KINOBLOG

Film und dieses & jenes, von Tobias Keßler

„Flash Gordon“, die filmische Kitsch-Torte

Flash Gordon

Der Gute und der Böse: Sam Jones (links) als Flash und Max von Sydow als Ming.     Foto: Studiocanal

„Niemand lacht über meinen Flash Gordon!“ Das soll Produzent Dino De Laurentiis gebrüllt haben, als sich das Team seines Films bei den Dreharbeiten zu „Flash Gordon“ die frisch gedrehten Szenen anschaute – und immer wieder kicherte. So sehr, dass Regisseur Mike Hodges Kicher-Verbot erteilte, sollte Dino furioso in der Nähe sein. Hodges sah das ganze Unternehmen als knallige Science-Fiction-Komödie, De Laurentiis als großen ernsten SF-Abenteuerfilm. Getroffen haben sie sich filmisch in der Mitte, gelungen ist ihnen ein Werk, bei dem alles stimmt, obwohl nichts zusammenzupassen scheint. „Flash Gordon“, jener knallbunte Film von 1980, läuft nun, 43 Jahre nach seine Premiere, in der Reihe „Best of Cinema“ des Verleihs Studiocanal für einen Tag bundesweit wieder dort, wo er hingehört – auf einer großen Kinoleinwand.

Ein Blick zurück ans Ende der 1970er Jahre. Der italienische Hollywood-Produzent De Laurentiis, der zuvor den Riesenaffen „King Kong“ filmisch wiederbelebt hat (volle Kassen, entsetzte Kritiker), besitzt die Rechte an den „Flash Gordon“-Comics von Alex Raymond, die in den 1930ern schon mal verfilmt wurden – und 1974 mit einem charmant getricksten Softporno namens „Flesh Gordon“ parodiert und erotisiert wurden. Um einen wackeren blonden Erdling geht es in den Comics, der auf dem fernen Planeten Mongo einem asiatisch wirkenden Bösewicht namens Ming zeigt, wo der Hammer der freien Welt hängt, da der Finsterling a) von seinem Glitzerpalast aus den Planeten Erde bedroht und b) die Freundin des Helden in seinem geräumigen Harem unterbringen will.

 

Flash Gordon

In Mings Folterkammer: Sam Jones als Flash Gordon, Melody Anderson als Dale Arden.  Foto: Studiocanal

Im Science-Fiction-Boom nach dem ersten „Krieg der Sterne“ von 1977 bekommt Di Laurentiis ein potentes Budget von 25 Millionen Dollar zusammen (damals viel Geld für einen Film) und beginnt die Vorproduktion mit einem ungewöhnlichen Filmemacher: Nicolas Roeg, Regisseur von „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ und „Der Mann, der vom Himmel fiel“, kein Mann des Kino-Mainstreams.

Zuvor hatte der Produzent auch Sergio Leone und Federico Fellini im Sinn, deren Interesse sich aber in Grenzen hielt. Roeg nun schwebt eine bewusstseinserweiternde Weltall-Odyssee vor, ein psychedelischer Trip; spätestens bei seiner Beschreibung eines Raumschiff-Designs als „große Plazenta“, wird klar, dass er und Di Laurentiis in unterschiedlichen Galaxien leben.

Abgang Roeg, Auftritt Hodges, den der Produzent unter anderem deshalb engagiert, wie er sagt, „weil er ein ehrliches Gesicht hat“. Dessen bekanntester Film ist bis dahin der eisige Nordengland-Krimi „Get Carter“ von 1971 mit Michael Caine. Hodges macht sich an die Arbeit, mit einer Besetzung zwischen Legende und Laie: Der Schwede Max von Sydow, bekannt für tränenschwere Ingmar-Bergman-Filme, spielt den bösen Ming mit großer Geste und schwerer Robe, während Di Laurentiis für die Heldenrolle einen nahezu Unbekannten verpflichtet – Sam Jones, der in einer US-Datingshow vor allem durch gutes Aussehen aufgefallen ist.

 

Flash Gordon

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, auch wenn es nicht so aussieht: Prinz Barin (Timothy Dalton, links) und Flash Gordon (Sam Jones).  Foto: Studiocanal

 

Die Wahl zahlt sich erstmal aus: Der mimisch unerfahrene Jones verströmt genau jene unschuldige und naive Aura, die dem Regisseur vorschwebt. Timothy Dalton, sieben Jahre später James Bond, spielt einen heroischen Prinzen mit Errol-Flynn-Schnurrbart; Brian Blessed mimt den Anführer der mit Flügeln ausgestatteten Falkenmänner und frönt lustvoll dem Over-Acting. Wenn er lacht, sieht man 80 Zähne und Blesseds Mandeln; jeden Dialogsatz („Gordon’s aliiiiiive?“) deklamiert er oberhalb der Zimmerlautstärke.

Derweil schleicht Ornella Muti als libidonös hyperaktive Königstochter durch die wundersamen Dekorationen von John Graysmark: mal verkitschte Art déco, mal technoide Futuristik, während die Kostüme von Danilo Donati in Rot erstrahlen und so golden glitzern, dass man zur Augenschonung manchmal nach einer Sonnenbrille greifen möchte.

