft auch nächtlich) in seinem Bonner Tonstudio sehr beschäftigt – wohl mehr als je zuvor.​

Stephan Mathieu erklärt, wie das alles zusammenpasst. Über Jahre war er mit seiner elektroakustischen, eigenwilligen, bisweilen meditativen Musik international erfolgreich; seine Arbeiten veröffentlichte er seit 2012 über sein eigenes Label mit dem schönen Namen „Schwebung“. Doch im September 2022 machte er einen radikalen Schritt und zog  seine Musik aus dem Verkehr, auch im Streaming. „Meine Stücke dauern manchmal eine ganze Stunde lang. Beim Streaming ist die Aufmerksamkeitsspanne kurz, da wird schnell zum nächsten Stück weitergeklickt.“ Zu dieser Kultur der Schnelllebigkeit wollte er nicht beitragen, „die Konsequenz daraus ist, das Ganze verschwinden zu lassen“, sagt Mathieu – und lacht. Tragisch findet er das alles nicht, denn seine Interessen haben sich verschoben. „Und ich mag die Idee: Ein Werk darf auch verschwinden.“​

„Wandermüde“ von Stephan Mathieu und David Sylvian

Aufgetaucht ist allerdings gerade ein Album als Wiederveröffentlichung, das vor zehn Jahren erstmals erschien – und jetzt der Grund, dass Mathieu nach einigen Jahren wieder ein Interview gibt: „Wandermüde“, eine Zusammenarbeit von Mathieu und David Sylvian. Jener Engländer war mit seiner Band Japan in den 1980ern ein großer Popstar, wandte sich solo aber rasch von üblichen Musikstrukturen ab und dem Experimentellen zu, arbeitete unter anderem mit Holger Czukay von der deutschen Avantgarde-Band Can. 2011 stieß  Sylvian auf Mathieus Musik: „Er schrieb mir, dass er meine Musik sehr mag“, sagt er, „das war schon eine große Sache, denn Japan und Sylvians erste Solo-Aufnahmen waren sehr wichtig für mich“.​

 

„Wandermüde“ heißt das Album von David Sylvian und Stephan Mathieu. Vor zehn Jahren erschienen und vergriffen, wird es jetzt vom Label Grönland wieder veröffentlicht. Mathieu und Sylvian haben nach einem „heftigen Crash“ keinen Kontakt mehr. Foto: Grönland

Der Brite lud den Saarbrücker zum norwegischen Punkt Festival in Kristiansand ein, mit einer besonderen Aufgabe: Während Sylvian konzertierte, remixte, überarbeitete und verfremdete Mathieu per Computer die Live-Aufnahmen, die dann einem anderen Publikum in einem anderen Saal vorgespielt wurden. „Das Ergebnis hat Sylvian gefallen, er fragte mich dann, ob ich sein Album ‚Blemish‘ neu bearbeiten wolle.“ Mathieu wollte, und so schickte Sylvian ihm einige der Instrumentalspuren seines 2003er Albums, vor allem Gitarrenimprovisationen von ihm selbst, Derek Bailey und Christian Fennesz. Aus denen formte Mathieu dann „Wandermüde“, unabhängig von Sylvian: ein fließendes, pulsierendes, atmosphärisches Instrumentalwerk. Mit dem Original-Album hat das nur wenig zu tun – was ja auch Sinn der Sache ist.​

„Das war alles in allem ein wirklich schlechtes Erlebnis“

Herbert Grönemeyers Label Grönland, das sich unter anderem um die Arbeiten des legendären Produzenten (und ehemaligen SR-Tontechnikers) Conny Plank kümmert, bringt die klassischen Sylvian-Alben neu heraus, eben auch „Wandermüde“. Natürlich freut sich Mathieu jetzt über die Wiederveröffentlichung. Und doch: Spricht man mit ihm über David Sylvian, spürt man eine gewisse Zurückhaltung – es lässt  sich heraushören, dass eine spätere Tournee mit Sylvian, Mathieu und Gitarrist Christian Fennesz eine Rolle spielt bei Mathieus Rückzug vom Musikmachen, vielleicht sogar der Anfang von dessen Ende war. „Das war alles in allem ein wirklich schlechtes Erlebnis“, sagt er, „ein heftiger Crash zwischen drei sehr unterschiedlichen Herangehensweisen, um ähnliche Ziele zu erreichen“. Kontakt hatten Mathieu und Sylvian seitdem nicht mehr, auch nicht im Rahmen der „Wandermüde“-Wiederveröffentlichung.​

Seit 2017 nimmt Mathieu keine eigene Musik mehr auf und hat sich ganz einer Studioarbeit für Andere verschrieben, die man erklären muss: Mastering. „Das ist der letzte kreative Schritt, bevor ein Album oder ein Stück veröffentlicht wird. Ich stelle das Reproduktionsmaster her und bin so die letzte Kontrollinstanz, bevor ein Werk in die Welt entlassen wird.“ Wie sehr Mathieu eingreift, hängt vom Ausgangsmaterial ab. „Manche Projekte muss ich komplett auf den Kopf stellen, bei anderen geht es nur noch um den Feinschliff, die letzten fünf bis zehn Prozent, bevor etwas toll klingt. Der Großteil meiner Projekte liegt zwischen diesen beiden Extremen.“​