Während der Dreharbeiten im winterlichen London, wo besonders die Darsteller der Falkenmänner im Lendenschurz vor sich hin frieren, gehen die Diskussionen zwischen Produzent und Regisseur munter weiter, doch beide haben ein noch größeres Problem: Hauptdarsteller Jones fliegt in die Weihnachtsferien in die USA – und kommt nicht wieder. Denn seine Agenten machen ihn darauf aufmerksam, dass seine Wochengagen nicht ganz regelmäßig eintreffen; Di Laurentiis tobt, lässt sich aber nicht entmutigen – das meiste Pensum hatte Jones ohnehin schon abgedreht. Und für die Nachsynchronisation, nötig bei Szenen mit hohem Geräuschpegel, engagiert er einfach einen anderen Schauspieler als Sprecher. Problem gelöst.

 

Flash Gordon

John Graysmark entwarf die Bauten des Films, Danilo Donati die Kostüme.   Foto: Studiocanal

Die Erwartungen beim Filmstart sind hoch. Doch während „Flash Gordon“ in Europa gut läuft, sind die Kinos des wichtigen US-Markts kaum gefüllt. Das war‘s – auch für die Fortsetzungen, die Di Laurentiis schon im Hinterkopf hatte.

Sieht man den Film heute, wirkt er nicht wie einer der vielen „Krieg der Sterne“-Imitationen von damals, sondern fast wie ein Anti-„Star Wars“. Während George Lucas seine märchenhafte, aus allerlei Mythen zusammengesetzte Handlung optisch vergleichsweise realistisch und mit biblischem Ernst („Möge die Macht mit Dir sein“) erzählt, schwelgt „Flash Gordon“ im parodistischen Kitsch, badet in Farben, lässt Funken sprühen, Sümpfe blubbern – und die britische Band Queen herzhaft musizieren. Deren bombastisch Filmmusik („Fläsch – aaahaaaaaaaa!“) passt wunderbar in den Kontext, vor allem zu einer Attacke flatternder Falkenmänner auf ein Fluggefährt, bei der sich Dröhngitarre, Donnerschlagzeug und die Action im Spielzeugland zu einem poppigen Gesamtkunstwerk vereinen. Vielleicht war es ein Segen, dass der Film keine Fortsetzungen nach sich zog – solche Glücksfälle lassen sich nicht wiederholen.

 

Flash Gordon

Antikes Stück: der Trailer des Films auf Super 8.    Foto: Piccolo Film

„Polizeiaktion Dynamit“ von Gilles Grangier

 

An dieser bösartigen Suspense-Idee hätte auch Hitchcock seine finstere Freude gehabt, etwas Ähnliches hatte er 1936 in „Sabotage“ durchgespielt: Pariser Jungs laufen mit einem Fußball voller Dynamit durch die Stadt, ohne zu ahnen, dass ihr Spielzeug eine Bombe ist. Die Polizei weiß Bescheid – aber Paris ist groß. „Polizeiaktion Dynamit“, so der etwas reißerische deutsche Titel (der Originaltitel bedeutet eher „Missglückte Übergabe“) ist ein kleiner feiner Krimi von 1957 mit exzellenter Besetzung: Serge Reggiani spielt einen Drogenkurier, der aus dem Geschäft aussteigen will, Jeanne Moreau seine Freundin, und Gert Fröbe gibt, sieben Jahre vor „Goldfinger“, den Chef der Drogenbande. Im französischen Original heißt er Hans und flucht schon mal ein herzhaftes „Himmelherrgott!“, in der Synchro heißt er dagegen Jean.

Regisseur Gilles Grangier erzählt die Ermittlungsarbeit schnörkellos, während die Kommunikationstechnik wundersam antik wirkt: mit meterlangen Karteikästen und Polizisten, die stets Kleingeld und Telefonzellen für Anrufe ins Präsidium brauchen. Das Finale mit Bandenrazzia und Fußballfund bietet Action und Spannung, das Bild des 2021 restaurierten Films ist exzellent – und es gibt untertitelte Passagen, die einst im deutschen Kino nicht zu sehen waren.

Auf DVD erschienen bei Pidax.

„Can and Me“ von Michael P.  Aust

Foto: Televisor Troika / Real Fiction Can and Me

Irmin Schmidt zu der Zeit von Can.   Foto: Televisor Troika / Real Fiction

 

Ein großes Glück, dass er beruflich nicht das wurde, was sich sein Vater so sehr gewünscht hat: Architekt. Mit Konstruktion und Form hat Irmin Schmidt dennoch lebenslang zu tun – als Musiker, Komponist, als umtriebiger Experimentierer, unter anderem als Gründer einer Band, die Musikgeschichte schrieb und auch im Ausland gefeiert wurde und wird: Can. Die Doku „Can and me“ widmet sich Schmidt, der im Film einen Satz sagt, der wie ein Lebensmotto klingt: „Kategorien interessieren mich nicht so doll.“ Hätten sie das getan, hätte er den flirrenden Can-Krautrock, Symphonisches, Elektroklänge und Filmmusik nicht derart mühelos unter einen (ziemlich großen) Hut bekommen. Mit Bildern eines Can-Konzerts in den 1970ern beginnt der Film: mit dampfenden Haschpfeifchen im Publikum, wallenden Haaren, Koteletten bis zum Schlüsselbein vor und auf der Bühne, mit hypnotisierenden Rhythmen. Dann ein harter Schnitt: Wir sind in der Provence, wo Schmidt, mittlerweile 85, in einem abgelegenen Haus lebt – die Lavendelbüsche rauschen im Wind, und Schmidt genießt das, was er morgens braucht, bevor er im Heimstudio an Klängen und Musik werkelt: Stille. „Für mich das wichtigste Geräusch.“