Mathieu, Vater von drei Kindern, lebt seit zehn Jahren in Bonn, aus familiären Gründen („Bonn hatte ich eigentlich nie auf dem Zettel“); den Großteil der 1990er hatte er in Berlin als Schlagzeuger verbracht, bevor er wieder nach Saarbrücken ging. 1999 verlieh ihm die Stadt einen Förderpreis, 2001 bis 2005 lehrte er an der Hochschule für Bildende Künste (HBK).​

Das sonnige Heimstudio​

In Bonn hat sich Mathieu über Jahre ein Mastering-Studio eingerichtet, das seit 2021 fertiggestellt ist und in dem er auch wohnt. „Ein akustisch wahnsinnig guter Raum. Ich höre hier gleich, ob es an etwas mangelt, was besonders gelungen ist und in welche Richtung ich das Material drehen kann, damit es die Vision meiner Artists und Labels perfekt transportiert. Viele Leute produzieren zuhause und haben dort nicht die idealen akustischen Bedingungen, um ihre Arbeit im Detail beurteilen zu können. In meinem Raum springen mich klangliche Defizite direkt an, die ich dann ausgleichen kann.“ Das Heimstudio bringt auch zeitliche Flexibilität mit sich, die er wegen der Kommunikation mit der internationalen Kundschaft gut gebrauchen kann. „Ich habe gerade zwei unterschiedlichen Projekte mit australischen Musikern fertiggestellt, die stehen auf, wenn es für mich Zeit wird, das Licht auszuschalten.“​

 

Stephan Mathieu David Sylvian

Ein Blick in das Mastering-Studio.    Foto: Stephan Mathieu

Die Kundenliste ist lang und stilistisch weit gefächert. Unter anderem mit den Komponistinnen Laurie Spiegel und Kali Malone aus den USA, Nine-Inch-Nails-Keyboarder Alessandro Cortini, SUNN O)))-Gitarrist Stephen O’Malley und dem finnischen Elektroniker Vladislav Delay. Genregrenzen gibt es bei Mathieu nicht. „Für mich ist jeder Sound gleichwertig, von einer Staubsauger-Aufnahme von 1969 bis zeitgenössischer Kammermusik.“ Das könnte mit seiner kosmopolitischen musikalischen Früherziehung in Saarbrücken zu tun haben. Mathieus Eltern waren Hausmeister auf dem Saarbrücker Campus für das Gästehaus und das Institut für Entwicklungshilfe. „Wir sind da 1968 hingezogen, als ich ein Jahr alt war“, sagt Mathieu, „zwei Häuser, die abgeschlagen von allem anderen mitten im Wald stehen“. Die Natur war schon mal ein Faktor, „davon steckt ganz viel in mir drin, der Wald ist ja ein akustisch enorm interessanter Raum“. Dazu wuchs er mit Kindern von Gastprofessorinnen und -professoren  aus aller Welt auf, aus den USA, Korea, England, Japan – ein großer kultureller Austausch.​

Bei Depeche Mode brennt der Pulli

Die Eltern hatten großen musikalischen Einfluss: Mathieus Mutter arbeitete in jenem Plattenladen, der dann zum seligen „Saraphon“ wurde, sein Vater kaufte bereits früh elektronische Musik, vom Franzosen Jean-Michel Jarre etwa oder vom Japaner Tomita. Ebenso liefen zuhause die Beatles, Kinks, die Beach Boys. Mit zehn Jahren hatte Mathieu eine eigene Sammlung von 200 LPs.​

In der nahen Aula auf dem Campus ging er „zu endlos vielen Konzerten“, oft bereits zu den Soundchecks – Mathieus Vater kannte den Hausmeister der Aula. Pat Metheny etwa sah er 1979 und 1981, „bei der ersten Tour mit seinem Gitarrensynthesizer, auf dem er ein für einen 13-Jährigen schier endloses Solo spielte, das wie ein Trompetenkonzert klang. Ringsum lagen Leute auf dem Boden und haben gekifft, das war schon ein tiefgreifendes Erlebnis.“  Ein Saarbrücker Konzert von Depeche Mode in der Uni der Aula 1982 bleibt ihm unvergesslich, auch weil sich eine Wunderkerze durch seinen neuen, hart ersparten Fiorucci-Pulli brannte.​