„Ich wollte es verstehen“

Mit Erzählungen Schmidts, Fotos und Archivaufnahmen blättert Filmemacher Michael P.  Aust das Leben des Musikers auf – beginnend mit Erinnerungen an Bombenangriffe (Schmidt ist Jahrgang 1937), an die Stimme Mussolinis im „Volksempfänger“ und die „Wunde meines Lebens“: Schmidts Vater ist zuhause ein „gütiger Mensch“, zugleich „Antisemit und Nazi“. Mit 14 verkauft Schmidt seine Spielzeugeisenbahn und schafft sich zwei Schallplatten an, von denen eine prägend wird für sein Leben: Strawinskys „Sacre de Printemps“, eine Komposition, die ihm Rätsel aufgibt: „Ich wollte es verstehen.“ Schmidts damaliger Berufswunsch: „Ein Dirigent, weltberühmt.“ Er studiert unter anderem bei Karlheinz Stockhausen, dessen Komposition „Gesang der Jünglinge“ ihn ebenso begeistert wie erschreckt.

Irmin Schmidt heute, mit Mitte 80. Foto. televisor Troika / Real Fiction

Irmin Schmidt heute, mit Mitte 80. Foto: Televisor Troika / Real Fiction

In dieser Zeit lernt er seine spätere Frau Hildegard kennen, die er ebenso als Feingeist beeindruckt wie durch Beweglichkeit – mit einem Flic Flac. Mittlerweile sind die beiden über 60 Jahre zusammen – und nebenbei ist „Can and Me“ auch ein berührender Film über die Langzeit-Liebe. Schmidts Karriere als Neuer-Musik-Feingeist im Rollkragenpulli scheint vorgezeichnet; doch bei einem Dirigierwettbewerb 1966 in New York findet er alles interessanter als den Wettbewerb selbst – zum Beispiel ein Treffen mit Komponist Steve Reich. In Schmidt brodelt es, „und aus diesem Brodeln entstand Can“. Über zehn Jahre ist der Band-Nukleus um Schmidt, Jaki Liebezeit, Holger Czukay und Michael Karoli zusammen, der Film zeigt Konzertmitschnitte und Interviews, auch aus den Filmarbeiten – darunter 1971 das Titelthema zum Krimi-Dreiteiler „Das Messer“, dessen Regisseur Rolf von Sydow die Musik nicht im Film haben will; die Rettung ist der Neunkircher Günter Rohrbach, damals ARD-Fernsehspielchef. Der entscheidet sich, so erinnert sich Schmidt: „Das bleibt.“

Man hört ihm gerne zu

Die Single wird ein Hit, aber langsam „verbraucht sich die Spannung, die es für so eine Gruppe braucht“, gibt Schmidt zu. Can driftet auseinander, Schmidt wendet sich mehr der Filmmusik zu, schreibt für „Tatorte“ und Wim Wenders, komponiert eine Oper, unter anderem, weil seine Heilerin, die ihn von Kopfschmerzen erlöst, ihm das rät. „Gormenghast“ ist laut Schmidt ein Publikumserfolg, „aber die Kritiker fanden es Scheiße“. Nicht nur hier erweist sich Schmidt als Freund des Unverblümten und des Unprätentiösen – ein großes Pfund für diese Doku. Diesem Herrn mit der Ausstrahlung eines lässigen Onkels oder Großvaters, hört man sehr gerne zu – ebenso wie seiner Frau, die sich bei Can um Organisation und Finanzen kümmerte, jetzt in der Provence das Unternehmen leitet – zum Beispiel, wenn es darum geht, alte Can-Aufnahmen durch Remix-Veröffentlichungen, etwa von Westbam oder Brian Eno, einem neuen Publikum nahezubringen. Melancholisch stimmt dabei, dass Schmidt der einzige noch lebende Can-Gründer ist; seine alten Kollegen sieht man im Film noch in Interviews, aber sie sind schon einige Jahre tot. Schmidt ist quicklebendig und bastelt in der Provence weiter an Klängen: In den letzten Bildern von „Can and Me“ durchsucht er Schubladen in seinem Studio – und klemmt dann Schrauben zwischen die Saiten seines Flügels.

Die unbarmherzigen Schwestern: „Medusa“ von Anita Rocha da Silveira

"Medusa"

Trällern für Jesus und das Patriarchat: „Michele and the Treasures of the Lord“.  Foto: Drop-Out Cinema

Diese jungen Frauen wirken, als könne kein Wässerchen sie trüben. Doch wehe, wenn es Nacht wird und sie ihren Unschuldsblick hinter weißen Masken begraben. Da gehen die Damen, die sonst in der Band „Michele and the Treasures of the Lord“ zuckersüßen Pop zu Ehren Gottes trällern, auf die Jagd: auf Frauen, die nach ihrer Auffassung, sündigen – etwa durch Sex vor der Ehe. Da treten die unbarmherzigen Schwestern zu, filmen die erpresste Beichte und zählen dann die Likes im Internet. Bei einem Überfall aber gerät Bandenmitglied Mariana an ein überraschendes Opfer – es wehrt sich mit einem Messer, Mariana trägt eine Narbe auf der Wange davon, was sie in ihrem Umfeld nahezu zur Aussätzigen macht: Den Job im Schönheitssalon verliert sie, da man dort nur glatte Haut sehen mag; bei den Freundinnen, für die Schönheit das elfte Gebot ist, muss sie die Narbe mit ihren Haaren bedecken.