Frankfurter Konzertbesuche bei den Einstürzenden Neubauten haben „meine Auffassung von Musik total verändert“ und auch erweitert – Neue Musik tat es Mathieu, der damals noch Schlagzeug spielte, ebenso an wie Jazz und Improvisiertes. Die Entdeckung des Computers als Musikinstrument ließ ihn das Schlagzeug dann vergessen, zwischen 1997 und 2017 habe er „Tag und Nacht“ mit dem Computer gearbeitet, Klänge  erschaffen, verfremdet, Musik neu zusammengefügt.​

Und das ist jetzt alles vorbei? „Ich würde nie nie sagen“, gibt Mathieu zu, „aber das Verlangen, immer wieder eigene Musik zu schaffen, habe ich nicht mehr“. Die Arbeit als Mastering Engineer sei erfüllend – und selbst eine Kunstform. „Es ist ein wenig wie Bildhauen – da wird etwas geformt, entschlackt, Klänge werden präziser. Ich liebe meine Arbeit. Im Grunde mache ich weiterhin jeden Tag Musik.“​

Kontakt zu Stephan Mathieu:
www.schwebung-mastering.com

 

 

Arbeit in der Kino-Nische: Die 50. Ausgabe des Magazins „35 Millimeter“

Jörg Mathieu, Gründer von „35 Millimeter“

Jörg Mathieu, Gründer von „35 Millimeter“, als Freund der Kino-Klassik stilecht mit einem T-Shirt zum Film „Svengali“ aus dem Jahr 1931. Foto: Layoutist

Ein ambitioniertes Konzept: Die saarländische Filmzeitschrift „35 Millimeter“ widmet sich bewusst nur den ersten 70 Jahren Kino. Das Heft feiert jetzt seine 50. Ausgabe – wie funktioniert das Ganze?

„Wir sind die Nische in der Nische“, gibt Jörg Mathieu zu. Aber dort fühlen sich einige Leserinnen und Leser sehr wohl – genug Kino-Anhänger jedenfalls, dass das saarländische Magazin mit seinem ambitionierten Konzept nun seine 50. Ausgabe feiern kann: „35 Millimeter“ widmet sich den ersten 70 Jahren klassischer Kinogeschichte, zwischen 1895 und 1965. Um Klassiker geht es ebenso wie um heute Vergessenes und Ausgrabenswertes, man liest Texte über einfarbige Stummfilme oder knallbunte Musicals, Western, Krimis, Science-Fiction. Jedes Genre ist dabei – aber im Jahr 1965 ist eben Schluss. Um das aktuelle Kino kümmert sich übrigens das St. Ingberter Magazin „Deadline“, das gerade seine 100. Ausgabe herausgebracht hat. „Es geht ja nicht um alte Schinken“, sagt Mathieu über das „35 Millimeter“-Magazin, „sondern um das Bewahren von Filmkultur“. Natürlich ist da Nostalgie im Spiel, „aber wir verweigern uns nicht der Moderne“. Vor allem geht es um filmische Entdeckungen oder um neue Sichtweisen, nicht um das Wiederkäuen des filmischen Kanons. Selbst Mathieu, 54, Kenner der klassischen Kino-Ära, gibt zu: „Ich weiß höchstens die Hälfte von dem, was bei uns in einem Heft steht.“

An Geldverdienen ist nicht zu denken

Vor neun Jahren ist die erste Ausgabe erschienen, Mathieu war damals Chefredakteur, Herausgeber und Gestalter zugleich. Das Debüt war ein Testballon, „mit einem noch nicht ganz professionellen Layout“ und mit Texten von Film-Enthusiastinnen und -Enthusiasten, die aus Spaß an der filmischen Freude schreiben, ehrenamtlich. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Denn, so abgedroschen es klingen mag, „es geht der Redaktion tatsächlich um die Sache“, sagt Mathieu. Mit einem derart spezialisierten Magazin sei an Geldverdienen nicht zu denken, „noch dazu im Medium Print, das immer weniger wird“. Vor einigen Jahren habe das Heft „auch einen Durchhänger gehabt“, sagt er, es war damals fraglich, ob es sich weiterhin tragen würde. Und das ist die Mindestbedingung. „Sobald man privates Geld reinstecken muss, hat es keinen Sinn mehr. Wir hätten aufgehört.“

 

Die Jubiläumsausgabe.

 

Doch die Lage hat sich stabilisiert, unter anderem durch das Coronavirus, das sonst viel Kultur bedroht und zum Teil zerstört hat. „Wir sind in gewisser Weise Pandemiegewinner – die Menschen waren zu Hause, haben mehr gelesen, unsere Zahlen sind gestiegen.“ Die Auflage des Magazins, das viermal im Jahr erscheint, liegt bei um die 500 Stück, sagt Mathieu, die Zahl der Abos bei 186. Eine Nische eben, klein, aber fein – so zählt etwa Regisseur Dominik Graf („Fabian“, „Die Katze“, „Die geliebten Schwestern“) zu den Abonnenten und bezeichnete das Magazin zum fünften Geburtstag als „eine Art kleines Wunder“, als „schriftliches Filmmuseum“, sogar als „warmen Pool der cineastischen Wollust“. Ähnlich sah es der renommierte Filmwissenschaftler und Autor Hans Helmut Prinzler, der kurz vor seinem Tod Mitte Juni zur 50. Ausgabe per Grußwort gratulierte, das Heft „vorbildlich“ nannte, „einen Traum für einen Filmhistoriker“. Für Mathieu „ein Ritterschlag“.