Um sich in der Bande wieder zu etablieren, plant sie einen Coup: Einst wurde eine allzu lebenslustige und allzu schöne Schauspielerin von einer Banden-Glaubensschwester mit Benzin in Brand gesteckt. Sie überlebte, hat sich aber wegen ihrer Entstellung zurückgezogen. Gelänge von ihr ein Foto, wäre das eine mediale Sensation. So macht sich Mariana auf die Suche – zuerst in einer Klinik für Komapatienten.

Grüße von Argento und Carpenter

„Medusa“ ist der zweite Spielfilm der Brasilianerin Anita Rocha da Silveira. Inspiriert – und beunruhigt – von wachsender Gewalt in ihrer Heimat durch ultraorthodoxe Gläubige gegen Andersdenkende und -lebende, hat sie eine bunte Groteske geschrieben: zwischen schwarzer Komödie und Horror, zwischen Satire und zorniger Anklage. Mit wundersamen Bildern im Breitwandformat (Kamera: João Atala) erschafft sie eine stilisierte Welt der Bonbon- und Neonfarben für die Jesus-Barbies; bei den nächtlichen Streifzügen pulsieren sämige Synthesizer-Klänge – da sind Dario Argento für die Optik und John Carpenter für die Musik durchaus Referenzen.

Als Mariana eine andere, liebevollere Welt entdeckt, sieht sie (und das Publikum) andere Farben – erdig, näher an der Wirklichkeit, da wird ein Wald zur Gegenwelt des ultrakonservativen Milieus, in dem Frauen engelsrein sein sollen, in dem Männer sich paramilitärisch kleiden und ihre Körper stählen – eine Wehrsportgruppe Christi? Um Glaubenskritik geht es der Filmemacherin nicht, betont sie, sondern um Religions- und Unterdrückungsstrukturen. Die betrachtet sie weniger analytisch denn manchmal plakativ, so dass der Sog der Bilder, gerade bei der Rebellion Marinas, besser gelingt als Erklärung und Erkenntnis. Aber das nimmt dem Film nur wenig von seiner Kraft.

„Das Blau des Kaftans“ von Maryam Touzani

Das Blau des Kaftans

Saleh Bakri als Halim, Lubna Azabal als Mina.   Foto: Arsenal

 

Die Liebe ist eine Himmelsmacht – und in diesem sehr berührenden Film auch ein Stück Stoff, zumindest symbolisch. Der Kaftan im Laden von Mina und Halim leuchtet strahlend blau, ist eine Auftragsarbeit höchster Schneiderkunst und muss, wie Halim sagt, „der Zeit standhalten“ und seine Besitzer von Generation zu Generation überleben. Das Ehepaar führt eine Schneiderei in der Altstadt von Salé in Marokko, die Zeiten sind schwierig für sie: Die Handwerkskunst Halims wissen immer weniger Kundinnen und Kunden zu schätzen; „niemand merkt den Unterschied zwischen Handarbeit und Nähmaschine“, sagt ihm eine Kundin. Eine andere rät ihm, „einfach schneller zu arbeiten“, denn er gerät mit seinen Aufträgen, die ihre Zeit brauchen, in Rückstand.

Das Handwerk lernen will kaum noch jemand, aber mit dem jungen Youssef scheint das Paar einen talentierten Lehrling gefunden zu haben. Der sei „in Ordnung“, sagt Halim. „Mehr nicht?“, fragt Mina – und es ist klar, wie die Frage gemeint ist. Denn sie weiß, was man im Film bei einem Gang Halims ins Dampfbad erfährt: Er ist homosexuell, sucht und findet dort eher Sex als Romantik, schnell und im Verborgenen. Um Liebe geht es da nicht, denn die empfindet er für seine Frau – während sich zwischen ihm und dem neuen Lehrling auch eine Zuneigung entwickelt. Diese Grundkonstellation mag sich etwas konstruiert und platt lesen – der Film selbst ist es nicht. „Das Blau des Kaftans“ ist ein wunderbar intimes Kammerspiel mit vielen Zwischentönen und Schattierungen. Die Dialoge sind knapp, aber vielsagend, die Musik sparsam, jede Geste und jeder Blick zählen in diesem Film, in dem es nicht um homo contra hetero geht, sondern, so schlicht und einfach wie kompliziert, um die Liebe zwischen Menschen.

Die Ehe von Halim und Mina scheint anfangs erlahmt zu sein, vom Alltag etwas ausgebleicht; doch immer wieder zeigen kleine Momente, wie nahe sich die beiden stehen – unter anderen in einer vielsagenden Szene, in der er sie mit in ein Café nimmt, wo sich ausschließlich Männer vor einem Fernseher tummeln und ein Fußballspiel kommentieren. Der Kellner ignoriert die Frau, Halim bestellt für sie, und irgendwie genießen die beiden, hier zusammen zu sein – sie, die offensichtlich Unerwünschte, und er, der in dieser Männerherde sozusagen unerkannt bleibt. Notgedrungen, drohen in Marokko für Homosexualität doch bis zu drei Jahre Haft.