Viel Lob also für das Magazin, das dennoch mit der Überalterung seines Publikums kämpfen muss. „Wir haben immer noch zu wenige junge Leserinnen und Leser“, sagt Mathieu, „die größten Gruppen sind 45 plus und dann 60 plus“. Manchmal bekomme er Briefe, in dem ihm Angehörige vom Tod eines Abonnenten schrieben und auf weitere Hefte verzichteten.

Eine Schwesternzeitschrift

Über die Jahre hat sich die Welt von „35 Millimeter“ erweitert. Neben den regulären Magazinen sind Sonderausgaben erschienen – zu den Genres Western, Gangsterfilm und Melodram etwa, über Filmstar und Gruselmythos Vincent Price (Mathieu hatte 2016 dessen Tochter Victoria zu einer Veranstaltung ins Saarbrücker Filmhaus geholt). Und nebenbei ist eine Schwesterzeitschrift entstanden: „70 Millimeter“ heißt sie und widmet sich in bisher vier Ausgaben – im handlich quadratischen Format – den Filmjahren 1966 bis 1975.

100 Seiten hat die Jubiläumsausgabe Nummer 50, sie kostet 10,40 Euro; den stark gestiegenen Papierpreis spüre man bei den Druckkosten schmerzhaft, sagt Mathieu – ab Heft 51 soll der Preis bei 7,20 Euro liegen. Die Jubiläumsausgabe ist wie die Vorgänger aufgeteilt in ein Hauptthema und die üblichen Rubriken. Schwerpunkt ist das Filmstudio 20th Century Fox (2019 von Disney einverleibt): Da geht es unter anderem um Filmemacher Frank Borzage, einst Regie-Star und oscarprämiert, heute vergessen, auch über die „Charlie Chan“- und „Mr. Moto“-Filmreihen um asiatische Detektive (jeweils gespielt von den Nicht-Asiaten Warner Oland und Peter Lorre), um die „Film Noir“-Krimis des Fox-Studios und, in einer Einzelbetrachtung, um John Fords Klassiker „Die Früchte des Zorns“.

Buster Keaton und die KI

Abseits des Schwerpunkts kann man Texte lesen über neue Heimkinoveröffentlichungen, Filmbücher, über die Filmstoffe von James M. Barrie abseits „Peter Pan“ – und ein Interview mit ChatGPT über das frühe Filmerbe. Ganz faktensicher ist die Künstliche Intelligenz nicht, erwähnt sie doch einen Film von Buster Keaton, den es nicht gibt, der aber einen charmanten fiktiven Titel hat: „Der goldene Windbeutel“; auf die Frage, wie der Vampirfilm „Nosferatu“ aussähe, hätte ihn statt Friedrich Wilhelm Murnau eine Frau inszeniert, reagiert die ChatGPT mit angestaubten Geschlechterklischees: Eine Regisseurin hätte „vielleicht eine sanftere, poetischere und zugleich melancholische Ästhetik bevorzugt“. Soso. Mit Kathryn Bigelows Vampirfilm „Near Dark“ scheint die Künstliche Intelligenz nicht vertraut zu sein.

Mathieu, der neben „35 Millimeter“ mit der Agentur Indiera Promo Konzerte organisiert hat und das jetzt unter dem Banner Artificial Impertinenz weiterführt, hat die Chefredaktion von 35 Millimeter mittlerweile abgegeben; Clemens Gerhard Williges leitet die ehrenamtliche Redaktion mit einem Dutzend Schreiberinnen und Schreibern. Mathieu kümmert sich um das Geschäftliche, um die Layout-Gestaltung („das dauert so zwei bis drei Wochen pro Heft“) – und den Eigenvertrieb: Zuhause in Dudweiler arbeitet er Einzelbestellungen und Abos ab, tütet Hefte ein und verschickt sie. „Da schleppt man mehrfach die Woche schon einige Zentner zur Post.“ Für das klassische Kino ist eben nichts zu schwer.

Kontakt und Informationen:
https://35mm-retrofilmmagazin.de

„Frank Riva“ mit Alain Delon – ein halber Delon ist besser als gar keiner

Kino-Legenden sterben nicht – sie gehen mitunter zum Fernsehen. Nicht jede, aber unter anderem Alain Delon. Dessen ganze große Kino-Zeit endete in den 1970ern, auch durch den Tod filmischer Vaterfiguren wie Jean-Pierre Melville und Luchino Visconti. In den 1980ern hielten ihn vor allem Krimis  am Leben, in den 1990ern verwässerte die Karriere weiter. Nach seiner ersten TV-Serie „Fabio Montale“ von 2001 drehte er 2003/04 „Frank Riva“: sechs abendfüllende Teile, ganz zugeschnitten auf Delon. Er spielt einen Kommissar, der 25 Jahre nach seinem scheinbaren Tod in Paris auftaucht; sein Bruder wurde ermordet, Riva ermittelt nun wieder in dem Milieu der Drogenmafia, die ihn einst zum Untertauchen zwang.