„Das Blau des Kaftans“ ist der zweite Spielfilm der marokkanischen Autorin und Regisseurin Maryam Touzani. In ihrem Debüt „Adam“ über die Freundschaft zweier Frauen in Casablanca spielte Lubna Azabal eine Hauptrolle wie im „Kaftan“. Erneut bietet sie eine intensive Darstellung: hier als Frau, die durchaus mit Eifersucht auf den neuen Lehrling reagiert, zugleich ihren Mann schützen will und ermuntern, sich nicht derart zurückzuziehen, wie er es tut. Saleh Bakri spielt den Ehemann mit einer stillen Autorität, die doch immer wieder zu bröckeln droht – möglicherweise schämt sich Halim für seine unpersönlichen, wohl lieblosen Sex-Ausflüge im Dampfbad (der Film ist da sehr diskret, mehr als nackte Männerfüße und eine heruntergelassene Unterhose sieht man nicht). Ayoub Messioui spielt den Lehrling, dem schnell klar wird, dass er hier in eine sehr komplexe Beziehung eindringt, als er sich zu Halim hingezogen fühlt. Zumal sich die Situation noch zuspitzt, als Mina ernsthaft erkrankt.

Die Bildsprache des Films ist meisterlich. Die Kamerafrau Virginie Surdej zeigt die Räume in erdigen Farben, aus dem die Stoffe der Schneiderei – vor allem das Blau des Kaftans – immer wieder herausstrahlen. Die Kamera ist nahe an Gesichtern, an nähenden Fingern, an schwitzenden Körpern im Dampfbad. Alles wirkt hier zugleich heimelig wie beengend, der Film verbleibt bis fast zum Ende, bei dem der titelgebende Kaftan eine Rolle spielt, in den Gassen der Altstadt; das nahe Meer können die Figuren nur erschnuppern, wie eine Verheißung auf ein freieres Leben, das den Dreien dann doch zumindest vorübergehend gelingt. Eine Utopie? Wenn ja, dann keine naive – der Film schließt mit einem Bild, das so optimistisch wie melancholisch ist, Freiheit und Unfreiheit zusammenbringt.

„Das malvenfarbene Taxi“ von Yves Boisset

Verlorene Seelen an der irischen See: Gepflegte Melancholie zieht sich durch Yves Boissets 1977er-Film, in dem jede Figur ihre Abgründe hat – und ihre Gründe, sich hierher verkrochen zu haben. Da ist ein Pariser Schriftsteller, anscheinend in der Midlife-Krise. Ihn verbindet eine stille Männerfreundschaft mit einem jungen Amerikaner, anscheinend auf der Flucht vor seiner Familie. Ein extrovertierter Exilrusse mit scheinbar verstummter Tochter ist auch mit von der Partie.


Sie leben von einem auf den anderen Tag, man jagt und trinkt – und trauert irgendwie, jeder mit eigenem Motiv. In diese Runde der angeschlagenen Mannsbilder bringt eine Frau ziemliche Unruhe: die adelige Schwester des Amerikaners, die sich dem Personal ihres Hotels mit einem grandiosen Arroganz-Auftritt vorstellt, dem Pariser Schriftsteller mit einem ebenso grandiosen Oben-Ohne-Auftritt. Charlotte Rampling spielt die Prinzessin mit unnahbarer Unberechenbarkeit; auch sonst kann sich Boisset auf seine Darsteller verlassen, vor allem Philippe Noiret als Autor und Peter Ustinov als Exilrusse. Bittersüß ist dieser Film, in dem sich einige Lebenslügen entfalten. Der Off-Kommentar des Schriftstellers mag etwas prätentiös klingen, aber ansonsten hat dieses langsam vor sich hin köchelnde Drama einigen Reiz.

DVD von Pidax.

„Tod in Venedig“ und das Leben danach: Doku „The most beautiful boy in the world“

 

the most beautiful boy in the world

Björn Andresen bei den Dreharbeiten zu „Der Tod in Venedig“.     Foto: Mario Tursi / MissingFilms

Für seinen Film „Der Tod in Venedig“ suchte Regisseur Luchino Visconti das Sinnbild unschuldiger Schönheit. Er fand es beim damals 15-jährigen Björn Andresen – doch für ihn war die Erfahrung hässlich. Eine Doku erzählt Andresens Geschichte.

„Und jetzt den Oberkörper!“ Der 15-Jährige zieht den Pulli aus. Später auch die Hose, lässt sich in Badehose ausgiebig mustern. Regisseur Luchino Visconti und sein Team schauen genau hin, denn sie suchen das Abbild lupenreiner Schönheit und androgyner, unschuldiger Makellosigkeit – für die Verfilmung von Thomas Manns „Der Tod in Venedig“. Wir sehen alte Aufnahmen von 1970, aus Stockholm – einer der vielen Städte in Europa, in denen Visconti damals den Darsteller seines Tadzio sucht, jenes Knaben, dessen Schönheit der fiktive Schriftsteller Gustav von Aschenbach verfällt (im Film gespielt von Dirk Bogarde). Visconti findet seinen Tadzio: Es ist Björn Andresen, jener 15-Jährige, dem man in den Dokumentaraufnahmen ansieht, wie unangenehm ihm die Casting-Prozedur ist, nicht zuletzt das Posieren in Badehose. Warum war er überhaupt da? Und inwieweit hat der Film das Leben des Jungen beeinflusst und verfinstert?

Diese Fragen stellt der Dokumentarfilm „The most beautiful boy in the world“ – so betitelt Visconti den Jungen damals, es wird Andresens Beiname in fast jedem Zeitungsartikel, als sich „Der Tod in Venedig“ als großer Kino-Erfolg erweist. Der Film zeigt historische Aufnahmen von der glanzvollen Premiere damals in London in Anwesenheit der Queen – und im Kontrast den Andresen von heute: einen Mann Ende 60 mit weißem Haar und Zottelbart über den eingefallenen Wangen. Fast verliert er seine kleine Wohnung, weil er immer wieder vergisst, seinen Gasherd abzustellen. Was ist zwischen damals und heute geschehen?

„Rote Pillen“, um durchzuhalten

Das blättert der Film langsam auf, mit faszinierenden Archivaufnahmen (darunter Super-8-Bildern von den „Venedig“-Dreharbeiten) und in sehr persönlichen Momenten; erst einmal scheint es, als sähen die Filmemacher Kristina Lindström und Kristian Petri vor allem in der Behandlung Andresens durch Visconti und die Kulturszene den Grund eines schwierigen Lebens. Die Bilder vom Festival in Cannes, wo Andresen bei der Pressekonferenz wie ein Maskottchen mitgeschleppt wird und Visconti über ihn spricht, als sei er gar nicht anwesend, sind beklemmend. Der homosexuelle Visconti nimmt den 16-Jährigen in einen Schwulenclub mit, erzählt Andresen viele Jahre später; die Blicke der Männer hätten ihn eingeschüchtert, er habe sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, um sie auszublenden. Wo sind da Eltern? Familie? Betreuer?

 

Björn Andresen heute.     Foto: Mantaray Film

Andresen hat damals nur noch eine Großmutter, die einen „Star als Enkel haben wollte“, wie er heute sagt. Den bekommt sie. In Japan wird der Junge mit den goldenen Locken zu einem Teenie-Idol, nimmt süßliche Schlager auf, sein Antlitz wird in der Hauptfigur eines Comics verewigt. Viele Termine, Stress. Kreischende Fans – um durchzuhalten, gibt man ihm „rote Pillen“, wobei das „man“ etwas diffus bleibt. Insgesamt bleibt der Film da vage, wo man sich mehr Fakten gewünscht hätte. Was genau hat es bedeutet, dass Andresen bei Visconti einen Drei-Jahres-Vertrag unterzeichnet hatte? Der Film erklärt da wenig, lässt aber gerne bedrohlich klingende Musik über die Bilder fließen. Hatte Visconti da mit seinem Kurzzeit-Schützling überhaupt noch etwas zu tun?

„Enorme Naivität“

Man hätte Andresen jedenfalls das gewünscht, was man gerne ein „stabiles Umfeld“ nennt, aber er hatte es nicht, wie der Film erzählt: Wer sein Vater ist, weiß Andresen bis heute nicht, seine Mutter nimmt sich das Leben, als er elf Jahre alt ist, über sie wird fortan in der Familie nicht mehr gesprochen. Als der Trubel um „Tod in Venedig“ abebbt und weitere Filmprojekte nicht zustande kommen, verbringt Andresen ein Jahr in Paris – in einer Wohnung, die ihm ein Produzent bezahlt, ohne dass überhaupt ein Film gedreht wird. Was in der Wohnung geschieht, lässt der Film im Dunkeln, Andresen spricht zumindest von eigener „enormer Naivität“. Man kann nur spekulieren, die Filmemacher fragen nicht nach.

Fünf Jahre lang haben Kristina Lindström und Kristian Petri Andresen immer wieder getroffen, mit ihm in Stockholm, Kopenhagen, Paris, Budapest, Venedig und Tokio gefilmt – dabei auch im Gespräch mit seiner deutlich jüngeren Lebensgefährtin, die manchmal wie eine Betreuerin wirkt, mit seiner Halbschwester und mit seiner Tochter. Da offenbart sich eine Lebensgeschichte, die ganz unabhängig von den „Tod in Venedig“-Nachwirkungen voller Tragik ist – durch den Freitod der Mutter und durch den plötzlichen Kindstod seines Sohnes. Die Diagnose Andresens, der sich als Vater überfordert fühlte, Vaterschaft „beängstigend“ nennt, ist eine andere: „Zu wenig Liebe“. Das sind Szenen und Sätze, die erschüttern können, in all ihrer Ruhe: „Das Verrückte ist“, sagt Andresen, „dass man sich daran gewöhnt. Man erwartet einfach weniger vom Leben.“

Manchmal filmisch aufdringlich

Der Film entscheidet sich gegen eine klassische Doku-Bildgestaltung; bisweilen inszeniert er Andresen wie einen Schauspieler – was er ja auch ist: Während der im Film leider wenig erklärten späteren Lebensjahrzehnte hat er immer wieder Serien und Filme gedreht, zuletzt etwa in der Gruselmär „Midsomar“. In der Doku wandelt er in Zeitlupe durch die jetzt bröckelnden Korridore des Hotels in „Tod in Venedig“ und auch am Lagunenstrand entlang. Das hat filmische Kraft, hat aber auch seine aufdringlichen Momente: Muss man Szenen, in denen er als älterer Mann zum ersten Mal die Polizeiakte über den Freitod der Mutter liest, mit melancholischen Klavierklängen unterlegen, damit man als Zuschauer weiß, wie tragisch das alles ist? Wohl kaum.