Plot und TV-Optik reißen keine Bäume aus, dennoch hält Delon, damals Ende 60, das Ganze mit seiner Präsenz zusammen – und mit der Filmhistorie, die er mit sich herumträgt. Da wandelt eben nicht nur Frank Riva durch die Unterwelt, sondern auch der Mythos Delon. Älter und grauer als einst, aber doch sehenswert wie immer als harter Hund, den eine gewisse Melancholie umflort. Schade allerdings: Pidax veröffentlicht nur die erste Staffel mit drei Folgen, die drei weiteren hat das koproduzierende ZDF weder ausgestrahlt noch synchronisiert. Wer alles sehen will, muss zum Import greifen.

Erschienen bei Pidax.

„Was heißt hier Ende?“ Dominik Grafs Film über Michael Althen

Der Filmjournalist Michael Althen (1962-2011). Foto: Good!Movies

Seine Texte seien ja schön gewesen, sagt Michael Althens Vater im Film, „aber die Nachrufe – die waren wunderschön“. Das gilt auch für diesen filmischen Nachruf „Was heißt hier Ende?“ von Dominik Graf, der 2015 erstmals im Kino lief. Graf hat neben seinen Spielfilmen („Die Katze“, „Geliebte Schwestern“, „Fabian“) immer wieder auch Filmessays gedreht – einige auch zusammen mit dem Filmkritiker Michael Althen, der ihm ein Freund wurde und 2011 starb, im Alter von 48 Jahren.​

Grafs Film ist ein mosaikartiges Porträt, gefühlvoll, aber nicht sentimental – um einen Kino-Liebenden geht es, dessen Bild Graf aus vielen Teilen zusammensetzt: Da sind Ausschnitte aus Althens eigenen Filmen, vor allem über den Maler Nicolas de Staël, der ihn faszinierte; Texte Althens übers Kino, die Graf wundervoll raunend liest; da sind die Kinder, die Witwe, die Freunde und Kollegen, die Anekdoten erzählen – Kritiker wie Andreas Kilb, Tobias Kniebe, Harald Pauli, Filmemacher wie Christian Petzold und Caroline Link.​

Die Angst um Antonionis Nachruf​

Von dem Nachtschwärmer Althen hören wir da, der erst schrieb, wenn alle um ihn herum ins Bett gegangen waren; der kaum etwas mehr fürchtete, als dass Regisseur Michelangelo Antonioni stirbt, wenn Althen in Urlaub ist und er deshalb keinen Nachruf schreiben kann. Althen schrieb den Text dann doch, nach jahrelangem Zögern vorab, „für die Schublade“ sozusagen – einen Tag später starb Antonioni. Und Althen gab sich eine gewisse Mitschuld, erzählt seine Frau lächelnd.​

„Schon 20 Mal gesehen hat – und davon 18 Mal besser“​

Natürlich erzählen die Freunde vor allem Nettes über Althen, auch wenn die Kollegin Doris Kuhn dessen manchmal etwas gefühlsbeladenen und bedeutsamen Stil sanft veräppelt: wenn Althen etwa von den „Pfützen der Erinnerung“ spricht. Dabei schlägt der Film einen thematisch weiten Bogen – ist die Filmkritik langweilig geworden? Hat sie nur noch Service-Charakter? Wie kann man sich eine Begeisterung fürs Kino erhalten, wenn man sich 30 Jahre lang berufsmäßig Filme anschaut? Und alles, wie Andreas Kilb es beschreibt, „schon 20 Mal gesehen hat – und davon 18 Mal besser“? Auch darum geht es in diesem schönen Nachruf.​

Vater, Tochter, Cowboystiefel – „Die Rumba-Therapie“ von Franck Dubosc

Nachbarin Fanny (Marie-Philomène Nga) bringt Tony (Franck Dubosc) ein wenig Rumba bei – sonst landet er nicht in dem Tanzkurs, den seine Tochter leitet, die ihn noch nie gesehen hat. ​ Foto: Neue Visionen

Der französische Film „Die Rumba-Therapie“ erzählt von einer ersten späten Begegnung zwischen Vater und Tochter – und noch vom Tanzen und einem Wettbewerb. Zu viel des Guten?​