Das nimmt diesem Film letztlich nicht viel von seiner berührenden Wirkung. Ausgehend von Viscontis „Tod in Venedig“ erzählt er von Vermarktung einer Person, von Familie, Verlust und einem Leben, zu dem ein Satz Andresens wohl besonders gut passt: „Ich wollte woanders sein – und jemand anderes sein.“

Mutterschaft und Mord: „Saint Omer“ von Alice Diop

Saint Omer

Famose Darstellung: Guslagie Malanda als angeklagte Mutter. Foto: Grandfilm

 

Wie erklärt man das Unerklärbare? Man kann es nicht. „Saint Omer“ gibt auch nicht vor, es zu können, aber er umkreist es, beobachtet es aus vielen Perspektiven. Der Film basiert auf einem wahren Verbrechen: 2013 legt Fabienne Kabou ihre kleine Tochter in Berck-sur-Mer bei steigender Flut am Strand ab und lässt sie allein. Das Kind ertrinkt. Beim Prozess spricht sie von Hexerei durch ihre Verwandten aus dem Senegal. Psychologische Gutachter vermuten Paranoia, attestieren postnatale Depressionen, halten Kabou aber für schuldfähig. Sie wird zu 20 Jahren Haft verurteilt, verbunden mit psychologischer Behandlung.

Autobiografische Rahmenhandlung

Die französische Filmemacherin Alice Diop hat den Prozess 2016 in Saint Omer als Zuschauerin begleitet und auf dessen Basis ihren ersten Spielfilm gedreht. Die Dialoge der Prozess-Szenen stammen aus der realen Verhandlung. Aber Diop hat, zusammen mit den Ko-Autorinnen Amrita David und Marie Ndiaye, eine stark autobiografische Nebenhandlung verfasst. Rama, eine schwarze Literatur-Professorin aus Paris, reist nach Saint Omer, um über den Prozess eine Reportage zu schreiben, weil sie persönliche Parallelen sieht: Sie ist schwanger von ihrem weißen Lebenspartner – auch die ermordete Tochter der schwarzen Angeklagten hat einen weißen Vater. Das Verhältnis Ramas zu ihrer Mutter ist nahezu zerrüttet, so wie es auch zwischen der Angeklagten und ihrer Mutter war.

Ramas Leben und Arbeit, darunter eine Vorlesung über Marguerite Duras‘ Drehbuch zu „Hiroshima mon amour“, werden in knappen, prägnanten Szenen dargelegt, bevor sich die Handlung erstmals in den Gerichtssaal verlagert – zu einer intensiven halbstündigen Sequenz. Die Angeklagte, hier heißt sie Laurence Coly, wird zu ihrem Leben befragt, schildert ihre Jugend im Senegal, die dominante Mutter, die ihr Kind dazu drillt, nichts anderes als Französisch zu sprechen; den Umzug nach Paris, um „den Eltern zu entkommen“ und um eine akademische Karriere zu beginnen; die Beziehung zu einem deutlich älteren Mann, der noch verheiratet ist, Laurence für den Geburtstag der Gattin kochen, sie aber nicht mitessen lässt. Der befragte Mann zeichnet das in seiner Aussage ganz anders, erzählt von Colys Aggression, Wutausbrüchen. Den Tod der Tochter beschreibt die Angeklagte anfangs wie eine Unbeteiligte: Sie hoffe nun durch das Verfahren, das Ganze zu verstehen, sie sei nicht „die wirklich Verantwortliche“.

Filmische Zurückhaltung

Die erschütternden Aussagen zeigt „Saint Omer“ mit Klarheit und Zurückhaltung. Die Kamera ist nahezu statisch, konzentriert sich auf die Gesichter. Hier wird kein Klischee des Gerichtsfilms bemüht, geht es doch nicht um eine Erklärung. Diop stellt, ausgehend von der Täterinnen-Biografie,  Fragen nach Weiblichkeit, kultureller Identität, Alltagsrassismus, Spätfolgen des Kolonialismus und vor allem der Mutterschaft.

In einigen wenigen Momenten droht das Prätentiöse: Die Verweise auf Marguerite Duras, auf den Medea-Mythos, dessen Pasolini-Adaption mit Maria Callas, auf französische Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Kollaborateure kahl geschoren wurden, wirken etwas bemüht. Und doch ist dies ein vielschichtiger, enorm kraftvoller Film, der zur Diskussion danach zwingt.