Armer Tony. Vom großen Lebenstraum Amerika sind nur ein Tattoo auf dem Arm und ein Paar Cowboystiefel geblieben, die an ihm rührend und ein bisschen lächerlich aussehen. Statt auf dem Motorrad die Route 66 entlang zu brummen, tuckert der Mittfünfziger morgens mit dem Schulbus irgendwo bei Paris herum. Immerhin: Die Kinder mögen ihren brummigen Fahrer, der ihnen amerikanische Flüche beibringt. Zu Hause flucht er im Unterhemd über das Fernsehprogramm (zu wenig Kriegsfilme, zu viel Eiskunstlauf) und tröstet sich mit der Kombination aus fettem Abendessen, Flaschenbier und Nikotin. Da kommt ein Herzanfall auf der Toilette im Busdepot wenig überraschend. Mit dem knapp verpassten Tod im Hinterkopf fasst Tony einen Plan: Er will seine heute erwachsene Tochter kennenlernen, die er damals im Stich ließ und die er noch nie gesehen hat.​

Man kann es sich denken – die Komödie „Die Rumba-Therapie“ erzählt die Geschichte einer Läuterung und lässt den unterkühlten Brummbär Tony mit Herzenswärme auftauen; doch Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller Franck Dubosc, ein in seiner Heimat ziemlich populärer Franzose, verbindet das Ganze noch mit dem Genre des Tanzfilms: Am Ende geht es nicht nur um eine Vater-Tochter-Zusammenführung, sondern auch um einen Wettbewerb der schwingenden Tanzbeine.​

Michel Houellebecq als „Doktor Mory“​

Genau die stehen dem Film in seinem letzten Drittel manchmal im Weg – doch bis dahin ist „Die Rumba-Therapie“ (im Original heißt er etwas weniger medizinisch „Rumba la vie“) immer wieder hinreißend, nicht zuletzt wegen Duboscs Dialogen und angeschrägten Figuren. Wenn Tony im Krankenbett den einsamen Wolf gibt und Sätze verkündet wie „Keine Familie, keine Freunde – an meinem Grab soll niemand weinen“, antwortet ihm sein Arzt „Aber das Grab muss ja jemand in Auftrag geben“ – die kernig männliche Einsamkeit hat ihre praktischen Grenzen. Den Mediziner spielt Schriftsteller Michel Houellebecq mit schlurfigem Charme, quer über die Halbglatze drapierten Haaren und hinterlistigen Sätzen wie „Sie haben das Herz eines jungen Mannes – das eines kranken jungen Mannes.“​

„Das liegt Euch doch im Blut“​

Tonys Tochter Maria (Louna Espinosa) leitet einen Rumba-Kurs, in den er sich einschleichen will (unter dem schön-schrecklichen Namen Kevin Sardou), um seine Offenbarung als Vater vorzubereiten. Doch Maria nimmt im Kurs keine Anfänger auf, und so kreuzt Tony erstmal bei seiner schwarzen Nachbarin auf, um sich Rumba erklären zu lassen, „denn das liegt Euch doch im Blut“. Pseudo-wohlmeinender Rassismus bleibt Rassismus, auch das wird Tony noch lernen. Die Nachbarin revanchiert sich: „Können wir uns duzen? Deine Vorfahren haben ja meine Vorfahren ausgepeitscht.“​

Die Annäherung zwischen Vater und Tochter ist durchaus anrührend und bringt Überraschungen mit sich – erst glaubt die junge Frau, der angegraute Tony stelle ihr amourös nach; und dann, als sie die Situation längst durchblickt, gibt sie sich ahnungslos und tut, als wüsste sie nicht, wer er ist, und habe sich in ihn verliebt, was ihn Höllenqualen leiden lässt – vielleicht eine minimale Rache dafür, dass er sie als Vater einst im Stich ließ.​

Es geht nach Blackpool​

Das Trauma eines verlassenen Kindes will der Film sicherlich nicht ausloten, Dubosc hat Wohlfühl-Kino im Auge. Das gelingt ihm – bis zur Offenbarung der Vaterschaft ist der Film eine flotte, charmante, bittersüße Mischung aus persönlicher Geschichte, ein wenig Tanz und Lebenslektionen wie „Lass Dein Herz sprechen“. Das aber verschiebt sich im letzten Drittel – ins britische Blackpool geht es, wo eine internationale Tanzmeisterschaft ansteht, wohin die Tochter den Vater als Partner mitnimmt. Was dort geschieht, wird nicht verraten – aber es ist jene Art von Kino-Situation, die sich ganz anders und weniger kompliziert entwickeln würde, wenn die Hauptfiguren darüber einfach mal ein, zwei Sätze miteinander redeten. Da scheint Drehbuchautor Dubosc etwas die Luft ausgegangen zu sein.​

Dennoch bleibt man im Kino gerne mit diesen Figuren zusammen, die der warmherzige Film in seiner famosen ersten Stunde so berührend in Szene gesetzt hat – auch abseits der Hauptrollen. Ausgerechnet der von Houllebecq gespielte Mediziner mit dem schönen Namen Mory, was an „mourir“ gemahnt („Sie rauchen? Sehr schön, dann sehen wir uns bald wieder“), sagt den Satz, der die Botschaft des Films gut zusammenfasst: „Allein sind wir nichts.“​

Volker Schlöndorff im Kino Achteinhalb: „Arroganz ist Alain Delons zweiter Vorname“

Volker Schlöndorff (links) im Kino Achteinhalb. Neben ihm Patricia Oster-Stierle von der Uni Saarbrücken, die den Regisseur eingeladen hatte, und Waldemar Spallek vom Achteinhalb.         Foto: Tobias Keßler

 

Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff war zu Gast in Saarbrücken im Kino Achteinhalb – ein schöner Abend mit einem lässigen Filmemacher.

„Flash Gordon“, die filmische Kitsch-Torte

Flash Gordon

Der Gute und der Böse: Sam Jones (links) als Flash und Max von Sydow als Ming.     Foto: Studiocanal

„Niemand lacht über meinen Flash Gordon!“ Das soll Produzent Dino De Laurentiis gebrüllt haben, als sich das Team seines Films bei den Dreharbeiten zu „Flash Gordon“ die frisch gedrehten Szenen anschaute – und immer wieder kicherte. So sehr, dass Regisseur Mike Hodges Kicher-Verbot erteilte, sollte Dino furioso in der Nähe sein. Hodges sah das ganze Unternehmen als knallige Science-Fiction-Komödie, De Laurentiis als großen ernsten SF-Abenteuerfilm. Getroffen haben sie sich filmisch in der Mitte, gelungen ist ihnen ein Werk, bei dem alles stimmt, obwohl nichts zusammenzupassen scheint. „Flash Gordon“, jener knallbunte Film von 1980, läuft nun, 43 Jahre nach seine Premiere, in der Reihe „Best of Cinema“ des Verleihs Studiocanal für einen Tag bundesweit wieder dort, wo er hingehört – auf einer großen Kinoleinwand.

Ein Blick zurück ans Ende der 1970er Jahre. Der italienische Hollywood-Produzent De Laurentiis, der zuvor den Riesenaffen „King Kong“ filmisch wiederbelebt hat (volle Kassen, entsetzte Kritiker), besitzt die Rechte an den „Flash Gordon“-Comics von Alex Raymond, die in den 1930ern schon mal verfilmt wurden – und 1974 mit einem charmant getricksten Softporno namens „Flesh Gordon“ parodiert und erotisiert wurden. Um einen wackeren blonden Erdling geht es in den Comics, der auf dem fernen Planeten Mongo einem asiatisch wirkenden Bösewicht namens Ming zeigt, wo der Hammer der freien Welt hängt, da der Finsterling a) von seinem Glitzerpalast aus den Planeten Erde bedroht und b) die Freundin des Helden in seinem geräumigen Harem unterbringen will.

 

Flash Gordon

In Mings Folterkammer: Sam Jones als Flash Gordon, Melody Anderson als Dale Arden.  Foto: Studiocanal

Im Science-Fiction-Boom nach dem ersten „Krieg der Sterne“ von 1977 bekommt Di Laurentiis ein potentes Budget von 25 Millionen Dollar zusammen (damals viel Geld für einen Film) und beginnt die Vorproduktion mit einem ungewöhnlichen Filmemacher: Nicolas Roeg, Regisseur von „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ und „Der Mann, der vom Himmel fiel“, kein Mann des Kino-Mainstreams.

Zuvor hatte der Produzent auch Sergio Leone und Federico Fellini im Sinn, deren Interesse sich aber in Grenzen hielt. Roeg nun schwebt eine bewusstseinserweiternde Weltall-Odyssee vor, ein psychedelischer Trip; spätestens bei seiner Beschreibung eines Raumschiff-Designs als „große Plazenta“, wird klar, dass er und Di Laurentiis in unterschiedlichen Galaxien leben.

Abgang Roeg, Auftritt Hodges, den der Produzent unter anderem deshalb engagiert, wie er sagt, „weil er ein ehrliches Gesicht hat“. Dessen bekanntester Film ist bis dahin der eisige Nordengland-Krimi „Get Carter“ von 1971 mit Michael Caine. Hodges macht sich an die Arbeit, mit einer Besetzung zwischen Legende und Laie: Der Schwede Max von Sydow, bekannt für tränenschwere Ingmar-Bergman-Filme, spielt den bösen Ming mit großer Geste und schwerer Robe, während Di Laurentiis für die Heldenrolle einen nahezu Unbekannten verpflichtet – Sam Jones, der in einer US-Datingshow vor allem durch gutes Aussehen aufgefallen ist.