Die Insel und die Bombe: „Pacifiction“ von Albert Serra

Pacifiction

Benoît Magimel (links) als Vertreter Frankreichs auf der Insel.   Foto: Filmgalerie 451

Welch ein schöner Kontrast. Jüngst zeigte das Kino Achteinhalb Kirill Serebrennikows „Petrovs Flu“, einen atemlosen, rasanten, fiebrigen Film, nach dem man erstmal durchschnaufen musste. Jetzt läuft ein ebenso eigenwilliger Film, der, formal gesehen, das Gegenteil ist: „Pacifiction“, zwei Stunden und 40 Minuten lang, ein Werk mit lange ausgespielten Szenen, mit einer Kamera, die sich zumindest in der ersten Filmhälfte sehr wenig bewegt, mit vielen Dialogen, aber immer wieder auch kontemplativen Blicken in die Landschaft Polynesiens. Das Resultat ist nahezu hypnotisch.​

Smalltalk-Pirouetten​

Zentrum des Films ist ein Mann namens De Roller (Benoît Magimel), der Hochkommissar auf Französisch-Polynesien, Repräsentant des französischen Staates. De Roller ist im Dauereinsatz, auch wenn es nicht immer so wirkt, etwa, wenn er abends auf Tahiti im Club mit dem blumigen (und reichlich einfallslosen) Namen „Paradise Night“ sitzt und an einem Cocktail nuckelt. Jeder will irgendetwas von ihm. Sei es Hilfe bei Investitionen, Ratschläge oder Unterstützung beim Knüpfen von Seilschaften. Er zeigt sich dabei als Meister der Smalltalk-Windungen und –Pirouetten, „bien sur“ scheint sein erster verbaler Reflex auf alles zu sein – die personifizierte Unverbindlichkeit im hellen Leinenanzug. Doch erfordert es die Situation, kann De Roller auch anders: Etwa, wenn der lokale christliche Geistliche gegen ein geplantes Casino opponiert – da macht ihm de Roller höflich, aber bestimmt klar, dass er kraft seines Amtes das Gotteshaus in eine Veranstaltungshalle umwidmen könnte, bestens geeignet für Töpferkurse. Oder Bingo.​

Neue Atombombentests?​

So wieselt sich De Roller durch seine Tage an diesem Ort, der paradiesisch scheint, in dem die Verhältnisse aber klar und ungleich sind – die Macht und die Mächtigen, die Politik und die Wirtschaft kommen von außen. Kein Wunder, dass der Film mit einer langen Kamerafahrt an europäischen Containern am Hafen beginnt und damit auch wieder, nach dem Abspann, endet. Die alten Kolonialherren und die Ur-Bewohner haben sich zwar arrangiert, doch unter der Oberfläche gibt es Spannungen, die von einem Gerücht noch verstärkt werden: Will Frankreich hier seine unterseeischen Atombombenversuche wieder aufnehmen? Jedenfalls zieht ein französisches U-Boot seine Kreise (und rekrutiert nachts lokale Frauen als Prostituierte).​

Die Floskel „mon ami“ hat ausgedient​

Auch De Roller weiß erst einmal nichts. Aber er weiß, dass Bewohner massiven Widerstand planen, Demonstrationen, gerne auch das Streuen von „fake news“. Im Gespräch mit dem Anführer verliert er auch erstmals seine Smalltalk-Contenance und verbittet sich die Floskel „mon ami“, die er selber gerne nutzt, ob nun bei Freund oder Feind. Ungewohnt für ihn ist, dass er langsam den Überblick verliert – sind einige Neuankömmlinge nur übliche Zugereiste oder doch Repräsentanten fremder Mächte? Und falls ja, unterstützen die den lokalen Widerstand aus eigenen geostrategischen Interessen?

Pacifiction

Benoît Magimel (links) als Frankreichs Vertreter De Roller und Pahoa Mahagafanau als Shannah. Foto: Filmgalerie 451

 

Davon erzählt der katalanische Regisseur Albert Serra (47) äußerlich in aller Ruhe – abgesehen von einer spektakulären Szene auf dem Meer – und mit einer enormen Fülle an Dialogen voller Untertöne. Hier ist das Wenigste genau so gemeint, wie es geäußert wird; es wird verbal taktiert, sozusagen um den heißen Brei herumgeredet. Es ist ein Vergnügen, da zuzuhören. Dabei wirken die Szenen mit den doppel- bis dreifachbödigen Dialogen im besten Sinne un-inszeniert – als hätten die Mimen die Kamera längst vergessen. Benoît Magimel ist fabelhaft als rätselhafter Mittelpunkt des Films. Als Zuschauer erlebt man De Roller so oft beim Tricksen, dass man anfangs nie sicher sein kann, wann er das meint, was er sagt. So kommt man ihm nie ganz bei, fühlt sich ihm im Laufe des Films aber doch näher, wenn seine Fassade kleine Risse bekommt, weil er nicht mehr Herr der Lage ist.​

Die Unbehaglichkeit im Paradies​

„Pacifiction“ schafft sich eine Atmosphäre des Vagen, des Verrätselten. Die Musik von Marc Verdaguer und Joe Robinson ist extrem sparsam eingesetzt, unterlegt sphärisch und nur sporadisch ein Gefühl der Unbehaglichkeit und der Bedrohung, die mit den bunten Bildern des scheinbaren Inselparadieses kontrastiert. Wird De Roller aus diesem Paradies vertrieben werden? Zumindest am Ende gibt es einen Moment, an dem man als Zuschauer mehr weiß als er.​

« Ältere Beiträge

© 2023 KINOBLOG

Theme von Anders NorénHoch ↑