 

Flash Gordon

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, auch wenn es nicht so aussieht: Prinz Barin (Timothy Dalton, links) und Flash Gordon (Sam Jones).  Foto: Studiocanal

 

Die Wahl zahlt sich erstmal aus: Der mimisch unerfahrene Jones verströmt genau jene unschuldige und naive Aura, die dem Regisseur vorschwebt. Timothy Dalton, sieben Jahre später James Bond, spielt einen heroischen Prinzen mit Errol-Flynn-Schnurrbart; Brian Blessed mimt den Anführer der mit Flügeln ausgestatteten Falkenmänner und frönt lustvoll dem Over-Acting. Wenn er lacht, sieht man 80 Zähne und Blesseds Mandeln; jeden Dialogsatz („Gordon’s aliiiiiive?“) deklamiert er oberhalb der Zimmerlautstärke.

Derweil schleicht Ornella Muti als libidonös hyperaktive Königstochter durch die wundersamen Dekorationen von John Graysmark: mal verkitschte Art déco, mal technoide Futuristik, während die Kostüme von Danilo Donati in Rot erstrahlen und so golden glitzern, dass man zur Augenschonung manchmal nach einer Sonnenbrille greifen möchte.

Während der Dreharbeiten im winterlichen London, wo besonders die Darsteller der Falkenmänner im Lendenschurz vor sich hin frieren, gehen die Diskussionen zwischen Produzent und Regisseur munter weiter, doch beide haben ein noch größeres Problem: Hauptdarsteller Jones fliegt in die Weihnachtsferien in die USA – und kommt nicht wieder. Denn seine Agenten machen ihn darauf aufmerksam, dass seine Wochengagen nicht ganz regelmäßig eintreffen; Di Laurentiis tobt, lässt sich aber nicht entmutigen – das meiste Pensum hatte Jones ohnehin schon abgedreht. Und für die Nachsynchronisation, nötig bei Szenen mit hohem Geräuschpegel, engagiert er einfach einen anderen Schauspieler als Sprecher. Problem gelöst.

 

Flash Gordon

John Graysmark entwarf die Bauten des Films, Danilo Donati die Kostüme.   Foto: Studiocanal

Die Erwartungen beim Filmstart sind hoch. Doch während „Flash Gordon“ in Europa gut läuft, sind die Kinos des wichtigen US-Markts kaum gefüllt. Das war‘s – auch für die Fortsetzungen, die Di Laurentiis schon im Hinterkopf hatte.

Sieht man den Film heute, wirkt er nicht wie einer der vielen „Krieg der Sterne“-Imitationen von damals, sondern fast wie ein Anti-„Star Wars“. Während George Lucas seine märchenhafte, aus allerlei Mythen zusammengesetzte Handlung optisch vergleichsweise realistisch und mit biblischem Ernst („Möge die Macht mit Dir sein“) erzählt, schwelgt „Flash Gordon“ im parodistischen Kitsch, badet in Farben, lässt Funken sprühen, Sümpfe blubbern – und die britische Band Queen herzhaft musizieren. Deren bombastisch Filmmusik („Fläsch – aaahaaaaaaaa!“) passt wunderbar in den Kontext, vor allem zu einer Attacke flatternder Falkenmänner auf ein Fluggefährt, bei der sich Dröhngitarre, Donnerschlagzeug und die Action im Spielzeugland zu einem poppigen Gesamtkunstwerk vereinen. Vielleicht war es ein Segen, dass der Film keine Fortsetzungen nach sich zog – solche Glücksfälle lassen sich nicht wiederholen.

 

Flash Gordon

Antikes Stück: der Trailer des Films auf Super 8.    Foto: Piccolo Film

„Polizeiaktion Dynamit“ von Gilles Grangier

 

An dieser bösartigen Suspense-Idee hätte auch Hitchcock seine finstere Freude gehabt, etwas Ähnliches hatte er 1936 in „Sabotage“ durchgespielt: Pariser Jungs laufen mit einem Fußball voller Dynamit durch die Stadt, ohne zu ahnen, dass ihr Spielzeug eine Bombe ist. Die Polizei weiß Bescheid – aber Paris ist groß. „Polizeiaktion Dynamit“, so der etwas reißerische deutsche Titel (der Originaltitel bedeutet eher „Missglückte Übergabe“) ist ein kleiner feiner Krimi von 1957 mit exzellenter Besetzung: Serge Reggiani spielt einen Drogenkurier, der aus dem Geschäft aussteigen will, Jeanne Moreau seine Freundin, und Gert Fröbe gibt, sieben Jahre vor „Goldfinger“, den Chef der Drogenbande. Im französischen Original heißt er Hans und flucht schon mal ein herzhaftes „Himmelherrgott!“, in der Synchro heißt er dagegen Jean.

Regisseur Gilles Grangier erzählt die Ermittlungsarbeit schnörkellos, während die Kommunikationstechnik wundersam antik wirkt: mit meterlangen Karteikästen und Polizisten, die stets Kleingeld und Telefonzellen für Anrufe ins Präsidium brauchen. Das Finale mit Bandenrazzia und Fußballfund bietet Action und Spannung, das Bild des 2021 restaurierten Films ist exzellent – und es gibt untertitelte Passagen, die einst im deutschen Kino nicht zu sehen waren.

Auf DVD erschienen bei Pidax.

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